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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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stufe der Urne -- dadurch ersetzt, oder, was ich bei ihrer anerkannten geringen
keramischen Leistungsfähigkeit, die der unserer Bororo genau entspricht, und
der Angabe, dass auch sonst alte Urnen benutzt wurden, für wahrscheinlicher
halte, sie setzten ihre Toten in den alten Urnen bei, die so reichlich und zum
Teil schon leer an den heute verachteten alten Wohnstätten anzutreffen sind.
Die ursprüngliche Sitte der Bororo ist dieselbe, wie die der Humboldt'schen
Aturen, von denen der Reisende nur noch die Ueberreste in Gestalt von 600
wohlerhaltenen, in Körben aus Palmblattstielen wie in einem viereckigen Sacke
verpackten, mit Uruku rotgefärbten Skeletten antraf und von deren Sprache
nur noch ein alter Papagei der nahegelegenen Mission einige Worte zu plappern
wusste. Auch die Aturen hatten der Tradition zufolge ihre Leichen zuerst einige
Zeit in die Erde gelegt, das Fleisch verwesen lassen und die Skelette mit scharfen
Steinen rein präparirt und den Körben übergeben. Eine Anzahl der Toten
war auch bereits in Henkelurnen bestattet.

Wir haben am S. Lourenco zwei Totenfesten beigewohnt; das erste war
gerade bei unserer Ankunft im Gang, das zweite, das ich beschreiben möchte,
haben wir von Anfang zu Ende gesehen.

Die erste Beerdigung findet am zweiten oder dritten Tage statt, wenn
die Verwesung jeden Zweifel an dem Tode ausschliesst. Die Leiche wird nahe
am Wasser im Walde begraben und nach etwa 14 Tagen entfleischt und die
Hauptfeier veranstaltet, deren Zweck die Ausschmückung und Verpackung des
Skeletts ist. In der Zwischenzeit unterhält man den Verkehr mit dem Toten
sowohl während des Tages als auch und hauptsächlich während der Nacht durch
Klagegesänge im Ranchao, die in unserm Fall (vgl. Seite 458) auf kleineren
Umfang beschränkt werden konnten, da es sich nur um eine Frau handelte, die
Gattin von "Kokospalme".

Die Hauptfeier fiel auf den Ostersonntag. Am Tage vorher, den Halle-
lujasonnabend, wurden, als Judas beseitigt war, im Ranchao die Vorarbeiten
eifrig betrieben, Schwirrhölzer gehobelt und bemalt, der Schmuck ausgebessert,
dazwischen auch in einer Ecke ziemlich lässig von einem Bari im Federputz des
Pariko ein wenig geklappert und gesungen; der Wittwer Coqueiro zerschnitt
sich in seiner Hütte Arme und Beine, die sich mit Krusten geronnenen Blutes
bedeckten, und am Spätnachmittage vollzog sich die feierliche Vernichtung der
Habe der Verstorbenen, richtiger der Habe ihrer engeren Familie, die in einer
Hütte mit ihr gewohnt hatte -- ein Hergang mit sehr interessanter Pantomine,
der eine genauere Schilderung verdient.

Mehrere Bororo erschienen hinter dem Männerhaus in voller Gala, Haar und
Körper mit Uruku bestrichen, die Stirn von dem schwarzen Lackstreifen ein-
gerahmt, den Feststulp mit der bemalten Fahne angethan, die Arme und das
Haar mit grünen Papageienfedern beklebt und auf dem Kopf zwei Parikos und
Baragaras, die Federräder und die federverzierten Lippenbohrer. Während zwei
sich auf eine Matte setzten und klapperten, nahm Coqueiro selbst frischgrüne

stufe der Urne — dadurch ersetzt, oder, was ich bei ihrer anerkannten geringen
keramischen Leistungsfähigkeit, die der unserer Bororó genau entspricht, und
der Angabe, dass auch sonst alte Urnen benutzt wurden, für wahrscheinlicher
halte, sie setzten ihre Toten in den alten Urnen bei, die so reichlich und zum
Teil schon leer an den heute verachteten alten Wohnstätten anzutreffen sind.
Die ursprüngliche Sitte der Bororó ist dieselbe, wie die der Humboldt’schen
Aturen, von denen der Reisende nur noch die Ueberreste in Gestalt von 600
wohlerhaltenen, in Körben aus Palmblattstielen wie in einem viereckigen Sacke
verpackten, mit Urukú rotgefärbten Skeletten antraf und von deren Sprache
nur noch ein alter Papagei der nahegelegenen Mission einige Worte zu plappern
wusste. Auch die Aturen hatten der Tradition zufolge ihre Leichen zuerst einige
Zeit in die Erde gelegt, das Fleisch verwesen lassen und die Skelette mit scharfen
Steinen rein präparirt und den Körben übergeben. Eine Anzahl der Toten
war auch bereits in Henkelurnen bestattet.

Wir haben am S. Lourenço zwei Totenfesten beigewohnt; das erste war
gerade bei unserer Ankunft im Gang, das zweite, das ich beschreiben möchte,
haben wir von Anfang zu Ende gesehen.

Die erste Beerdigung findet am zweiten oder dritten Tage statt, wenn
die Verwesung jeden Zweifel an dem Tode ausschliesst. Die Leiche wird nahe
am Wasser im Walde begraben und nach etwa 14 Tagen entfleischt und die
Hauptfeier veranstaltet, deren Zweck die Ausschmückung und Verpackung des
Skeletts ist. In der Zwischenzeit unterhält man den Verkehr mit dem Toten
sowohl während des Tages als auch und hauptsächlich während der Nacht durch
Klagegesänge im Ranchão, die in unserm Fall (vgl. Seite 458) auf kleineren
Umfang beschränkt werden konnten, da es sich nur um eine Frau handelte, die
Gattin von »Kokospalme«.

Die Hauptfeier fiel auf den Ostersonntag. Am Tage vorher, den Halle-
lujasonnabend, wurden, als Judas beseitigt war, im Ranchão die Vorarbeiten
eifrig betrieben, Schwirrhölzer gehobelt und bemalt, der Schmuck ausgebessert,
dazwischen auch in einer Ecke ziemlich lässig von einem Bari im Federputz des
Paríko ein wenig geklappert und gesungen; der Wittwer Coqueiro zerschnitt
sich in seiner Hütte Arme und Beine, die sich mit Krusten geronnenen Blutes
bedeckten, und am Spätnachmittage vollzog sich die feierliche Vernichtung der
Habe der Verstorbenen, richtiger der Habe ihrer engeren Familie, die in einer
Hütte mit ihr gewohnt hatte — ein Hergang mit sehr interessanter Pantomine,
der eine genauere Schilderung verdient.

Mehrere Bororó erschienen hinter dem Männerhaus in voller Gala, Haar und
Körper mit Urukú bestrichen, die Stirn von dem schwarzen Lackstreifen ein-
gerahmt, den Feststulp mit der bemalten Fahne angethan, die Arme und das
Haar mit grünen Papageienfedern beklebt und auf dem Kopf zwei Paríkos und
Baragaras, die Federräder und die federverzierten Lippenbohrer. Während zwei
sich auf eine Matte setzten und klapperten, nahm Coqueiro selbst frischgrüne

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[505/0579] stufe der Urne — dadurch ersetzt, oder, was ich bei ihrer anerkannten geringen keramischen Leistungsfähigkeit, die der unserer Bororó genau entspricht, und der Angabe, dass auch sonst alte Urnen benutzt wurden, für wahrscheinlicher halte, sie setzten ihre Toten in den alten Urnen bei, die so reichlich und zum Teil schon leer an den heute verachteten alten Wohnstätten anzutreffen sind. Die ursprüngliche Sitte der Bororó ist dieselbe, wie die der Humboldt’schen Aturen, von denen der Reisende nur noch die Ueberreste in Gestalt von 600 wohlerhaltenen, in Körben aus Palmblattstielen wie in einem viereckigen Sacke verpackten, mit Urukú rotgefärbten Skeletten antraf und von deren Sprache nur noch ein alter Papagei der nahegelegenen Mission einige Worte zu plappern wusste. Auch die Aturen hatten der Tradition zufolge ihre Leichen zuerst einige Zeit in die Erde gelegt, das Fleisch verwesen lassen und die Skelette mit scharfen Steinen rein präparirt und den Körben übergeben. Eine Anzahl der Toten war auch bereits in Henkelurnen bestattet. Wir haben am S. Lourenço zwei Totenfesten beigewohnt; das erste war gerade bei unserer Ankunft im Gang, das zweite, das ich beschreiben möchte, haben wir von Anfang zu Ende gesehen. Die erste Beerdigung findet am zweiten oder dritten Tage statt, wenn die Verwesung jeden Zweifel an dem Tode ausschliesst. Die Leiche wird nahe am Wasser im Walde begraben und nach etwa 14 Tagen entfleischt und die Hauptfeier veranstaltet, deren Zweck die Ausschmückung und Verpackung des Skeletts ist. In der Zwischenzeit unterhält man den Verkehr mit dem Toten sowohl während des Tages als auch und hauptsächlich während der Nacht durch Klagegesänge im Ranchão, die in unserm Fall (vgl. Seite 458) auf kleineren Umfang beschränkt werden konnten, da es sich nur um eine Frau handelte, die Gattin von »Kokospalme«. Die Hauptfeier fiel auf den Ostersonntag. Am Tage vorher, den Halle- lujasonnabend, wurden, als Judas beseitigt war, im Ranchão die Vorarbeiten eifrig betrieben, Schwirrhölzer gehobelt und bemalt, der Schmuck ausgebessert, dazwischen auch in einer Ecke ziemlich lässig von einem Bari im Federputz des Paríko ein wenig geklappert und gesungen; der Wittwer Coqueiro zerschnitt sich in seiner Hütte Arme und Beine, die sich mit Krusten geronnenen Blutes bedeckten, und am Spätnachmittage vollzog sich die feierliche Vernichtung der Habe der Verstorbenen, richtiger der Habe ihrer engeren Familie, die in einer Hütte mit ihr gewohnt hatte — ein Hergang mit sehr interessanter Pantomine, der eine genauere Schilderung verdient. Mehrere Bororó erschienen hinter dem Männerhaus in voller Gala, Haar und Körper mit Urukú bestrichen, die Stirn von dem schwarzen Lackstreifen ein- gerahmt, den Feststulp mit der bemalten Fahne angethan, die Arme und das Haar mit grünen Papageienfedern beklebt und auf dem Kopf zwei Paríkos und Baragaras, die Federräder und die federverzierten Lippenbohrer. Während zwei sich auf eine Matte setzten und klapperten, nahm Coqueiro selbst frischgrüne

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 505. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/579>, abgerufen am 21.05.2024.