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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Lähmung der hintern Extremitäten beginnenden "Hüftenseuche", peste-cadeira,
zu Grunde gehen, und die Zucht vorläufig unmöglich erscheint. Angegeben
wurde mir auf der Fazenda -- ich glaube nicht recht an diese Zahlen -- ein
Viehstand von 5--6000 Rindern und 60 Pferden; Maultierzucht wurde versuchs-
weise begonnen. Die Schweine wurden nicht gemästet, da man allen Mais verkaufte.

Wie gross der Landbesitz ist, weiss der Fazendeiro selbst nicht; niemals
haben hier regelrechte Vermessungen stattgefunden. Niemand prüft auch die
Ansprüche. Der Herr des fürstlichen Grundbesitzes wohnt mit seiner Familie in
einem strohgedeckten, aus lehmbeworfenem Fachwerk erbauten Hause ohne Keller
und Obergeschoss, in dem es ein paar Tische, Stühle oder Bänke und rohge-
zimmerte Truhen, aber keine Kommoden, Schränke, Betten, Oefen giebt: Alles
schläft nach des Landes Brauch in Hängematten, und man kocht auf einem Back-
ofen in einer vom Hause getrennten Küche oder Kochhütte. Das Verhältnis zum
Fremden hält die Mitte zwischen Gastlichkeit und Gastwirtschaft oder Geschäft:
man nimmt für die Unterkunft im Haus oder Hof kein Geld, spendiert Kaffee,
ein Schnäpschen, Milch, wenn es deren giebt, und verkauft Farinha, Reis, Bohnen,
Mandioka, Mais, Dörrfleisch, Hühner. Wie allenthalben im spanischen oder portu-
giesischen Amerika wird der Eintretende zu dem Mahl eingeladen, das gerade
eingenommen wird. Allein der ärmere Cuyabaner, erzählte man mir, ass deshalb
gern aus der Schublade statt von der Platte des Tisches: ertönte das Hände-
klatschen vor der Thüre, das einen Besuch anzeigte, so verschwanden gleichzeitig
mit seinem freundlichen "Herein" die Teller im Innern des Tisches. Unleugbar
praktisch.

Mit der Cachaca, dem Branntwein, hatten wir es in Cuyabasinho schlecht
getroffen: drei Tage vorher war aller Vorrath an einem Fest zu Ehren des
heiligen Antonio ausgetrunken worden. Vorsorglich werden stets die Frauen
auf der Fazenda dem Fremden ferngehalten, wenn sie nicht schon mehr oder
minder Grossmütter sind, und in diesem Misstrauen, wie in der grossen Jäger-
geschicklichkeit und in der Freude an allen Abenteuern mit dem Getier des
Waldes, dem sie mit ihren ausgehungerten halbwilden Hunden zu Leibe rücken,
meint man die indianische Abstammung der Moradores noch durchbrechen zu sehen.

Geradezu armselig waren die Hütten von Tacoarasinha, deren Bewohner
von den Schingu-Indianern in Hinsicht auf behagliche tüchtige Einrichtung und
fleissige Lebensfürsorge unendlich viel zu lernen hätten. Diese kleineren Moradores,
fern von allem Verkehr und ohne jede Erziehung aufgewachsen, auf den engsten
geistigen Horizont beschränkt, sind durch und durch "gente atrasada", zurück-
gebliebene Leute; sie leben bedürfnislos, mit ein paar Paku-Fischen zufrieden,
von der Hand in den Mund, und ihre guten Anlagen verkümmern im Nichtge-
brauch. Es gab in dem elenden Nest am Rio Manso kein Pulver und Schrot,
keinen Kaffee, keine Rapadura. Von uns wollten sie Mais und Farinha kaufen!
Sie hatten nur zwei Kanus und waren doch bei ihrer Trägheit in erster Linie
auf den Fischfang angewiesen.


Lähmung der hintern Extremitäten beginnenden »Hüftenseuche«, peste-cadeira,
zu Grunde gehen, und die Zucht vorläufig unmöglich erscheint. Angegeben
wurde mir auf der Fazenda — ich glaube nicht recht an diese Zahlen — ein
Viehstand von 5—6000 Rindern und 60 Pferden; Maultierzucht wurde versuchs-
weise begonnen. Die Schweine wurden nicht gemästet, da man allen Mais verkaufte.

Wie gross der Landbesitz ist, weiss der Fazendeiro selbst nicht; niemals
haben hier regelrechte Vermessungen stattgefunden. Niemand prüft auch die
Ansprüche. Der Herr des fürstlichen Grundbesitzes wohnt mit seiner Familie in
einem strohgedeckten, aus lehmbeworfenem Fachwerk erbauten Hause ohne Keller
und Obergeschoss, in dem es ein paar Tische, Stühle oder Bänke und rohge-
zimmerte Truhen, aber keine Kommoden, Schränke, Betten, Oefen giebt: Alles
schläft nach des Landes Brauch in Hängematten, und man kocht auf einem Back-
ofen in einer vom Hause getrennten Küche oder Kochhütte. Das Verhältnis zum
Fremden hält die Mitte zwischen Gastlichkeit und Gastwirtschaft oder Geschäft:
man nimmt für die Unterkunft im Haus oder Hof kein Geld, spendiert Kaffee,
ein Schnäpschen, Milch, wenn es deren giebt, und verkauft Farinha, Reis, Bohnen,
Mandioka, Mais, Dörrfleisch, Hühner. Wie allenthalben im spanischen oder portu-
giesischen Amerika wird der Eintretende zu dem Mahl eingeladen, das gerade
eingenommen wird. Allein der ärmere Cuyabaner, erzählte man mir, ass deshalb
gern aus der Schublade statt von der Platte des Tisches: ertönte das Hände-
klatschen vor der Thüre, das einen Besuch anzeigte, so verschwanden gleichzeitig
mit seinem freundlichen »Herein« die Teller im Innern des Tisches. Unleugbar
praktisch.

Mit der Cachaça, dem Branntwein, hatten wir es in Cuyabasinho schlecht
getroffen: drei Tage vorher war aller Vorrath an einem Fest zu Ehren des
heiligen Antonio ausgetrunken worden. Vorsorglich werden stets die Frauen
auf der Fazenda dem Fremden ferngehalten, wenn sie nicht schon mehr oder
minder Grossmütter sind, und in diesem Misstrauen, wie in der grossen Jäger-
geschicklichkeit und in der Freude an allen Abenteuern mit dem Getier des
Waldes, dem sie mit ihren ausgehungerten halbwilden Hunden zu Leibe rücken,
meint man die indianische Abstammung der Moradores noch durchbrechen zu sehen.

Geradezu armselig waren die Hütten von Tacoarasinha, deren Bewohner
von den Schingú-Indianern in Hinsicht auf behagliche tüchtige Einrichtung und
fleissige Lebensfürsorge unendlich viel zu lernen hätten. Diese kleineren Moradores,
fern von allem Verkehr und ohne jede Erziehung aufgewachsen, auf den engsten
geistigen Horizont beschränkt, sind durch und durch »gente atrasada«, zurück-
gebliebene Leute; sie leben bedürfnislos, mit ein paar Pakú-Fischen zufrieden,
von der Hand in den Mund, und ihre guten Anlagen verkümmern im Nichtge-
brauch. Es gab in dem elenden Nest am Rio Manso kein Pulver und Schrot,
keinen Kaffee, keine Rapadura. Von uns wollten sie Mais und Farinha kaufen!
Sie hatten nur zwei Kanus und waren doch bei ihrer Trägheit in erster Linie
auf den Fischfang angewiesen.


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[22/0046] Lähmung der hintern Extremitäten beginnenden »Hüftenseuche«, peste-cadeira, zu Grunde gehen, und die Zucht vorläufig unmöglich erscheint. Angegeben wurde mir auf der Fazenda — ich glaube nicht recht an diese Zahlen — ein Viehstand von 5—6000 Rindern und 60 Pferden; Maultierzucht wurde versuchs- weise begonnen. Die Schweine wurden nicht gemästet, da man allen Mais verkaufte. Wie gross der Landbesitz ist, weiss der Fazendeiro selbst nicht; niemals haben hier regelrechte Vermessungen stattgefunden. Niemand prüft auch die Ansprüche. Der Herr des fürstlichen Grundbesitzes wohnt mit seiner Familie in einem strohgedeckten, aus lehmbeworfenem Fachwerk erbauten Hause ohne Keller und Obergeschoss, in dem es ein paar Tische, Stühle oder Bänke und rohge- zimmerte Truhen, aber keine Kommoden, Schränke, Betten, Oefen giebt: Alles schläft nach des Landes Brauch in Hängematten, und man kocht auf einem Back- ofen in einer vom Hause getrennten Küche oder Kochhütte. Das Verhältnis zum Fremden hält die Mitte zwischen Gastlichkeit und Gastwirtschaft oder Geschäft: man nimmt für die Unterkunft im Haus oder Hof kein Geld, spendiert Kaffee, ein Schnäpschen, Milch, wenn es deren giebt, und verkauft Farinha, Reis, Bohnen, Mandioka, Mais, Dörrfleisch, Hühner. Wie allenthalben im spanischen oder portu- giesischen Amerika wird der Eintretende zu dem Mahl eingeladen, das gerade eingenommen wird. Allein der ärmere Cuyabaner, erzählte man mir, ass deshalb gern aus der Schublade statt von der Platte des Tisches: ertönte das Hände- klatschen vor der Thüre, das einen Besuch anzeigte, so verschwanden gleichzeitig mit seinem freundlichen »Herein« die Teller im Innern des Tisches. Unleugbar praktisch. Mit der Cachaça, dem Branntwein, hatten wir es in Cuyabasinho schlecht getroffen: drei Tage vorher war aller Vorrath an einem Fest zu Ehren des heiligen Antonio ausgetrunken worden. Vorsorglich werden stets die Frauen auf der Fazenda dem Fremden ferngehalten, wenn sie nicht schon mehr oder minder Grossmütter sind, und in diesem Misstrauen, wie in der grossen Jäger- geschicklichkeit und in der Freude an allen Abenteuern mit dem Getier des Waldes, dem sie mit ihren ausgehungerten halbwilden Hunden zu Leibe rücken, meint man die indianische Abstammung der Moradores noch durchbrechen zu sehen. Geradezu armselig waren die Hütten von Tacoarasinha, deren Bewohner von den Schingú-Indianern in Hinsicht auf behagliche tüchtige Einrichtung und fleissige Lebensfürsorge unendlich viel zu lernen hätten. Diese kleineren Moradores, fern von allem Verkehr und ohne jede Erziehung aufgewachsen, auf den engsten geistigen Horizont beschränkt, sind durch und durch »gente atrasada«, zurück- gebliebene Leute; sie leben bedürfnislos, mit ein paar Pakú-Fischen zufrieden, von der Hand in den Mund, und ihre guten Anlagen verkümmern im Nichtge- brauch. Es gab in dem elenden Nest am Rio Manso kein Pulver und Schrot, keinen Kaffee, keine Rapadura. Von uns wollten sie Mais und Farinha kaufen! Sie hatten nur zwei Kanus und waren doch bei ihrer Trägheit in erster Linie auf den Fischfang angewiesen.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 22. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/46>, abgerufen am 18.04.2024.