Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck. Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die Haut. Durchbohrung. Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung.
Da ich in diesem und dem folgenden Kapitel nach Möglichkeit auf den Ursprung der bei unseren Eingeborenen beobachteten Tracht zurückzugehen suche, möchte ich zwei grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken.
Einmal, ich halte es für einen Irrtum, dass eine aus dem Schamgefühl hervor- gegangene Kleidung dem Menschen zu seinem Menschentum notwendig sei. Die Indianer am oberen Schingu, deren Vertreter für verschiedene Stammesgruppen wir kennen gelernt haben, bedürfen der Kleidung in diesem Sinne nicht, was ich daraus schliesse, dass sie keine solche Kleidung haben. Ihre Vorrichtungen, die wir von unserer Gewöhnung aus als Schamhüllen anzusprechen geneigt wären, sind durch- aus keine Hüllen, und das Schamgefühl, das die Hüllen geschaffen haben soll, ist nicht vorhanden. Schon 1584 schrieb der Jesuitenpater Cardim von brasilischen Eingeborenen: "Alle gehen nackt, so Männer wie Weiber, und haben keinerlei Art von Kleidung und für keinen Fall verecundant, vielmehr scheint es, dass sie in diesem Teil sich im Zustand der Unschuld befinden."
Dann muss ich einigermassen Stellung nehmen zu dem Ursprung des Schmuckes. Es steht fest, dass es heute bei den Naturvölkern zahlreiche Arten von Schmuck giebt, für die kein wirklicher oder eingebildeter Nutzen sichtbar ist und die gegenwärtig ganz und gar nur Zierden sind. Dennoch ist es wohl unmöglich, dass sich die feineren Empfindungen eher geregt haben als die gröberen. Der Jäger hat sich erst mit den Federn der erbeuteten Vögel geschmückt, ehe er sich Blumen pflückte. Ehe er sich aber Vögel schoss, um sich mit den Federn zu schmücken, hat er Vögel geschossen, um sie zu essen. Er hat sich von altersher den nackten Leib mit bunten Lehmen angestrichen. Es ist wahr, die schönen Farben liegen in der Natur am Ufer, und man ist tagtäglich hinein- getreten. Aber sollte es dem Menschen nicht eher aufgefallen sein, dass der nasse Lehm die Haut kühlte oder dass die Moskitos nicht mehr stachen, als dass er bemerkte, wie sein Fuss an Schönheit gewonnen hatte? Ich glaube, dass er
IX. KAPITEL.
I. Die Tracht: Haar und Haut.
Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck. Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die Haut. Durchbohrung. Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung.
Da ich in diesem und dem folgenden Kapitel nach Möglichkeit auf den Ursprung der bei unseren Eingeborenen beobachteten Tracht zurückzugehen suche, möchte ich zwei grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken.
Einmal, ich halte es für einen Irrtum, dass eine aus dem Schamgefühl hervor- gegangene Kleidung dem Menschen zu seinem Menschentum notwendig sei. Die Indianer am oberen Schingú, deren Vertreter für verschiedene Stammesgruppen wir kennen gelernt haben, bedürfen der Kleidung in diesem Sinne nicht, was ich daraus schliesse, dass sie keine solche Kleidung haben. Ihre Vorrichtungen, die wir von unserer Gewöhnung aus als Schamhüllen anzusprechen geneigt wären, sind durch- aus keine Hüllen, und das Schamgefühl, das die Hüllen geschaffen haben soll, ist nicht vorhanden. Schon 1584 schrieb der Jesuitenpater Cardim von brasilischen Eingeborenen: »Alle gehen nackt, so Männer wie Weiber, und haben keinerlei Art von Kleidung und für keinen Fall verecundant, vielmehr scheint es, dass sie in diesem Teil sich im Zustand der Unschuld befinden.«
Dann muss ich einigermassen Stellung nehmen zu dem Ursprung des Schmuckes. Es steht fest, dass es heute bei den Naturvölkern zahlreiche Arten von Schmuck giebt, für die kein wirklicher oder eingebildeter Nutzen sichtbar ist und die gegenwärtig ganz und gar nur Zierden sind. Dennoch ist es wohl unmöglich, dass sich die feineren Empfindungen eher geregt haben als die gröberen. Der Jäger hat sich erst mit den Federn der erbeuteten Vögel geschmückt, ehe er sich Blumen pflückte. Ehe er sich aber Vögel schoss, um sich mit den Federn zu schmücken, hat er Vögel geschossen, um sie zu essen. Er hat sich von altersher den nackten Leib mit bunten Lehmen angestrichen. Es ist wahr, die schönen Farben liegen in der Natur am Ufer, und man ist tagtäglich hinein- getreten. Aber sollte es dem Menschen nicht eher aufgefallen sein, dass der nasse Lehm die Haut kühlte oder dass die Moskitos nicht mehr stachen, als dass er bemerkte, wie sein Fuss an Schönheit gewonnen hatte? Ich glaube, dass er
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IX. KAPITEL.
I. Die Tracht: Haar und Haut.
Vorbemerkung über Kleidung und Schmuck. Das Haar. Haupthaar, Körperhaar, Wimpern. Die
Haut. Durchbohrung. Umschnürung. Ketten. Anstreichen und Bemalen. Ritznarben. Tätowierung.
Da ich in diesem und dem folgenden Kapitel nach Möglichkeit auf den
Ursprung der bei unseren Eingeborenen beobachteten Tracht zurückzugehen
suche, möchte ich zwei grundsätzliche Bemerkungen vorausschicken.
Einmal, ich halte es für einen Irrtum, dass eine aus dem Schamgefühl hervor-
gegangene Kleidung dem Menschen zu seinem Menschentum notwendig sei. Die
Indianer am oberen Schingú, deren Vertreter für verschiedene Stammesgruppen wir
kennen gelernt haben, bedürfen der Kleidung in diesem Sinne nicht, was ich daraus
schliesse, dass sie keine solche Kleidung haben. Ihre Vorrichtungen, die wir von
unserer Gewöhnung aus als Schamhüllen anzusprechen geneigt wären, sind durch-
aus keine Hüllen, und das Schamgefühl, das die Hüllen geschaffen haben soll, ist
nicht vorhanden. Schon 1584 schrieb der Jesuitenpater Cardim von brasilischen
Eingeborenen: »Alle gehen nackt, so Männer wie Weiber, und haben keinerlei
Art von Kleidung und für keinen Fall verecundant, vielmehr scheint es, dass sie
in diesem Teil sich im Zustand der Unschuld befinden.«
Dann muss ich einigermassen Stellung nehmen zu dem Ursprung des
Schmuckes. Es steht fest, dass es heute bei den Naturvölkern zahlreiche Arten
von Schmuck giebt, für die kein wirklicher oder eingebildeter Nutzen sichtbar
ist und die gegenwärtig ganz und gar nur Zierden sind. Dennoch ist es wohl
unmöglich, dass sich die feineren Empfindungen eher geregt haben als die gröberen.
Der Jäger hat sich erst mit den Federn der erbeuteten Vögel geschmückt, ehe
er sich Blumen pflückte. Ehe er sich aber Vögel schoss, um sich mit den
Federn zu schmücken, hat er Vögel geschossen, um sie zu essen. Er hat sich
von altersher den nackten Leib mit bunten Lehmen angestrichen. Es ist wahr,
die schönen Farben liegen in der Natur am Ufer, und man ist tagtäglich hinein-
getreten. Aber sollte es dem Menschen nicht eher aufgefallen sein, dass der
nasse Lehm die Haut kühlte oder dass die Moskitos nicht mehr stachen, als dass
er bemerkte, wie sein Fuss an Schönheit gewonnen hatte? Ich glaube, dass er
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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. [173]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/215>, abgerufen am 03.12.2024.
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