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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Clemente versicherte, dass die Indianer in der Kolonie auf keine Weise
anders lebten als in ihren Dörfen, dass hier im Gegenteil die gemeinsame Jagd,
weil sie sich allen Unterhalt selbst zu beschaffen hatten, noch weit mehr im
Vordergrund stehe. Danach ist also das Leben am Kulisehu wesentlich ver-
schieden von dem im Bororodorf. Dort wohnte man in stattlichen Familienhäusern
zusammen, hier besass jedes mit Kindern gesegnete Ehepaar seine kleine elende
Hütte, dort bildeten die Junggesellen die Ausnahme, hier die Mehrheit, dort
hatten die in Monogamie lebenden Männer ihr Flötenhaus, das keine Frau be-
trat, das zu gemeinsamen Beratungen und Tänzen diente, wo man aber nur
arbeitete, soweit es Festschmuck zu verfertigen galt, hier wurden die Mädchen
gewaltsam in das Männerhaus geschleppt, gerieten stets in den gemeinsamen
Besitz von mehreren Genossen und die regelmässige Arbeit an Waffe und Gerät
wurde in dem Männerhaus erledigt. Bei den Bororo war das Familienleben
auf das Deutlichste nur eine Errungenschaft der Aelteren und Stärkeren. Der
Lebensunterhalt konnte nur erworben werden durch die geschlossene Gemeinsam-
keit der Mehrheit der Männer, die vielfach lange Zeit miteinander auf Jagd ab-
wesend sein musste, was für den Einzelnen undurchführbar gewesen wäre. Dieser
Lebensunterhalt war knapp, und die Jüngeren mussten zufrieden sein, wenn sie
selbst satt wurden, sie konnten nicht so viel bekommen, um auch Weib und
Kind zu versorgen. Mit dem friedlichen Feldbau, den die Frau der Kulisehu-
stämme entwickelt oder erlernt hat, sind die Verhältnisse vollständig verändert
worden, die Gemeinschaftlichkeit der Männer, der aroe, trat in den Hintergrund
und konnte auf die für den Fischfang und Festtänze beschränkt werden. Der Zu-
gang der Nahrungsmittel war jetzt so reichlich und regelmässig, dass ein Jeder
genug erhielt für die Bedürfnisse wenigstens einer kleinen Familie -- er sorgte
dafür, dass die Familie klein blieb -- und jetzt, wo die Thätigkeit der Frau die
wichtigere Leistung wurde, war es umgekehrt vorteilhaft, wenn sich die Frauen
in gemeinschaftlicher Arbeit zusammenfanden: man lebte familienweise in einem
grossen Hause.

Jagd und Feldbau. "In der Regenzeit sind sie Tage und Tage ohne
irgendwelches Essen
", dias e dias sem nada para comer, berichtete Clemente.
Sie tränken dann viel mit Lehm angerührtes Wasser zur Stärkung, ässen aber keinen
Lehm. Sie pflanzten nur Tabak, Baumwolle und Kuyen und zwar thäten dies
auch nur die im Quellgebiet des S. Lourenco an kleinen Flüsschen wohnenden
oberen Bororo, die geschicktere Fischer seien. Von ihnen tauschten die unteren
Dörfer jene pflanzlichen Erzeugnisse gegen Pfeile ein. Hier sehen wir also das
Anpflanzen nicht mit den Nahrung liefernden Gewächsen beginnen! Unsere
nun in Thereza Christina angesiedelten Bororo hätten überhaupt Nichts pflanzen
gelernt. Kalabassen und lange zur Aufbewahrung der Federn geeignete Kuyen
waren in der That nicht vorhanden, kleinere Kuyen selten und hauptsächlich
als Rasselkürbisse für den Aroegesang oder als kleine Blaskürbisse verwendet.
Die Männer auf Jagd bedurften keiner Gefässe, oder wussten sich mit Frucht-

v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 31

Clemente versicherte, dass die Indianer in der Kolonie auf keine Weise
anders lebten als in ihren Dörfen, dass hier im Gegenteil die gemeinsame Jagd,
weil sie sich allen Unterhalt selbst zu beschaffen hatten, noch weit mehr im
Vordergrund stehe. Danach ist also das Leben am Kulisehu wesentlich ver-
schieden von dem im Bororódorf. Dort wohnte man in stattlichen Familienhäusern
zusammen, hier besass jedes mit Kindern gesegnete Ehepaar seine kleine elende
Hütte, dort bildeten die Junggesellen die Ausnahme, hier die Mehrheit, dort
hatten die in Monogamie lebenden Männer ihr Flötenhaus, das keine Frau be-
trat, das zu gemeinsamen Beratungen und Tänzen diente, wo man aber nur
arbeitete, soweit es Festschmuck zu verfertigen galt, hier wurden die Mädchen
gewaltsam in das Männerhaus geschleppt, gerieten stets in den gemeinsamen
Besitz von mehreren Genossen und die regelmässige Arbeit an Waffe und Gerät
wurde in dem Männerhaus erledigt. Bei den Bororó war das Familienleben
auf das Deutlichste nur eine Errungenschaft der Aelteren und Stärkeren. Der
Lebensunterhalt konnte nur erworben werden durch die geschlossene Gemeinsam-
keit der Mehrheit der Männer, die vielfach lange Zeit miteinander auf Jagd ab-
wesend sein musste, was für den Einzelnen undurchführbar gewesen wäre. Dieser
Lebensunterhalt war knapp, und die Jüngeren mussten zufrieden sein, wenn sie
selbst satt wurden, sie konnten nicht so viel bekommen, um auch Weib und
Kind zu versorgen. Mit dem friedlichen Feldbau, den die Frau der Kulisehu-
stämme entwickelt oder erlernt hat, sind die Verhältnisse vollständig verändert
worden, die Gemeinschaftlichkeit der Männer, der aróe, trat in den Hintergrund
und konnte auf die für den Fischfang und Festtänze beschränkt werden. Der Zu-
gang der Nahrungsmittel war jetzt so reichlich und regelmässig, dass ein Jeder
genug erhielt für die Bedürfnisse wenigstens einer kleinen Familie — er sorgte
dafür, dass die Familie klein blieb — und jetzt, wo die Thätigkeit der Frau die
wichtigere Leistung wurde, war es umgekehrt vorteilhaft, wenn sich die Frauen
in gemeinschaftlicher Arbeit zusammenfanden: man lebte familienweise in einem
grossen Hause.

Jagd und Feldbau. »In der Regenzeit sind sie Tage und Tage ohne
irgendwelches Essen
«, dias e dias sem nada para comer, berichtete Clemente.
Sie tränken dann viel mit Lehm angerührtes Wasser zur Stärkung, ässen aber keinen
Lehm. Sie pflanzten nur Tabak, Baumwolle und Kuyen und zwar thäten dies
auch nur die im Quellgebiet des S. Lourenço an kleinen Flüsschen wohnenden
oberen Bororó, die geschicktere Fischer seien. Von ihnen tauschten die unteren
Dörfer jene pflanzlichen Erzeugnisse gegen Pfeile ein. Hier sehen wir also das
Anpflanzen nicht mit den Nahrung liefernden Gewächsen beginnen! Unsere
nun in Thereza Christina angesiedelten Bororó hätten überhaupt Nichts pflanzen
gelernt. Kalabassen und lange zur Aufbewahrung der Federn geeignete Kuyen
waren in der That nicht vorhanden, kleinere Kuyen selten und hauptsächlich
als Rasselkürbisse für den Aróegesang oder als kleine Blaskürbisse verwendet.
Die Männer auf Jagd bedurften keiner Gefässe, oder wussten sich mit Frucht-

v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 31
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[481/0553] Clemente versicherte, dass die Indianer in der Kolonie auf keine Weise anders lebten als in ihren Dörfen, dass hier im Gegenteil die gemeinsame Jagd, weil sie sich allen Unterhalt selbst zu beschaffen hatten, noch weit mehr im Vordergrund stehe. Danach ist also das Leben am Kulisehu wesentlich ver- schieden von dem im Bororódorf. Dort wohnte man in stattlichen Familienhäusern zusammen, hier besass jedes mit Kindern gesegnete Ehepaar seine kleine elende Hütte, dort bildeten die Junggesellen die Ausnahme, hier die Mehrheit, dort hatten die in Monogamie lebenden Männer ihr Flötenhaus, das keine Frau be- trat, das zu gemeinsamen Beratungen und Tänzen diente, wo man aber nur arbeitete, soweit es Festschmuck zu verfertigen galt, hier wurden die Mädchen gewaltsam in das Männerhaus geschleppt, gerieten stets in den gemeinsamen Besitz von mehreren Genossen und die regelmässige Arbeit an Waffe und Gerät wurde in dem Männerhaus erledigt. Bei den Bororó war das Familienleben auf das Deutlichste nur eine Errungenschaft der Aelteren und Stärkeren. Der Lebensunterhalt konnte nur erworben werden durch die geschlossene Gemeinsam- keit der Mehrheit der Männer, die vielfach lange Zeit miteinander auf Jagd ab- wesend sein musste, was für den Einzelnen undurchführbar gewesen wäre. Dieser Lebensunterhalt war knapp, und die Jüngeren mussten zufrieden sein, wenn sie selbst satt wurden, sie konnten nicht so viel bekommen, um auch Weib und Kind zu versorgen. Mit dem friedlichen Feldbau, den die Frau der Kulisehu- stämme entwickelt oder erlernt hat, sind die Verhältnisse vollständig verändert worden, die Gemeinschaftlichkeit der Männer, der aróe, trat in den Hintergrund und konnte auf die für den Fischfang und Festtänze beschränkt werden. Der Zu- gang der Nahrungsmittel war jetzt so reichlich und regelmässig, dass ein Jeder genug erhielt für die Bedürfnisse wenigstens einer kleinen Familie — er sorgte dafür, dass die Familie klein blieb — und jetzt, wo die Thätigkeit der Frau die wichtigere Leistung wurde, war es umgekehrt vorteilhaft, wenn sich die Frauen in gemeinschaftlicher Arbeit zusammenfanden: man lebte familienweise in einem grossen Hause. Jagd und Feldbau. »In der Regenzeit sind sie Tage und Tage ohne irgendwelches Essen«, dias e dias sem nada para comer, berichtete Clemente. Sie tränken dann viel mit Lehm angerührtes Wasser zur Stärkung, ässen aber keinen Lehm. Sie pflanzten nur Tabak, Baumwolle und Kuyen und zwar thäten dies auch nur die im Quellgebiet des S. Lourenço an kleinen Flüsschen wohnenden oberen Bororó, die geschicktere Fischer seien. Von ihnen tauschten die unteren Dörfer jene pflanzlichen Erzeugnisse gegen Pfeile ein. Hier sehen wir also das Anpflanzen nicht mit den Nahrung liefernden Gewächsen beginnen! Unsere nun in Thereza Christina angesiedelten Bororó hätten überhaupt Nichts pflanzen gelernt. Kalabassen und lange zur Aufbewahrung der Federn geeignete Kuyen waren in der That nicht vorhanden, kleinere Kuyen selten und hauptsächlich als Rasselkürbisse für den Aróegesang oder als kleine Blaskürbisse verwendet. Die Männer auf Jagd bedurften keiner Gefässe, oder wussten sich mit Frucht- v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 31

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 481. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/553>, abgerufen am 22.05.2024.