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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Nun die Sitten des Männerhauses. Die Brasilier behaupteten, es sei vor-
gekommen, dass 30 bis 40 Männer hintereinander dasselbe Weib, das an Armen
und Beinen festgehalten wurde, genötigt hätten. Teilweise werden die Mädchen
am Tage offenkundig geholt und, wie beschrieben, unter vielen Schäkereien be-
malt und geschmückt, teilweise wurden sie am späten Abend eingefangen. So
sahen wir in einer Nacht, wie die vor dem Ranchao liegenden Junggesellen
einen Angriff auf die von einer Klageversammlung heimkehrende Frauenschaar
machten, zwei wurden unter lautlosem Ringen gefangen genommen, mit Decken
umwickelt, sodass sie nicht zu erkennen waren, und in das Männerhaus ge-
schleppt. Doch war die eine der beiden, wie wir am folgenden Morgen sahen,
die an Erfahrungen reiche Maria, deren Sträuben nicht sehr ernst gemeint ge-
wesen sein konnte. "Gestern hast Du Dich nicht verheiraten wollen?" fragte
ich. "Jetzt habe ich mich schon verheiratet", antwortete sie gemütlich. Sie lag
neben ihrem bevorzugten Mann in aller Behaglichkeit unter der roten Decke
und beide knackten Palmnüsse. Moguyokuri sahen wir eines Tages die jungen
Leute aneifern, die im Ringkampf so wilde und nun so demütige Maria zu
schmücken. Sofort stürzten sich sechs auf sie zu und bemalten sie.

Den Ranchaofrauen wurden von ihren Liebhabern Pfeile mit langen
Bambusspitzen gegeben. Jeder überreichte zwei, die das Mädchen hockend mit
gleichgiltiger Miene in Empfang nahm. Ich zählte, als ich einmal anwesend
war, 18 Stück solcher Liebespfeile für ein Mädchen. Sie werden abgeliefert an
den Bruder oder an den Bruder der Mutter. Die Ranchaomädchen verheiraten
sich nicht mehr an einen Einzelnen; für etwaige Kinder gelten sämtliche Männer
des Ranchao, mit denen sie verkehrt hat, als Väter. Das sind also ganz ge-
regelte Verhältnisse, die aus der Uebermacht der Aelteren hervorgehen; diese
leben im Besitz und beziehen aus den Mädchen, die dem Männerhaus überlassen
werden und wegen deren sich diese einigen mögen, noch eine regelrechte Ein-
nahme an Pfeilen oder auch Schmucksachen, wie z. B. die Hosenträgerschnüre
ebenfalls als Bezahlung gelten. Widernatürlicher Verkehr soll im Männerhaus
nicht unbekannt sein, jedoch nur vorkommen, wenn der Mangel an Ranchao-
mädchen ungewöhnlich gross sei.

Wie geordnet die Eigentumsverhältnisse sind, haben wir schon an dem
Umstand gesehen, dass die Jagdbeute nicht in den Händen dessen bleibt, der
sie erworben hat. Ein grosser Verlust betrifft die Familie, aus der ein Mitglied
stirbt. Denn Alles, was der Tote in Gebrauch hatte, wird verbrannt, in den
Fluss geworfen oder in den Knochenkorb gepackt, damit er keinesfalls veranlasst
sei, zurückzukehren. Die Hütte ist dann vollständig ausgeräumt. Allein die
Hinterbliebenen werden neu beschenkt, man macht Bogen und Pfeile für sie und
so will es auch die Sitte, dass, wenn ein Jaguar getötet wird, das Fell "an den
Bruder der zuletzt gestorbenen Frau oder an den Oheim des zuletzt gestorbenen
Mannes" gegeben wird; als der berufene Schützer der Frau trat uns immer ihr
Bruder entgegen. Pfeile sind das wichtigste Wertobjekt; sie erhält der Bruder

Nun die Sitten des Männerhauses. Die Brasilier behaupteten, es sei vor-
gekommen, dass 30 bis 40 Männer hintereinander dasselbe Weib, das an Armen
und Beinen festgehalten wurde, genötigt hätten. Teilweise werden die Mädchen
am Tage offenkundig geholt und, wie beschrieben, unter vielen Schäkereien be-
malt und geschmückt, teilweise wurden sie am späten Abend eingefangen. So
sahen wir in einer Nacht, wie die vor dem Ranchão liegenden Junggesellen
einen Angriff auf die von einer Klageversammlung heimkehrende Frauenschaar
machten, zwei wurden unter lautlosem Ringen gefangen genommen, mit Decken
umwickelt, sodass sie nicht zu erkennen waren, und in das Männerhaus ge-
schleppt. Doch war die eine der beiden, wie wir am folgenden Morgen sahen,
die an Erfahrungen reiche Maria, deren Sträuben nicht sehr ernst gemeint ge-
wesen sein konnte. »Gestern hast Du Dich nicht verheiraten wollen?« fragte
ich. »Jetzt habe ich mich schon verheiratet«, antwortete sie gemütlich. Sie lag
neben ihrem bevorzugten Mann in aller Behaglichkeit unter der roten Decke
und beide knackten Palmnüsse. Moguyokuri sahen wir eines Tages die jungen
Leute aneifern, die im Ringkampf so wilde und nun so demütige Maria zu
schmücken. Sofort stürzten sich sechs auf sie zu und bemalten sie.

Den Ranchãofrauen wurden von ihren Liebhabern Pfeile mit langen
Bambusspitzen gegeben. Jeder überreichte zwei, die das Mädchen hockend mit
gleichgiltiger Miene in Empfang nahm. Ich zählte, als ich einmal anwesend
war, 18 Stück solcher Liebespfeile für ein Mädchen. Sie werden abgeliefert an
den Bruder oder an den Bruder der Mutter. Die Ranchãomädchen verheiraten
sich nicht mehr an einen Einzelnen; für etwaige Kinder gelten sämtliche Männer
des Ranchão, mit denen sie verkehrt hat, als Väter. Das sind also ganz ge-
regelte Verhältnisse, die aus der Uebermacht der Aelteren hervorgehen; diese
leben im Besitz und beziehen aus den Mädchen, die dem Männerhaus überlassen
werden und wegen deren sich diese einigen mögen, noch eine regelrechte Ein-
nahme an Pfeilen oder auch Schmucksachen, wie z. B. die Hosenträgerschnüre
ebenfalls als Bezahlung gelten. Widernatürlicher Verkehr soll im Männerhaus
nicht unbekannt sein, jedoch nur vorkommen, wenn der Mangel an Rànchão-
mädchen ungewöhnlich gross sei.

Wie geordnet die Eigentumsverhältnisse sind, haben wir schon an dem
Umstand gesehen, dass die Jagdbeute nicht in den Händen dessen bleibt, der
sie erworben hat. Ein grosser Verlust betrifft die Familie, aus der ein Mitglied
stirbt. Denn Alles, was der Tote in Gebrauch hatte, wird verbrannt, in den
Fluss geworfen oder in den Knochenkorb gepackt, damit er keinesfalls veranlasst
sei, zurückzukehren. Die Hütte ist dann vollständig ausgeräumt. Allein die
Hinterbliebenen werden neu beschenkt, man macht Bogen und Pfeile für sie und
so will es auch die Sitte, dass, wenn ein Jaguar getötet wird, das Fell »an den
Bruder der zuletzt gestorbenen Frau oder an den Oheim des zuletzt gestorbenen
Mannes« gegeben wird; als der berufene Schützer der Frau trat uns immer ihr
Bruder entgegen. Pfeile sind das wichtigste Wertobjekt; sie erhält der Bruder

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[502/0574] Nun die Sitten des Männerhauses. Die Brasilier behaupteten, es sei vor- gekommen, dass 30 bis 40 Männer hintereinander dasselbe Weib, das an Armen und Beinen festgehalten wurde, genötigt hätten. Teilweise werden die Mädchen am Tage offenkundig geholt und, wie beschrieben, unter vielen Schäkereien be- malt und geschmückt, teilweise wurden sie am späten Abend eingefangen. So sahen wir in einer Nacht, wie die vor dem Ranchão liegenden Junggesellen einen Angriff auf die von einer Klageversammlung heimkehrende Frauenschaar machten, zwei wurden unter lautlosem Ringen gefangen genommen, mit Decken umwickelt, sodass sie nicht zu erkennen waren, und in das Männerhaus ge- schleppt. Doch war die eine der beiden, wie wir am folgenden Morgen sahen, die an Erfahrungen reiche Maria, deren Sträuben nicht sehr ernst gemeint ge- wesen sein konnte. »Gestern hast Du Dich nicht verheiraten wollen?« fragte ich. »Jetzt habe ich mich schon verheiratet«, antwortete sie gemütlich. Sie lag neben ihrem bevorzugten Mann in aller Behaglichkeit unter der roten Decke und beide knackten Palmnüsse. Moguyokuri sahen wir eines Tages die jungen Leute aneifern, die im Ringkampf so wilde und nun so demütige Maria zu schmücken. Sofort stürzten sich sechs auf sie zu und bemalten sie. Den Ranchãofrauen wurden von ihren Liebhabern Pfeile mit langen Bambusspitzen gegeben. Jeder überreichte zwei, die das Mädchen hockend mit gleichgiltiger Miene in Empfang nahm. Ich zählte, als ich einmal anwesend war, 18 Stück solcher Liebespfeile für ein Mädchen. Sie werden abgeliefert an den Bruder oder an den Bruder der Mutter. Die Ranchãomädchen verheiraten sich nicht mehr an einen Einzelnen; für etwaige Kinder gelten sämtliche Männer des Ranchão, mit denen sie verkehrt hat, als Väter. Das sind also ganz ge- regelte Verhältnisse, die aus der Uebermacht der Aelteren hervorgehen; diese leben im Besitz und beziehen aus den Mädchen, die dem Männerhaus überlassen werden und wegen deren sich diese einigen mögen, noch eine regelrechte Ein- nahme an Pfeilen oder auch Schmucksachen, wie z. B. die Hosenträgerschnüre ebenfalls als Bezahlung gelten. Widernatürlicher Verkehr soll im Männerhaus nicht unbekannt sein, jedoch nur vorkommen, wenn der Mangel an Rànchão- mädchen ungewöhnlich gross sei. Wie geordnet die Eigentumsverhältnisse sind, haben wir schon an dem Umstand gesehen, dass die Jagdbeute nicht in den Händen dessen bleibt, der sie erworben hat. Ein grosser Verlust betrifft die Familie, aus der ein Mitglied stirbt. Denn Alles, was der Tote in Gebrauch hatte, wird verbrannt, in den Fluss geworfen oder in den Knochenkorb gepackt, damit er keinesfalls veranlasst sei, zurückzukehren. Die Hütte ist dann vollständig ausgeräumt. Allein die Hinterbliebenen werden neu beschenkt, man macht Bogen und Pfeile für sie und so will es auch die Sitte, dass, wenn ein Jaguar getötet wird, das Fell »an den Bruder der zuletzt gestorbenen Frau oder an den Oheim des zuletzt gestorbenen Mannes« gegeben wird; als der berufene Schützer der Frau trat uns immer ihr Bruder entgegen. Pfeile sind das wichtigste Wertobjekt; sie erhält der Bruder

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 502. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/574>, abgerufen am 22.11.2024.