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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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durch ein paar ehrgeizige Racker, die durchaus den andern vorauskommen wollten,
demoralisirt: sie liefen im dichtern Kamp mit ihren Lasten gegen die Bäume
an, dass die dürren Aeste krachten und die Gepäckstücke herabkollerten, und
schlugen sich dann munter seitwärts in die Büsche; die Leute mussten ihre Leder-
säcke abwerfen, um die Flüchtlinge zurückzuholen, die überall verstreuten Sachen
und Riemen zu sammeln und alles wieder aufzuladen, wozu aber jedesmal min-
destens zwei Personen nötig waren, da die beiden schweren Bruacas rechts und
links a tempo eingehängt wurden. Noch heute gedenke ich mit einem Gefühl
der Unlust eines Tages, wo die Verwirrung sehr gross war und ich mich allein
übrig sah, um sechs Maultiere eine endlos lange halbe Stunde durch den wüsten
struppigen Busch vor mir her zu treiben. Im besseren Terrain verursachte
wiederum ihr Gelüste, frisches Gras zu fressen oder an den Blättern der Akuri-
Palmen zu rupfen, steten Aufenthalt. Allmählich indessen lernten die Esel, wie
sie durchweg genannt wurden, bessere Ordnung halten und in der weglosen
Wildnis jenseit des Paranatinga hatten wir eine zwar mehr und mehr abmagernde
und mit Druckwunden behaftete, aber doch wohldisziplinierte Tropa.

Hier bildeten Antonio, Wilhelm und ich die Avantgarde. Wir brachen
eine halbe Stunde früher auf, suchten oder machten vielmehr den Weg, indem
wir das Gestrüpp wegsäbelten und unausgesetzt alle drei markirten, d. h. rechts
und links mit unsern Buschmessern Zweige kappten oder von dem Stamm ein
Stück Rinde wegschlugen, sodass der nachfolgende Zug stetig vorwärts rücken
und die Wegrichtung an den zersplitterten Aesten und an den weissen oder roten
Schälwunden der Bäume erkennen konnte. Waren wir an ein unüberwindliches
Hindernis geraten, und hatten wir deshalb ein Stück zurückzugehen und einen
neuen Weg zu suchen, so wurde der unbrauchbar gewordene durch auffällig quer-
gelegtes Strauchwerk versperrt, und der neue durch mächtige Schälstreifen
geradezu reklamenhaft den Blicken empfohlen. Nicht immer wurden unsere
Zeichen richtig gefunden oder die gute Madrinha hatte unbeachtet die Sperrung
überschritten; dann räsonnirte die ganze Gesellschaft über unser schlechtes
Markiren und wir drei Holzknechte waren nachher sehr betrübt, weil wir im
Schweiss unseres Angesichts das Beste gethan zu haben meinten. Uns zum
Lobe muss ich erwähnen, dass wir jenseit des Paranatinga unsere alten Marken
von 1884 noch wiederfinden und ausgiebig benutzen, ja mehrfach noch deutlich
die verschiedenen "Handschriften" unterscheiden konnten.

Zuweilen hatten es wohl beide Teile an Aufmerksamkeit fehlen lassen.
Zumal im guten Terrain. Denn es ist ja kaum zu glauben, in welchem Masse die
gleichmässig Dahinmarschierenden von stillem Stumpfsinn erfasst werden können.
Die ganze Natur schläft in Hitze und Dürre. Der viele Staub, den man schlucken
muss, trocknet Lippe und Zunge aus, die Schnurrbarthaare sind durch zähen Teig
verklebt und die Zähne haben einen Ueberzug davon, dass man wie auf Gummi-
pastillen kaut, der Gaumen verschmachtet. Man duselt und die Andern duseln
auch und die Tiere duseln; das fluchende "anda, diavo" wird seltener und

durch ein paar ehrgeizige Racker, die durchaus den andern vorauskommen wollten,
demoralisirt: sie liefen im dichtern Kamp mit ihren Lasten gegen die Bäume
an, dass die dürren Aeste krachten und die Gepäckstücke herabkollerten, und
schlugen sich dann munter seitwärts in die Büsche; die Leute mussten ihre Leder-
säcke abwerfen, um die Flüchtlinge zurückzuholen, die überall verstreuten Sachen
und Riemen zu sammeln und alles wieder aufzuladen, wozu aber jedesmal min-
destens zwei Personen nötig waren, da die beiden schweren Bruacas rechts und
links a tempo eingehängt wurden. Noch heute gedenke ich mit einem Gefühl
der Unlust eines Tages, wo die Verwirrung sehr gross war und ich mich allein
übrig sah, um sechs Maultiere eine endlos lange halbe Stunde durch den wüsten
struppigen Busch vor mir her zu treiben. Im besseren Terrain verursachte
wiederum ihr Gelüste, frisches Gras zu fressen oder an den Blättern der Akurí-
Palmen zu rupfen, steten Aufenthalt. Allmählich indessen lernten die Esel, wie
sie durchweg genannt wurden, bessere Ordnung halten und in der weglosen
Wildnis jenseit des Paranatinga hatten wir eine zwar mehr und mehr abmagernde
und mit Druckwunden behaftete, aber doch wohldisziplinierte Tropa.

Hier bildeten Antonio, Wilhelm und ich die Avantgarde. Wir brachen
eine halbe Stunde früher auf, suchten oder machten vielmehr den Weg, indem
wir das Gestrüpp wegsäbelten und unausgesetzt alle drei markirten, d. h. rechts
und links mit unsern Buschmessern Zweige kappten oder von dem Stamm ein
Stück Rinde wegschlugen, sodass der nachfolgende Zug stetig vorwärts rücken
und die Wegrichtung an den zersplitterten Aesten und an den weissen oder roten
Schälwunden der Bäume erkennen konnte. Waren wir an ein unüberwindliches
Hindernis geraten, und hatten wir deshalb ein Stück zurückzugehen und einen
neuen Weg zu suchen, so wurde der unbrauchbar gewordene durch auffällig quer-
gelegtes Strauchwerk versperrt, und der neue durch mächtige Schälstreifen
geradezu reklamenhaft den Blicken empfohlen. Nicht immer wurden unsere
Zeichen richtig gefunden oder die gute Madrinha hatte unbeachtet die Sperrung
überschritten; dann räsonnirte die ganze Gesellschaft über unser schlechtes
Markiren und wir drei Holzknechte waren nachher sehr betrübt, weil wir im
Schweiss unseres Angesichts das Beste gethan zu haben meinten. Uns zum
Lobe muss ich erwähnen, dass wir jenseit des Paranatinga unsere alten Marken
von 1884 noch wiederfinden und ausgiebig benutzen, ja mehrfach noch deutlich
die verschiedenen »Handschriften« unterscheiden konnten.

Zuweilen hatten es wohl beide Teile an Aufmerksamkeit fehlen lassen.
Zumal im guten Terrain. Denn es ist ja kaum zu glauben, in welchem Masse die
gleichmässig Dahinmarschierenden von stillem Stumpfsinn erfasst werden können.
Die ganze Natur schläft in Hitze und Dürre. Der viele Staub, den man schlucken
muss, trocknet Lippe und Zunge aus, die Schnurrbarthaare sind durch zähen Teig
verklebt und die Zähne haben einen Ueberzug davon, dass man wie auf Gummi-
pastillen kaut, der Gaumen verschmachtet. Man duselt und die Andern duseln
auch und die Tiere duseln; das fluchende »anda, diavo« wird seltener und

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[29/0053] durch ein paar ehrgeizige Racker, die durchaus den andern vorauskommen wollten, demoralisirt: sie liefen im dichtern Kamp mit ihren Lasten gegen die Bäume an, dass die dürren Aeste krachten und die Gepäckstücke herabkollerten, und schlugen sich dann munter seitwärts in die Büsche; die Leute mussten ihre Leder- säcke abwerfen, um die Flüchtlinge zurückzuholen, die überall verstreuten Sachen und Riemen zu sammeln und alles wieder aufzuladen, wozu aber jedesmal min- destens zwei Personen nötig waren, da die beiden schweren Bruacas rechts und links a tempo eingehängt wurden. Noch heute gedenke ich mit einem Gefühl der Unlust eines Tages, wo die Verwirrung sehr gross war und ich mich allein übrig sah, um sechs Maultiere eine endlos lange halbe Stunde durch den wüsten struppigen Busch vor mir her zu treiben. Im besseren Terrain verursachte wiederum ihr Gelüste, frisches Gras zu fressen oder an den Blättern der Akurí- Palmen zu rupfen, steten Aufenthalt. Allmählich indessen lernten die Esel, wie sie durchweg genannt wurden, bessere Ordnung halten und in der weglosen Wildnis jenseit des Paranatinga hatten wir eine zwar mehr und mehr abmagernde und mit Druckwunden behaftete, aber doch wohldisziplinierte Tropa. Hier bildeten Antonio, Wilhelm und ich die Avantgarde. Wir brachen eine halbe Stunde früher auf, suchten oder machten vielmehr den Weg, indem wir das Gestrüpp wegsäbelten und unausgesetzt alle drei markirten, d. h. rechts und links mit unsern Buschmessern Zweige kappten oder von dem Stamm ein Stück Rinde wegschlugen, sodass der nachfolgende Zug stetig vorwärts rücken und die Wegrichtung an den zersplitterten Aesten und an den weissen oder roten Schälwunden der Bäume erkennen konnte. Waren wir an ein unüberwindliches Hindernis geraten, und hatten wir deshalb ein Stück zurückzugehen und einen neuen Weg zu suchen, so wurde der unbrauchbar gewordene durch auffällig quer- gelegtes Strauchwerk versperrt, und der neue durch mächtige Schälstreifen geradezu reklamenhaft den Blicken empfohlen. Nicht immer wurden unsere Zeichen richtig gefunden oder die gute Madrinha hatte unbeachtet die Sperrung überschritten; dann räsonnirte die ganze Gesellschaft über unser schlechtes Markiren und wir drei Holzknechte waren nachher sehr betrübt, weil wir im Schweiss unseres Angesichts das Beste gethan zu haben meinten. Uns zum Lobe muss ich erwähnen, dass wir jenseit des Paranatinga unsere alten Marken von 1884 noch wiederfinden und ausgiebig benutzen, ja mehrfach noch deutlich die verschiedenen »Handschriften« unterscheiden konnten. Zuweilen hatten es wohl beide Teile an Aufmerksamkeit fehlen lassen. Zumal im guten Terrain. Denn es ist ja kaum zu glauben, in welchem Masse die gleichmässig Dahinmarschierenden von stillem Stumpfsinn erfasst werden können. Die ganze Natur schläft in Hitze und Dürre. Der viele Staub, den man schlucken muss, trocknet Lippe und Zunge aus, die Schnurrbarthaare sind durch zähen Teig verklebt und die Zähne haben einen Ueberzug davon, dass man wie auf Gummi- pastillen kaut, der Gaumen verschmachtet. Man duselt und die Andern duseln auch und die Tiere duseln; das fluchende »anda, diavo« wird seltener und

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 29. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/53>, abgerufen am 04.05.2024.