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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Aber damit, dass man die Zählkunst bis auf die niedrigste Stufe zurück-
führen kann, wo man noch die "2" oder "3" an den Fingern mühsam abtasten
muss, ist für das eigentliche Verständnis des Zählens nicht das Geringste ge-
wonnen. Bei der "2" fängt das Rätsel erst an, denn wie in aller Welt sind die
Menschen überall dazu gekommen, zu denken: 1 + 1 = 2, also zwei einzelne gleich-
artige Gegenstände in einer neuen Einheit zusammenzufassen? Die Natur zeigt
nur Dinge in endloser Wiederholung; es ist leicht verständlich, dass man auf ein
Ding nach dem andern hindeutete, dabei einen Finger und irgend ein demon-
stratives Wort gebrauchte, es hat auch keine Schwierigkeiten bei der Rolle, die
der Geberdensprache zukam, sich vorzustellen, wie man gedachte Dinge Stück
für Stück sich selbst an den Fingern veranschaulichte und jedesmal auf einen
Finger als den sinnlich wahrnehmbaren Stellvertreter hinwies. So kann man aller-
dings wissen und ausdrücken, dass alle Dinge da sind, oder dass welche fehlen,
und in diesem Sinn auch bereits zählen, aber man gelangt nur zu einer Auf-
zählung
gegenwärtiger und abwesender Objekte mit demonstrierenden Geberden
und demonstrativen Wörtern, jedoch noch nicht zu dem zwei einzelne Dinge zu-
sammenfassenden Einheitsbegriff der "2".

Man hat gesagt, die "2" sei aus dem Wechselverkehr der ersten und zweiten
Person entstanden = "ich + du". Den beiden gegenüber seien alle übrigen Per-
sonen "Viele" gewesen = "3". Mir ist diese Erklärung völlig unverständlich. Ich
begreife, dass "ich + du" "wir", oder dass "mein und dein" "unser" wird, aber
"2"? Was hat das Verhältnis von "ich und du" auch nur vergleichsweise mit
2 Pfeilen, die ich in der Hand habe, mit 2 Frauen, denen ich begegne, zu thun?
Ich kann mir nicht einmal denken, dass man, um "ich und du" mit einer Geberde
auszudrücken, auf 2 Finger hinwies -- falls man nicht das Zählen erfinden wollte
-- sondern glaube, dass man auf sich und den Andern zeigte.

Man hat gehofft, durch die Etymologie der Zahlwörter vorwärts zu kommen,
und sich durch das verbreitete "5" = "Hand" leiten lassen. Wenn der ursprüng-
liche Sinn der Zahlwörter für "1" und "2" dunkel sei, so habe man doch Grund
anzunehmen, dass er sich auf ein ähnliches Vorbild des Körpers bezogen habe.
Falls man auf diese Art nur Zahlwörter erklären wollte, die gewiss aus einer
Vergleichung hervorgegangen sein könnten, wäre gegen die Möglichkeit nichts
einzuwenden. Dagegen wird über den Ursprung einer "2" bedeutenden Finger-
geberde durch den Vergleich mit der "Hand" = "5" gar kein Licht verbreitet.
Bedenken wir, "5" = "Hand" ist ein sehr später Gewinn. Es giebt eine ganze
Reihe zählender Naturvölker, die ihn noch nicht erreicht haben. Die Bakairi,
die nachweisbar seit vielen Jahrhunderten rechnen müssen, besitzen das Wort
heute noch nicht, das die Tamanako also erst nach der Trennung von dem
karaibischen Grundvolk erworben haben. Wenn wir hieraus lernen, dass eine
lange Zeit fertigen Zählens ohne "5" = "Hand" bestehen kann, so wundern wir
uns nicht, dass diese Bedeutung eines Tages aufkam, aber wir dürfen daraus auch
nichts mehr folgern, als dass man eben an den Fingern gerechnet hat. Die Hand

Aber damit, dass man die Zählkunst bis auf die niedrigste Stufe zurück-
führen kann, wo man noch die »2« oder »3« an den Fingern mühsam abtasten
muss, ist für das eigentliche Verständnis des Zählens nicht das Geringste ge-
wonnen. Bei der »2« fängt das Rätsel erst an, denn wie in aller Welt sind die
Menschen überall dazu gekommen, zu denken: 1 + 1 = 2, also zwei einzelne gleich-
artige Gegenstände in einer neuen Einheit zusammenzufassen? Die Natur zeigt
nur Dinge in endloser Wiederholung; es ist leicht verständlich, dass man auf ein
Ding nach dem andern hindeutete, dabei einen Finger und irgend ein demon-
stratives Wort gebrauchte, es hat auch keine Schwierigkeiten bei der Rolle, die
der Geberdensprache zukam, sich vorzustellen, wie man gedachte Dinge Stück
für Stück sich selbst an den Fingern veranschaulichte und jedesmal auf einen
Finger als den sinnlich wahrnehmbaren Stellvertreter hinwies. So kann man aller-
dings wissen und ausdrücken, dass alle Dinge da sind, oder dass welche fehlen,
und in diesem Sinn auch bereits zählen, aber man gelangt nur zu einer Auf-
zählung
gegenwärtiger und abwesender Objekte mit demonstrierenden Geberden
und demonstrativen Wörtern, jedoch noch nicht zu dem zwei einzelne Dinge zu-
sammenfassenden Einheitsbegriff der »2«.

Man hat gesagt, die »2« sei aus dem Wechselverkehr der ersten und zweiten
Person entstanden = »ich + du«. Den beiden gegenüber seien alle übrigen Per-
sonen »Viele« gewesen = »3«. Mir ist diese Erklärung völlig unverständlich. Ich
begreife, dass »ich + du« »wir«, oder dass »mein und dein« »unser« wird, aber
»2«? Was hat das Verhältnis von »ich und du« auch nur vergleichsweise mit
2 Pfeilen, die ich in der Hand habe, mit 2 Frauen, denen ich begegne, zu thun?
Ich kann mir nicht einmal denken, dass man, um »ich und du« mit einer Geberde
auszudrücken, auf 2 Finger hinwies — falls man nicht das Zählen erfinden wollte
— sondern glaube, dass man auf sich und den Andern zeigte.

Man hat gehofft, durch die Etymologie der Zahlwörter vorwärts zu kommen,
und sich durch das verbreitete »5« = »Hand« leiten lassen. Wenn der ursprüng-
liche Sinn der Zahlwörter für »1« und »2« dunkel sei, so habe man doch Grund
anzunehmen, dass er sich auf ein ähnliches Vorbild des Körpers bezogen habe.
Falls man auf diese Art nur Zahlwörter erklären wollte, die gewiss aus einer
Vergleichung hervorgegangen sein könnten, wäre gegen die Möglichkeit nichts
einzuwenden. Dagegen wird über den Ursprung einer »2« bedeutenden Finger-
geberde durch den Vergleich mit der »Hand« = »5« gar kein Licht verbreitet.
Bedenken wir, »5« = »Hand« ist ein sehr später Gewinn. Es giebt eine ganze
Reihe zählender Naturvölker, die ihn noch nicht erreicht haben. Die Bakaïrí,
die nachweisbar seit vielen Jahrhunderten rechnen müssen, besitzen das Wort
heute noch nicht, das die Tamanako also erst nach der Trennung von dem
karaibischen Grundvolk erworben haben. Wenn wir hieraus lernen, dass eine
lange Zeit fertigen Zählens ohne »5« = »Hand« bestehen kann, so wundern wir
uns nicht, dass diese Bedeutung eines Tages aufkam, aber wir dürfen daraus auch
nichts mehr folgern, als dass man eben an den Fingern gerechnet hat. Die Hand

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[411/0475] Aber damit, dass man die Zählkunst bis auf die niedrigste Stufe zurück- führen kann, wo man noch die »2« oder »3« an den Fingern mühsam abtasten muss, ist für das eigentliche Verständnis des Zählens nicht das Geringste ge- wonnen. Bei der »2« fängt das Rätsel erst an, denn wie in aller Welt sind die Menschen überall dazu gekommen, zu denken: 1 + 1 = 2, also zwei einzelne gleich- artige Gegenstände in einer neuen Einheit zusammenzufassen? Die Natur zeigt nur Dinge in endloser Wiederholung; es ist leicht verständlich, dass man auf ein Ding nach dem andern hindeutete, dabei einen Finger und irgend ein demon- stratives Wort gebrauchte, es hat auch keine Schwierigkeiten bei der Rolle, die der Geberdensprache zukam, sich vorzustellen, wie man gedachte Dinge Stück für Stück sich selbst an den Fingern veranschaulichte und jedesmal auf einen Finger als den sinnlich wahrnehmbaren Stellvertreter hinwies. So kann man aller- dings wissen und ausdrücken, dass alle Dinge da sind, oder dass welche fehlen, und in diesem Sinn auch bereits zählen, aber man gelangt nur zu einer Auf- zählung gegenwärtiger und abwesender Objekte mit demonstrierenden Geberden und demonstrativen Wörtern, jedoch noch nicht zu dem zwei einzelne Dinge zu- sammenfassenden Einheitsbegriff der »2«. Man hat gesagt, die »2« sei aus dem Wechselverkehr der ersten und zweiten Person entstanden = »ich + du«. Den beiden gegenüber seien alle übrigen Per- sonen »Viele« gewesen = »3«. Mir ist diese Erklärung völlig unverständlich. Ich begreife, dass »ich + du« »wir«, oder dass »mein und dein« »unser« wird, aber »2«? Was hat das Verhältnis von »ich und du« auch nur vergleichsweise mit 2 Pfeilen, die ich in der Hand habe, mit 2 Frauen, denen ich begegne, zu thun? Ich kann mir nicht einmal denken, dass man, um »ich und du« mit einer Geberde auszudrücken, auf 2 Finger hinwies — falls man nicht das Zählen erfinden wollte — sondern glaube, dass man auf sich und den Andern zeigte. Man hat gehofft, durch die Etymologie der Zahlwörter vorwärts zu kommen, und sich durch das verbreitete »5« = »Hand« leiten lassen. Wenn der ursprüng- liche Sinn der Zahlwörter für »1« und »2« dunkel sei, so habe man doch Grund anzunehmen, dass er sich auf ein ähnliches Vorbild des Körpers bezogen habe. Falls man auf diese Art nur Zahlwörter erklären wollte, die gewiss aus einer Vergleichung hervorgegangen sein könnten, wäre gegen die Möglichkeit nichts einzuwenden. Dagegen wird über den Ursprung einer »2« bedeutenden Finger- geberde durch den Vergleich mit der »Hand« = »5« gar kein Licht verbreitet. Bedenken wir, »5« = »Hand« ist ein sehr später Gewinn. Es giebt eine ganze Reihe zählender Naturvölker, die ihn noch nicht erreicht haben. Die Bakaïrí, die nachweisbar seit vielen Jahrhunderten rechnen müssen, besitzen das Wort heute noch nicht, das die Tamanako also erst nach der Trennung von dem karaibischen Grundvolk erworben haben. Wenn wir hieraus lernen, dass eine lange Zeit fertigen Zählens ohne »5« = »Hand« bestehen kann, so wundern wir uns nicht, dass diese Bedeutung eines Tages aufkam, aber wir dürfen daraus auch nichts mehr folgern, als dass man eben an den Fingern gerechnet hat. Die Hand

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/475>, abgerufen am 21.05.2024.