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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Kunst gar nicht befassten. Von Zufall kann man aber nicht reden, weil die
Gewohnheit des medizinischen Wundkratzens die Nebenerfahrung der Färbung
notwendig hervorrufen musste. Die zielbewusste Verwendung ist Sache späterer
Vorstellungen. Auch die Tätowierung wird zur künstlichen Methode und zum
auszeichnenden Hilfsmittel, das auf der Haut angebracht wird, wo keine Kleidung
vorhanden ist. Nichts ist natürlicher als dass die Tätowierung in dem Masse
zurücktritt, als die Kleidung erscheint und bequemere Wege zu gleichen Zwecken
eröffnet. Der zahme Bakairi Felipe aus dem Paranatingadorf, Leutnant der bra-
silischen Miliz und im Besitz eines
Patents und einer ausrangierten
galonierten Uniform, hatte nach
unserer ersten Expedition mit An-
tonio die wiedergefundenen Namens-
brüder besucht; er erzählte mir, dass
man ihn aufgefordert habe, zu den
Kustenau zu gehen und sich täto-
wieren zu lassen. "Aber ich wollte
nicht", sagte er mir, "ich habe ja
meine Galons".

Die Tätowierung ist auf die
Nu-Aruakstämme, also die Mehi-
naku, Kustenau, Waura und Yaula-
piti beschränkt, -- auf Stämme,
die sich den Körper mit Vorliebe
schwärzen, die also die Färbung der
Kratzstriche am besten beobachten
konnten -- und wird gelegentlich
von den benachbarten Bakairi in
Anspruch genommen. Sie wird
mit dem Dorn einer Bromelia,
Gravata, oder dem Zahn des
Hundsfisches in frühem Kindes-

[Abbildung]
[Abbildung] Abb. 16.

Kamayurafrau mit Ritznarben.

alter ausgeführt; zur Farbe dient Russ oder der Saft der Tarumafrucht.

Nur ein einziges Mal haben wir eine künstlerische Tätowierung gesehen; ein
Häuptling der Mehinaku hatte auf jeder Seite der Brust die Raute des Mereschu-
Fisches auftätowiert; von der obern und äussern Ecke der Raute verlief noch
eine Doppellinie zur Schulter hinauf. Indem er uns stolz die Stämme aufzählte,
die ihn kannten, deutete er jedesmal auf eine Ecke der Raute; ich nehme auch
diesen kleinen humoristischen Zug zu Gunsten meiner Meinung in Anspruch, dass
das, was die Naturvölker mit ihrer Haut anfangen, mutatis mutandis, dem entspricht,
was wir mit unserer Kleidung unternehmen. Der Mehinaku zählt an den Ecken
seines Tätowiermusters ab, unsereins an den Westenknöpfen. Die Männer hatten

Kunst gar nicht befassten. Von Zufall kann man aber nicht reden, weil die
Gewohnheit des medizinischen Wundkratzens die Nebenerfahrung der Färbung
notwendig hervorrufen musste. Die zielbewusste Verwendung ist Sache späterer
Vorstellungen. Auch die Tätowierung wird zur künstlichen Methode und zum
auszeichnenden Hilfsmittel, das auf der Haut angebracht wird, wo keine Kleidung
vorhanden ist. Nichts ist natürlicher als dass die Tätowierung in dem Masse
zurücktritt, als die Kleidung erscheint und bequemere Wege zu gleichen Zwecken
eröffnet. Der zahme Bakaïrí Felipe aus dem Paranatingadorf, Leutnant der bra-
silischen Miliz und im Besitz eines
Patents und einer ausrangierten
galonierten Uniform, hatte nach
unserer ersten Expedition mit An-
tonio die wiedergefundenen Namens-
brüder besucht; er erzählte mir, dass
man ihn aufgefordert habe, zu den
Kustenaú zu gehen und sich täto-
wieren zu lassen. »Aber ich wollte
nicht«, sagte er mir, »ich habe ja
meine Galons«.

Die Tätowierung ist auf die
Nu-Aruakstämme, also die Mehi-
nakú, Kustenaú, Waurá und Yaula-
piti beschränkt, — auf Stämme,
die sich den Körper mit Vorliebe
schwärzen, die also die Färbung der
Kratzstriche am besten beobachten
konnten — und wird gelegentlich
von den benachbarten Bakaïrí in
Anspruch genommen. Sie wird
mit dem Dorn einer Bromelia,
Gravatá, oder dem Zahn des
Hundsfisches in frühem Kindes-

[Abbildung]
[Abbildung] Abb. 16.

Kamayuráfrau mit Ritznarben.

alter ausgeführt; zur Farbe dient Russ oder der Saft der Tarumáfrucht.

Nur ein einziges Mal haben wir eine künstlerische Tätowierung gesehen; ein
Häuptling der Mehinakú hatte auf jeder Seite der Brust die Raute des Mereschu-
Fisches auftätowiert; von der obern und äussern Ecke der Raute verlief noch
eine Doppellinie zur Schulter hinauf. Indem er uns stolz die Stämme aufzählte,
die ihn kannten, deutete er jedesmal auf eine Ecke der Raute; ich nehme auch
diesen kleinen humoristischen Zug zu Gunsten meiner Meinung in Anspruch, dass
das, was die Naturvölker mit ihrer Haut anfangen, mutatis mutandis, dem entspricht,
was wir mit unserer Kleidung unternehmen. Der Mehinakú zählt an den Ecken
seines Tätowiermusters ab, unsereins an den Westenknöpfen. Die Männer hatten

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[189/0233] Kunst gar nicht befassten. Von Zufall kann man aber nicht reden, weil die Gewohnheit des medizinischen Wundkratzens die Nebenerfahrung der Färbung notwendig hervorrufen musste. Die zielbewusste Verwendung ist Sache späterer Vorstellungen. Auch die Tätowierung wird zur künstlichen Methode und zum auszeichnenden Hilfsmittel, das auf der Haut angebracht wird, wo keine Kleidung vorhanden ist. Nichts ist natürlicher als dass die Tätowierung in dem Masse zurücktritt, als die Kleidung erscheint und bequemere Wege zu gleichen Zwecken eröffnet. Der zahme Bakaïrí Felipe aus dem Paranatingadorf, Leutnant der bra- silischen Miliz und im Besitz eines Patents und einer ausrangierten galonierten Uniform, hatte nach unserer ersten Expedition mit An- tonio die wiedergefundenen Namens- brüder besucht; er erzählte mir, dass man ihn aufgefordert habe, zu den Kustenaú zu gehen und sich täto- wieren zu lassen. »Aber ich wollte nicht«, sagte er mir, »ich habe ja meine Galons«. Die Tätowierung ist auf die Nu-Aruakstämme, also die Mehi- nakú, Kustenaú, Waurá und Yaula- piti beschränkt, — auf Stämme, die sich den Körper mit Vorliebe schwärzen, die also die Färbung der Kratzstriche am besten beobachten konnten — und wird gelegentlich von den benachbarten Bakaïrí in Anspruch genommen. Sie wird mit dem Dorn einer Bromelia, Gravatá, oder dem Zahn des Hundsfisches in frühem Kindes- [Abbildung] [Abbildung Abb. 16. Kamayuráfrau mit Ritznarben.] alter ausgeführt; zur Farbe dient Russ oder der Saft der Tarumáfrucht. Nur ein einziges Mal haben wir eine künstlerische Tätowierung gesehen; ein Häuptling der Mehinakú hatte auf jeder Seite der Brust die Raute des Mereschu- Fisches auftätowiert; von der obern und äussern Ecke der Raute verlief noch eine Doppellinie zur Schulter hinauf. Indem er uns stolz die Stämme aufzählte, die ihn kannten, deutete er jedesmal auf eine Ecke der Raute; ich nehme auch diesen kleinen humoristischen Zug zu Gunsten meiner Meinung in Anspruch, dass das, was die Naturvölker mit ihrer Haut anfangen, mutatis mutandis, dem entspricht, was wir mit unserer Kleidung unternehmen. Der Mehinakú zählt an den Ecken seines Tätowiermusters ab, unsereins an den Westenknöpfen. Die Männer hatten

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 189. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/233>, abgerufen am 23.11.2024.