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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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können am Kopf, am Hals und gar an den Hüften sitzen, wenn sie nur da sind,
die Proportionen sind ihnen im höchsten Grade gleichgültig. Dagegen legen sie
den grössten Wert auf Attribute, die sie interessieren, und so ist das Ideal des
Knaben stets der Herr mit Pfeife oder Zilinderhut oder Flinte und Säbel, das
Ideal des Mädchens die Dame mit dem Blumenstrauss oder dem Sonnenschirm,
unerbittlich nach der neuesten Mode gekleidet.

Auch die Indianer beschreiben. Ich kann mich auf ihren Standpunkt
sofort versetzen, wenn ich mir die Aufgabe vorlege, aus dem Kopf und ohne
besonderes Nachsinnen eine Karte von Afrika zu zeichnen. Dann bringe ich ein
schief birnenförmiges Ding zu Papier, ziehe im dicken Teil rechts eine senkrecht
von oben nach unten und links eine quer verlaufende Schlangenlinie, sowie etwas
tiefer eine Bogenlinie: Nil, Niger und Kongo, flicke endlich einen Stiel hoch oben
rechts an, die in der Luft schwebende Landbrücke nach Arabien hinüber. So
würde ich einem Indianer Afrika zeichnen, meine Kollegen würden es auch er-
kennen. Und verlangt man Vervollständigung, so punktiere und tüpfele ich das
Oberteil aus, um die Sahara darzustellen, erinnere mich auch der neueren Forschung
und setze neben den Winkel von Nil und Kongo ein paar teils schmale, teils
rundliche Kringel ein, die Seen des dunklen Erdteils; dabei fällt mir noch das
Schmerzenskind der Kolonialpolitik ein und ein langes Inseloval erscheint, an
Grösse mindestens Madagaskar ebenbürtig, während ich Madagaskar selbst ganz
vergesse. In diesem uns gewiss leicht verständlichen Beispiel steckt die ganze
Psychologie der indianischen Bleistiftzeichnungen. Wenn ein Afrikareisender Wider-
spruch erhebt, so bitte ich ihn verbindlichst, dafür ein Bild von Südamerika zu
entwerfen. Wenden wir uns dann endlich mit diesen Erzeugnissen vertrauensvoll
an Herrn Dr. Bruno Hassenstein in Gotha, so wird dieser, so liebenswürdig er
sonst ist, dasselbe grausam mitleidige Lächeln kaum unterdrücken können, das
uns die Portraits der Eingeborenen entlockten.

Auf Tafel I vom Kulisehu stehen vier Expeditionsmitglieder nebeneinander,
eine Aufnahme aus dem dritten Bakairidorf. Dort bin ich erkennbar als der
grösste und mit dem längsten Bart, der zweite, mein Vetter, ist durch die ver-
wogene kleine Mütze gekennzeichnet, der dritte ist Ehrenreich mit kürzerem Voll-
bart und mir an Körpergrösse am nächsten, der vierte, ganz klein und niedlich,
ist Leutnant Perrot, dem man einen geringeren Rang zuschrieb, weil er bei den
Untersuchungen zurückstand. Ich habe hier wie an den meisten Zeichnungen
die Probe gemacht und sie andern Indianern nachher vorgelegt, mit der Frage,
wer das sei? Sie bestimmten die Personen richtig, hoffentlich nicht nach der
Aehnlichkeit, sondern nach den als auffällig gegebenen Merkmalen. Wirklich ganz
befriedigend auch für unsere Ansprüche, sind (Bororo II) die Schildkröten und
der Tapir der Bororo, während der verfolgende Hund wohl nur erkannt werden
konnte, weil er ein hinter dem Tapir herlaufender Vierfüssler war, der wegen des
Schwanzes und des mangelnden Rüssels ein zweiter Tapir nicht sein konnte.
Der Schluss per exclusionem muss oft mithelfen.


können am Kopf, am Hals und gar an den Hüften sitzen, wenn sie nur da sind,
die Proportionen sind ihnen im höchsten Grade gleichgültig. Dagegen legen sie
den grössten Wert auf Attribute, die sie interessieren, und so ist das Ideal des
Knaben stets der Herr mit Pfeife oder Zilinderhut oder Flinte und Säbel, das
Ideal des Mädchens die Dame mit dem Blumenstrauss oder dem Sonnenschirm,
unerbittlich nach der neuesten Mode gekleidet.

Auch die Indianer beschreiben. Ich kann mich auf ihren Standpunkt
sofort versetzen, wenn ich mir die Aufgabe vorlege, aus dem Kopf und ohne
besonderes Nachsinnen eine Karte von Afrika zu zeichnen. Dann bringe ich ein
schief birnenförmiges Ding zu Papier, ziehe im dicken Teil rechts eine senkrecht
von oben nach unten und links eine quer verlaufende Schlangenlinie, sowie etwas
tiefer eine Bogenlinie: Nil, Niger und Kongo, flicke endlich einen Stiel hoch oben
rechts an, die in der Luft schwebende Landbrücke nach Arabien hinüber. So
würde ich einem Indianer Afrika zeichnen, meine Kollegen würden es auch er-
kennen. Und verlangt man Vervollständigung, so punktiere und tüpfele ich das
Oberteil aus, um die Sahara darzustellen, erinnere mich auch der neueren Forschung
und setze neben den Winkel von Nil und Kongo ein paar teils schmale, teils
rundliche Kringel ein, die Seen des dunklen Erdteils; dabei fällt mir noch das
Schmerzenskind der Kolonialpolitik ein und ein langes Inseloval erscheint, an
Grösse mindestens Madagaskar ebenbürtig, während ich Madagaskar selbst ganz
vergesse. In diesem uns gewiss leicht verständlichen Beispiel steckt die ganze
Psychologie der indianischen Bleistiftzeichnungen. Wenn ein Afrikareisender Wider-
spruch erhebt, so bitte ich ihn verbindlichst, dafür ein Bild von Südamerika zu
entwerfen. Wenden wir uns dann endlich mit diesen Erzeugnissen vertrauensvoll
an Herrn Dr. Bruno Hassenstein in Gotha, so wird dieser, so liebenswürdig er
sonst ist, dasselbe grausam mitleidige Lächeln kaum unterdrücken können, das
uns die Portraits der Eingeborenen entlockten.

Auf Tafel I vom Kulisehu stehen vier Expeditionsmitglieder nebeneinander,
eine Aufnahme aus dem dritten Bakaïrídorf. Dort bin ich erkennbar als der
grösste und mit dem längsten Bart, der zweite, mein Vetter, ist durch die ver-
wogene kleine Mütze gekennzeichnet, der dritte ist Ehrenreich mit kürzerem Voll-
bart und mir an Körpergrösse am nächsten, der vierte, ganz klein und niedlich,
ist Leutnant Perrot, dem man einen geringeren Rang zuschrieb, weil er bei den
Untersuchungen zurückstand. Ich habe hier wie an den meisten Zeichnungen
die Probe gemacht und sie andern Indianern nachher vorgelegt, mit der Frage,
wer das sei? Sie bestimmten die Personen richtig, hoffentlich nicht nach der
Aehnlichkeit, sondern nach den als auffällig gegebenen Merkmalen. Wirklich ganz
befriedigend auch für unsere Ansprüche, sind (Bororó II) die Schildkröten und
der Tapir der Bororó, während der verfolgende Hund wohl nur erkannt werden
konnte, weil er ein hinter dem Tapir herlaufender Vierfüssler war, der wegen des
Schwanzes und des mangelnden Rüssels ein zweiter Tapir nicht sein konnte.
Der Schluss per exclusionem muss oft mithelfen.


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[250/0304] können am Kopf, am Hals und gar an den Hüften sitzen, wenn sie nur da sind, die Proportionen sind ihnen im höchsten Grade gleichgültig. Dagegen legen sie den grössten Wert auf Attribute, die sie interessieren, und so ist das Ideal des Knaben stets der Herr mit Pfeife oder Zilinderhut oder Flinte und Säbel, das Ideal des Mädchens die Dame mit dem Blumenstrauss oder dem Sonnenschirm, unerbittlich nach der neuesten Mode gekleidet. Auch die Indianer beschreiben. Ich kann mich auf ihren Standpunkt sofort versetzen, wenn ich mir die Aufgabe vorlege, aus dem Kopf und ohne besonderes Nachsinnen eine Karte von Afrika zu zeichnen. Dann bringe ich ein schief birnenförmiges Ding zu Papier, ziehe im dicken Teil rechts eine senkrecht von oben nach unten und links eine quer verlaufende Schlangenlinie, sowie etwas tiefer eine Bogenlinie: Nil, Niger und Kongo, flicke endlich einen Stiel hoch oben rechts an, die in der Luft schwebende Landbrücke nach Arabien hinüber. So würde ich einem Indianer Afrika zeichnen, meine Kollegen würden es auch er- kennen. Und verlangt man Vervollständigung, so punktiere und tüpfele ich das Oberteil aus, um die Sahara darzustellen, erinnere mich auch der neueren Forschung und setze neben den Winkel von Nil und Kongo ein paar teils schmale, teils rundliche Kringel ein, die Seen des dunklen Erdteils; dabei fällt mir noch das Schmerzenskind der Kolonialpolitik ein und ein langes Inseloval erscheint, an Grösse mindestens Madagaskar ebenbürtig, während ich Madagaskar selbst ganz vergesse. In diesem uns gewiss leicht verständlichen Beispiel steckt die ganze Psychologie der indianischen Bleistiftzeichnungen. Wenn ein Afrikareisender Wider- spruch erhebt, so bitte ich ihn verbindlichst, dafür ein Bild von Südamerika zu entwerfen. Wenden wir uns dann endlich mit diesen Erzeugnissen vertrauensvoll an Herrn Dr. Bruno Hassenstein in Gotha, so wird dieser, so liebenswürdig er sonst ist, dasselbe grausam mitleidige Lächeln kaum unterdrücken können, das uns die Portraits der Eingeborenen entlockten. Auf Tafel I vom Kulisehu stehen vier Expeditionsmitglieder nebeneinander, eine Aufnahme aus dem dritten Bakaïrídorf. Dort bin ich erkennbar als der grösste und mit dem längsten Bart, der zweite, mein Vetter, ist durch die ver- wogene kleine Mütze gekennzeichnet, der dritte ist Ehrenreich mit kürzerem Voll- bart und mir an Körpergrösse am nächsten, der vierte, ganz klein und niedlich, ist Leutnant Perrot, dem man einen geringeren Rang zuschrieb, weil er bei den Untersuchungen zurückstand. Ich habe hier wie an den meisten Zeichnungen die Probe gemacht und sie andern Indianern nachher vorgelegt, mit der Frage, wer das sei? Sie bestimmten die Personen richtig, hoffentlich nicht nach der Aehnlichkeit, sondern nach den als auffällig gegebenen Merkmalen. Wirklich ganz befriedigend auch für unsere Ansprüche, sind (Bororó II) die Schildkröten und der Tapir der Bororó, während der verfolgende Hund wohl nur erkannt werden konnte, weil er ein hinter dem Tapir herlaufender Vierfüssler war, der wegen des Schwanzes und des mangelnden Rüssels ein zweiter Tapir nicht sein konnte. Der Schluss per exclusionem muss oft mithelfen.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 250. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/304>, abgerufen am 25.11.2024.