Kunst aus, so ist Nichts gewöhnlicher auch im Leben des Kulturmenschen als das Hexen, freilich ein unsystematisches, laienhaftes Hexen. Wer träumt, hext. Er ist nicht an den Ort und die Gestalt gebunden und ist zu beliebigen Leistungen mit jeder Person oder Sache befähigt. Lebhafte Spiele der Einbildungskraft sind nur quantitativ, nicht qualitativ vom Traumhexen unterschieden. Wer das Bild der Geliebten küsst, bereitet sich zum Hexen vor. Wer seinem fern weilenden Schatz durch die Luft einen Kuss zuwirft, macht sich der Hexerei schon dringend verdächtig, denn es steht zu befürchten, dass er glaubt, der süsse Hauch erreiche die Adresse und werde dort empfunden. Wer aber, wie der grosse Zauberer Goethe seinem Famulus Eckermann, erklärt: "ich habe in meinen Jugendjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam", der hext schon nach allen Regeln der Kunst. Vollständig im Banne der echten Hexerei steht, wer auch nur eine Sekunde lang, wenn ihm die Ohren klingen, sich der Ueberzeugung hingiebt, dass man Gutes oder Schlechtes von ihm gesprochen habe, oder wer sich von seinem Freunde den Daumen halten lässt, damit ihm irgend etwas gelinge, oder wer seinen Wünschen die Kraft zutraut, den Ablauf angenehmer oder unangenehmer Ge- schehnisse zu beeinflussen.
Unsere Indianer haben wie viele andere Naturvölker die feste Ueberzeugung, die sich übrigens auf unserer Zivilisationsstufe noch bei Kindern und Betrunkenen und nicht nur bei ihnen beobachten lässt, dass sie im lebhaften Traum Wirk- lichkeit erleben; man geht auf die Jagd, schiesst Fische, fällt Bäume, wenn man schläft, während der Körper in der Hängematte bleibt. Bei den Bororo haben wir, wie ich berichten werde, erlebt, dass das ganze Dorf fliehen wollte, weil Einer im Traum heranschleichende Feinde gesehen hatte. Die Bakairi lassen den "Schatten" des Menschen -- was wir dann mit "Seele" übersetzen -- im Traum umherwandern. (Vgl. auch über dies und Aehnliches das Paressi-Kapitel.) Antonio, den allein, zumal in den Cuyabaner Monaten, ich genügend studieren konnte, um die meisten der später folgenden Angaben zu gewinnen, hatte auch die besonders von den Malaien her bekannte Besorgnis, dass es gefährlich sei, einen Schlafenden plötzlich zu wecken. Der "Schatten", der vielleicht in fernen Gegenden wandert, könne nicht schnell genug zurückkehren, und der Schlafende werde in einen Toten verwandelt. Durch das Abhetzen des zurückeilenden Schattens erklärte er zu meiner Ueberraschung auch die Kopfschmerzen, die man nach zu kurzem nächtlichen Schlummer bekomme. Wir dürfen den Indianern ihren rein auf die unmittelbare Erfahrung der Sinne gegründeten Glauben nicht so übel nehmen, wenn wir bedenken, dass es der höheren spekulativen Philosophie gar nicht so einfach erscheint, zu bestimmen, ob das Leben ein Traum oder der Traum ein Leben sei, ob wir während des Wachens oder während des Schlafens Wirkliches erleben, und dürfen nicht vergessen, dass die Wirklichkeit nach dem Erwachen häufig volle Bestätigung bringt.
Kunst aus, so ist Nichts gewöhnlicher auch im Leben des Kulturmenschen als das Hexen, freilich ein unsystematisches, laienhaftes Hexen. Wer träumt, hext. Er ist nicht an den Ort und die Gestalt gebunden und ist zu beliebigen Leistungen mit jeder Person oder Sache befähigt. Lebhafte Spiele der Einbildungskraft sind nur quantitativ, nicht qualitativ vom Traumhexen unterschieden. Wer das Bild der Geliebten küsst, bereitet sich zum Hexen vor. Wer seinem fern weilenden Schatz durch die Luft einen Kuss zuwirft, macht sich der Hexerei schon dringend verdächtig, denn es steht zu befürchten, dass er glaubt, der süsse Hauch erreiche die Adresse und werde dort empfunden. Wer aber, wie der grosse Zauberer Goethe seinem Famulus Eckermann, erklärt: »ich habe in meinen Jugendjahren Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte, bis sie mir wirklich entgegenkam«, der hext schon nach allen Regeln der Kunst. Vollständig im Banne der echten Hexerei steht, wer auch nur eine Sekunde lang, wenn ihm die Ohren klingen, sich der Ueberzeugung hingiebt, dass man Gutes oder Schlechtes von ihm gesprochen habe, oder wer sich von seinem Freunde den Daumen halten lässt, damit ihm irgend etwas gelinge, oder wer seinen Wünschen die Kraft zutraut, den Ablauf angenehmer oder unangenehmer Ge- schehnisse zu beeinflussen.
Unsere Indianer haben wie viele andere Naturvölker die feste Ueberzeugung, die sich übrigens auf unserer Zivilisationsstufe noch bei Kindern und Betrunkenen und nicht nur bei ihnen beobachten lässt, dass sie im lebhaften Traum Wirk- lichkeit erleben; man geht auf die Jagd, schiesst Fische, fällt Bäume, wenn man schläft, während der Körper in der Hängematte bleibt. Bei den Bororó haben wir, wie ich berichten werde, erlebt, dass das ganze Dorf fliehen wollte, weil Einer im Traum heranschleichende Feinde gesehen hatte. Die Bakaïrí lassen den »Schatten« des Menschen — was wir dann mit »Seele« übersetzen — im Traum umherwandern. (Vgl. auch über dies und Aehnliches das Paressí-Kapitel.) Antonio, den allein, zumal in den Cuyabáner Monaten, ich genügend studieren konnte, um die meisten der später folgenden Angaben zu gewinnen, hatte auch die besonders von den Malaien her bekannte Besorgnis, dass es gefährlich sei, einen Schlafenden plötzlich zu wecken. Der »Schatten«, der vielleicht in fernen Gegenden wandert, könne nicht schnell genug zurückkehren, und der Schlafende werde in einen Toten verwandelt. Durch das Abhetzen des zurückeilenden Schattens erklärte er zu meiner Ueberraschung auch die Kopfschmerzen, die man nach zu kurzem nächtlichen Schlummer bekomme. Wir dürfen den Indianern ihren rein auf die unmittelbare Erfahrung der Sinne gegründeten Glauben nicht so übel nehmen, wenn wir bedenken, dass es der höheren spekulativen Philosophie gar nicht so einfach erscheint, zu bestimmen, ob das Leben ein Traum oder der Traum ein Leben sei, ob wir während des Wachens oder während des Schlafens Wirkliches erleben, und dürfen nicht vergessen, dass die Wirklichkeit nach dem Erwachen häufig volle Bestätigung bringt.
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Kunst aus, so ist Nichts gewöhnlicher auch im Leben des Kulturmenschen als
das Hexen, freilich ein unsystematisches, laienhaftes Hexen. Wer träumt, hext.
Er ist nicht an den Ort und die Gestalt gebunden und ist zu beliebigen Leistungen
mit jeder Person oder Sache befähigt. Lebhafte Spiele der Einbildungskraft sind
nur quantitativ, nicht qualitativ vom Traumhexen unterschieden. Wer das Bild
der Geliebten küsst, bereitet sich zum Hexen vor. Wer seinem fern weilenden
Schatz durch die Luft einen Kuss zuwirft, macht sich der Hexerei schon dringend
verdächtig, denn es steht zu befürchten, dass er glaubt, der süsse Hauch erreiche
die Adresse und werde dort empfunden. Wer aber, wie der grosse Zauberer
Goethe seinem Famulus Eckermann, erklärt: »ich habe in meinen Jugendjahren
Fälle genug erlebt, wo auf einsamen Spaziergängen ein mächtiges Verlangen
nach einem geliebten Mädchen mich überfiel und ich so lange an sie dachte,
bis sie mir wirklich entgegenkam«, der hext schon nach allen Regeln der Kunst.
Vollständig im Banne der echten Hexerei steht, wer auch nur eine Sekunde lang,
wenn ihm die Ohren klingen, sich der Ueberzeugung hingiebt, dass man Gutes
oder Schlechtes von ihm gesprochen habe, oder wer sich von seinem Freunde
den Daumen halten lässt, damit ihm irgend etwas gelinge, oder wer seinen
Wünschen die Kraft zutraut, den Ablauf angenehmer oder unangenehmer Ge-
schehnisse zu beeinflussen.
Unsere Indianer haben wie viele andere Naturvölker die feste Ueberzeugung,
die sich übrigens auf unserer Zivilisationsstufe noch bei Kindern und Betrunkenen
und nicht nur bei ihnen beobachten lässt, dass sie im lebhaften Traum Wirk-
lichkeit erleben; man geht auf die Jagd, schiesst Fische, fällt Bäume, wenn man
schläft, während der Körper in der Hängematte bleibt. Bei den Bororó haben
wir, wie ich berichten werde, erlebt, dass das ganze Dorf fliehen wollte, weil
Einer im Traum heranschleichende Feinde gesehen hatte. Die Bakaïrí lassen den
»Schatten« des Menschen — was wir dann mit »Seele« übersetzen — im Traum
umherwandern. (Vgl. auch über dies und Aehnliches das Paressí-Kapitel.)
Antonio, den allein, zumal in den Cuyabáner Monaten, ich genügend studieren
konnte, um die meisten der später folgenden Angaben zu gewinnen, hatte auch
die besonders von den Malaien her bekannte Besorgnis, dass es gefährlich sei,
einen Schlafenden plötzlich zu wecken. Der »Schatten«, der vielleicht in fernen
Gegenden wandert, könne nicht schnell genug zurückkehren, und der Schlafende
werde in einen Toten verwandelt. Durch das Abhetzen des zurückeilenden
Schattens erklärte er zu meiner Ueberraschung auch die Kopfschmerzen, die man
nach zu kurzem nächtlichen Schlummer bekomme. Wir dürfen den Indianern
ihren rein auf die unmittelbare Erfahrung der Sinne gegründeten Glauben nicht
so übel nehmen, wenn wir bedenken, dass es der höheren spekulativen Philosophie
gar nicht so einfach erscheint, zu bestimmen, ob das Leben ein Traum oder der
Traum ein Leben sei, ob wir während des Wachens oder während des Schlafens
Wirkliches erleben, und dürfen nicht vergessen, dass die Wirklichkeit nach dem
Erwachen häufig volle Bestätigung bringt.
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 340. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/404>, abgerufen am 25.11.2024.
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