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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Am merkwürdigsten, gewiss auch kein Zeitvertreib, ist das Ausrupfen der
Wimpern, weil diese, man darf wohl sagen, Operation ganz allgemein und schon
bei den kleinen Kindern beiderlei Geschlechts ausgeübt wird und mit Stammes-
und Geschlechtsunterschieden nicht in Zusammenhang gebracht werden kann.*)

Ist das Auge aller Menschen wertvollstes Organ, so sind diese nach Tieren
und Früchten spürenden Waldbewohner darauf im denkbar höchsten Grade an-
gewiesen. Nie habe ich einen Indianer jammern und winseln hören wie den
seine Blindheit beklagenden Häuptling der Yaulapiti. Darum braucht man aber
in der Behandlung nicht die uns richtig erscheinende Einsicht zu entwickeln.
Weil Tabakrauch das beste ärztliche Mittel ist, wird eine stark entzündete Binde-
haut nach Kräften voller Rauch geblasen. So liegt auch der Gedanke, dass die
Wimpern das Auge schützen, den Indianern ganz fern. Sie erklären, das Auge werde
durch die Wimpern am Sehen behindert, namentlich, wenn sie scharf in die Ferne
sehen wollten. Dass sie bemüht sind, nach ihrem besten Wissen für das edle Organ
zu sorgen, geht daraus hervor, dass dem Knaben, der ein sicherer Bogenschütze
werden soll, die Umgebung des Auges mit dem Wundkratzer blutig geritzt wird --
natürlich, weil man an diese "Medizin" glaubt und nicht, weil man ihn abhärten
will. Gerade bei den Wimpern ist das grausam erscheinende Ausrupfen, weil
radikal, ein noch relativ mildes Verfahren. Denn Schneiden und Rasieren am
Lidrand mit Fischzähnen und Muscheln zu ertragen wäre in der That ein
Heroismus.

Die Haut. Die Haut wird durchbohrt, um Schmuck aufzunehmen, sie wird
mit Farbe bestrichen und wird mit Stacheln oder Zähnen geritzt. Die beiden
letzteren Methoden entwickeln sich zu künstlerischer Behandlung, zur Körper-
bemalung oder zur Tätowirung -- wissen möchte man nur, welche ursprünglichen
Zwecke zu Grunde liegen.

Wenn wir bei uns verweichlichten zivilisierten Menschen im Groben und
Feinen noch an tausend Beispielen beobachten, bis zu welchem Grade Gefallsucht
und Eitelkeit den Sieg über körperliches Unbehagen davonzutragen pflegen, so
werden wir uns nicht wundern, dass die Eitelkeit der Naturvölker noch etwas
rücksichtsloser verfahrt. Der Hauptunterschied zwischen uns und ihnen ist nur
der, dass sie an der Haut thun müssen, was wir an den Kleidern thun können.
Dann aber ist es bei ihnen überall zunächst der Mann gewesen, der sich ge-
schmückt hat. Er hat damit als Jäger angefangen und, da es die Jäger-Eitelkeit
zu erklären gilt, dürfen wir schliessen, dass der Mensch zuerst den Begriff der
Trophäe entwickelte, indem er sich von den Teilen der Beute, die ungeniessbar

*) Den Naturvölkern wird etwas gar zu häufig das Bedürfnis der Abhärtung zugeschrieben, aber
ich habe nicht gesehen, dass man die Kinder abhärtete. Die Herren Väter, von den Müttern nicht zu
reden, neigten eher zur Sentimentalität als zur Strenge ihren sehr eigenwilligen Sprässlingen gegen-
über, die nicht schreien durften, ohne dass es auch den Eltern bitter wehthat. Man fügte ihnen mit
Bestimmtheit nur Schmerzen zu, wenn man es zu ihrem Besten zu thun glaubte, man war immer um
ihre Gesundheit aufs Aeusserste besorgt und behing sie mit Amuletten.

Am merkwürdigsten, gewiss auch kein Zeitvertreib, ist das Ausrupfen der
Wimpern, weil diese, man darf wohl sagen, Operation ganz allgemein und schon
bei den kleinen Kindern beiderlei Geschlechts ausgeübt wird und mit Stammes-
und Geschlechtsunterschieden nicht in Zusammenhang gebracht werden kann.*)

Ist das Auge aller Menschen wertvollstes Organ, so sind diese nach Tieren
und Früchten spürenden Waldbewohner darauf im denkbar höchsten Grade an-
gewiesen. Nie habe ich einen Indianer jammern und winseln hören wie den
seine Blindheit beklagenden Häuptling der Yaulapiti. Darum braucht man aber
in der Behandlung nicht die uns richtig erscheinende Einsicht zu entwickeln.
Weil Tabakrauch das beste ärztliche Mittel ist, wird eine stark entzündete Binde-
haut nach Kräften voller Rauch geblasen. So liegt auch der Gedanke, dass die
Wimpern das Auge schützen, den Indianern ganz fern. Sie erklären, das Auge werde
durch die Wimpern am Sehen behindert, namentlich, wenn sie scharf in die Ferne
sehen wollten. Dass sie bemüht sind, nach ihrem besten Wissen für das edle Organ
zu sorgen, geht daraus hervor, dass dem Knaben, der ein sicherer Bogenschütze
werden soll, die Umgebung des Auges mit dem Wundkratzer blutig geritzt wird —
natürlich, weil man an diese »Medizin« glaubt und nicht, weil man ihn abhärten
will. Gerade bei den Wimpern ist das grausam erscheinende Ausrupfen, weil
radikal, ein noch relativ mildes Verfahren. Denn Schneiden und Rasieren am
Lidrand mit Fischzähnen und Muscheln zu ertragen wäre in der That ein
Heroismus.

Die Haut. Die Haut wird durchbohrt, um Schmuck aufzunehmen, sie wird
mit Farbe bestrichen und wird mit Stacheln oder Zähnen geritzt. Die beiden
letzteren Methoden entwickeln sich zu künstlerischer Behandlung, zur Körper-
bemalung oder zur Tätowirung — wissen möchte man nur, welche ursprünglichen
Zwecke zu Grunde liegen.

Wenn wir bei uns verweichlichten zivilisierten Menschen im Groben und
Feinen noch an tausend Beispielen beobachten, bis zu welchem Grade Gefallsucht
und Eitelkeit den Sieg über körperliches Unbehagen davonzutragen pflegen, so
werden wir uns nicht wundern, dass die Eitelkeit der Naturvölker noch etwas
rücksichtsloser verfahrt. Der Hauptunterschied zwischen uns und ihnen ist nur
der, dass sie an der Haut thun müssen, was wir an den Kleidern thun können.
Dann aber ist es bei ihnen überall zunächst der Mann gewesen, der sich ge-
schmückt hat. Er hat damit als Jäger angefangen und, da es die Jäger-Eitelkeit
zu erklären gilt, dürfen wir schliessen, dass der Mensch zuerst den Begriff der
Trophäe entwickelte, indem er sich von den Teilen der Beute, die ungeniessbar

*) Den Naturvölkern wird etwas gar zu häufig das Bedürfnis der Abhärtung zugeschrieben, aber
ich habe nicht gesehen, dass man die Kinder abhärtete. Die Herren Väter, von den Müttern nicht zu
reden, neigten eher zur Sentimentalität als zur Strenge ihren sehr eigenwilligen Sprässlingen gegen-
über, die nicht schreien durften, ohne dass es auch den Eltern bitter wehthat. Man fügte ihnen mit
Bestimmtheit nur Schmerzen zu, wenn man es zu ihrem Besten zu thun glaubte, man war immer um
ihre Gesundheit aufs Aeusserste besorgt und behing sie mit Amuletten.
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[178/0222] Am merkwürdigsten, gewiss auch kein Zeitvertreib, ist das Ausrupfen der Wimpern, weil diese, man darf wohl sagen, Operation ganz allgemein und schon bei den kleinen Kindern beiderlei Geschlechts ausgeübt wird und mit Stammes- und Geschlechtsunterschieden nicht in Zusammenhang gebracht werden kann. *) Ist das Auge aller Menschen wertvollstes Organ, so sind diese nach Tieren und Früchten spürenden Waldbewohner darauf im denkbar höchsten Grade an- gewiesen. Nie habe ich einen Indianer jammern und winseln hören wie den seine Blindheit beklagenden Häuptling der Yaulapiti. Darum braucht man aber in der Behandlung nicht die uns richtig erscheinende Einsicht zu entwickeln. Weil Tabakrauch das beste ärztliche Mittel ist, wird eine stark entzündete Binde- haut nach Kräften voller Rauch geblasen. So liegt auch der Gedanke, dass die Wimpern das Auge schützen, den Indianern ganz fern. Sie erklären, das Auge werde durch die Wimpern am Sehen behindert, namentlich, wenn sie scharf in die Ferne sehen wollten. Dass sie bemüht sind, nach ihrem besten Wissen für das edle Organ zu sorgen, geht daraus hervor, dass dem Knaben, der ein sicherer Bogenschütze werden soll, die Umgebung des Auges mit dem Wundkratzer blutig geritzt wird — natürlich, weil man an diese »Medizin« glaubt und nicht, weil man ihn abhärten will. Gerade bei den Wimpern ist das grausam erscheinende Ausrupfen, weil radikal, ein noch relativ mildes Verfahren. Denn Schneiden und Rasieren am Lidrand mit Fischzähnen und Muscheln zu ertragen wäre in der That ein Heroismus. Die Haut. Die Haut wird durchbohrt, um Schmuck aufzunehmen, sie wird mit Farbe bestrichen und wird mit Stacheln oder Zähnen geritzt. Die beiden letzteren Methoden entwickeln sich zu künstlerischer Behandlung, zur Körper- bemalung oder zur Tätowirung — wissen möchte man nur, welche ursprünglichen Zwecke zu Grunde liegen. Wenn wir bei uns verweichlichten zivilisierten Menschen im Groben und Feinen noch an tausend Beispielen beobachten, bis zu welchem Grade Gefallsucht und Eitelkeit den Sieg über körperliches Unbehagen davonzutragen pflegen, so werden wir uns nicht wundern, dass die Eitelkeit der Naturvölker noch etwas rücksichtsloser verfahrt. Der Hauptunterschied zwischen uns und ihnen ist nur der, dass sie an der Haut thun müssen, was wir an den Kleidern thun können. Dann aber ist es bei ihnen überall zunächst der Mann gewesen, der sich ge- schmückt hat. Er hat damit als Jäger angefangen und, da es die Jäger-Eitelkeit zu erklären gilt, dürfen wir schliessen, dass der Mensch zuerst den Begriff der Trophäe entwickelte, indem er sich von den Teilen der Beute, die ungeniessbar *) Den Naturvölkern wird etwas gar zu häufig das Bedürfnis der Abhärtung zugeschrieben, aber ich habe nicht gesehen, dass man die Kinder abhärtete. Die Herren Väter, von den Müttern nicht zu reden, neigten eher zur Sentimentalität als zur Strenge ihren sehr eigenwilligen Sprässlingen gegen- über, die nicht schreien durften, ohne dass es auch den Eltern bitter wehthat. Man fügte ihnen mit Bestimmtheit nur Schmerzen zu, wenn man es zu ihrem Besten zu thun glaubte, man war immer um ihre Gesundheit aufs Aeusserste besorgt und behing sie mit Amuletten.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 178. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/222>, abgerufen am 22.11.2024.