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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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anderes übrig als zunächst die sprachlichen Verwandtschaften festzustellen.
Man braucht sie mit Blutverwandtschaften nicht zu verwechseln. Allein unter den
kleinen einfachen Verhältnissen, um die es sich hier handelt, decken sich Sprach-
verwandtschaft und Blutverwandtschaft weit mehr als bei höher zivilisierten Völkern,
die eine durch die Schrift zu festem Gepräge ausgestaltete Sprache besitzen.
Wenn in eine dieser Familiengemeinschaften ein paar fremde Individuen ein-
treten, so werden sie, das ist ohne Weiteres zuzugeben, eine Kreuzung ver-
anlassen, die durch das Studium der Sprache nicht verraten wird. Aber Ver-
mischungen in grösserem Umfang verändern auch die Sprache gewaltig. Die
fremden Frauen, die Mütter werden, üben einen Einfluss auf die Sprache der
Kinder aus, der z. B. in dem Inselkaraibischen handgreiflich hervortritt. Die
Kinder der Karaibenmänner und Aruakfrauen sprachen keineswegs karaibisch, wie
die jungen Mulatten in Brasilien portugiesisch sprechen, sondern redeten eine neue
Sprache, die wichtige grammatikalische Elemente und lautliche Besonderheiten von
den Müttern aufgenommen hatte. Das ist auch wenig wunderbar, denn die Kultur-
unterschiede zwischen den beiden Stämmen waren nicht wesentlich, die Zahl der
fremden Frauen war gross und diese brachten alle lokale Tradition, da die er-
obernden Männer von aussen kamen, mit in die Ehe. Die Kinder waren genötigt,
sich sowohl für den Sprachstoff nach Vater- und Mutterseite hin auszugleichen,
als auch zwischen den von hier und dort gebotenen Präfixen oder Suffixen, die
für die Veränderung der Wortwurzeln durch den Einfluss auf den Stammanlaut
oder den Stammauslaut von entscheidender Bedeutung sind, eine Auswahl zu
treffen, und erfuhren die noch durch keine Schulmeisterkultur gezähmte, sondern
in freiem Leben thätige Wechselwirkung der bisher bei den zwei elterlichen
Stämmen geltenden Lautgesetze. Bei diesen Naturvölkern wird im Groben das
Mass der sprachlichen Differenzierung auch das Mass der anthropologischen
Differenzierung sein.

Wenn wir uns nach den Sprachverwandtschaften der Kulisehu- "Stämme"
umsehen und dadurch eine Reduktion der Liste gewinnen wollten, so müssen
wir einen Augenblick bei den im übrigen Brasilien vorkommenden linguistischen
Gruppen verweilen.

Es giebt noch zahlreiche einzelne Stämme, die, sei es, dass ihre Sprach-
verwandten nicht mehr leben, sei es, dass wir sie nicht kennen, isolierte Sprachen
reden. Hierher haben wir vorläufig, um sie gleich aus dem Wege zu räumen,
die Trumai zu rechnen. Es ist mir nicht gelungen, sie irgendwo in der Nähe
oder in der Ferne unterzubringen. Sie haben eine Menge Kulturwörter von ihren
Nachbarn, den Kamayura und Auetö entlehnt, aber der Kern und das Wesen
des Idioms ist eigenartig und andern Ursprungs, wie auch der leibliche Typus von
allen Kulisehu-Stämmen abweicht.

Von den Kordilleren bis zum Atlantischen Ozean, vom La Platz bis zu den
Antillen sind vier grosse Sprachfamilien verbreitet: Tapuya, Tupi, Karaiben
und Nu-Aruak.


anderes übrig als zunächst die sprachlichen Verwandtschaften festzustellen.
Man braucht sie mit Blutverwandtschaften nicht zu verwechseln. Allein unter den
kleinen einfachen Verhältnissen, um die es sich hier handelt, decken sich Sprach-
verwandtschaft und Blutverwandtschaft weit mehr als bei höher zivilisierten Völkern,
die eine durch die Schrift zu festem Gepräge ausgestaltete Sprache besitzen.
Wenn in eine dieser Familiengemeinschaften ein paar fremde Individuen ein-
treten, so werden sie, das ist ohne Weiteres zuzugeben, eine Kreuzung ver-
anlassen, die durch das Studium der Sprache nicht verraten wird. Aber Ver-
mischungen in grösserem Umfang verändern auch die Sprache gewaltig. Die
fremden Frauen, die Mütter werden, üben einen Einfluss auf die Sprache der
Kinder aus, der z. B. in dem Inselkaraibischen handgreiflich hervortritt. Die
Kinder der Karaibenmänner und Aruakfrauen sprachen keineswegs karaibisch, wie
die jungen Mulatten in Brasilien portugiesisch sprechen, sondern redeten eine neue
Sprache, die wichtige grammatikalische Elemente und lautliche Besonderheiten von
den Müttern aufgenommen hatte. Das ist auch wenig wunderbar, denn die Kultur-
unterschiede zwischen den beiden Stämmen waren nicht wesentlich, die Zahl der
fremden Frauen war gross und diese brachten alle lokale Tradition, da die er-
obernden Männer von aussen kamen, mit in die Ehe. Die Kinder waren genötigt,
sich sowohl für den Sprachstoff nach Vater- und Mutterseite hin auszugleichen,
als auch zwischen den von hier und dort gebotenen Präfixen oder Suffixen, die
für die Veränderung der Wortwurzeln durch den Einfluss auf den Stammanlaut
oder den Stammauslaut von entscheidender Bedeutung sind, eine Auswahl zu
treffen, und erfuhren die noch durch keine Schulmeisterkultur gezähmte, sondern
in freiem Leben thätige Wechselwirkung der bisher bei den zwei elterlichen
Stämmen geltenden Lautgesetze. Bei diesen Naturvölkern wird im Groben das
Mass der sprachlichen Differenzierung auch das Mass der anthropologischen
Differenzierung sein.

Wenn wir uns nach den Sprachverwandtschaften der Kulisehu- »Stämme«
umsehen und dadurch eine Reduktion der Liste gewinnen wollten, so müssen
wir einen Augenblick bei den im übrigen Brasilien vorkommenden linguistischen
Gruppen verweilen.

Es giebt noch zahlreiche einzelne Stämme, die, sei es, dass ihre Sprach-
verwandten nicht mehr leben, sei es, dass wir sie nicht kennen, isolierte Sprachen
reden. Hierher haben wir vorläufig, um sie gleich aus dem Wege zu räumen,
die Trumaí zu rechnen. Es ist mir nicht gelungen, sie irgendwo in der Nähe
oder in der Ferne unterzubringen. Sie haben eine Menge Kulturwörter von ihren
Nachbarn, den Kamayurá und Auetö́ entlehnt, aber der Kern und das Wesen
des Idioms ist eigenartig und andern Ursprungs, wie auch der leibliche Typus von
allen Kulisehu-Stämmen abweicht.

Von den Kordilleren bis zum Atlantischen Ozean, vom La Platz bis zu den
Antillen sind vier grosse Sprachfamilien verbreitet: Tapuya, Tupí, Karaiben
und Nu-Aruak.


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[156/0196] anderes übrig als zunächst die sprachlichen Verwandtschaften festzustellen. Man braucht sie mit Blutverwandtschaften nicht zu verwechseln. Allein unter den kleinen einfachen Verhältnissen, um die es sich hier handelt, decken sich Sprach- verwandtschaft und Blutverwandtschaft weit mehr als bei höher zivilisierten Völkern, die eine durch die Schrift zu festem Gepräge ausgestaltete Sprache besitzen. Wenn in eine dieser Familiengemeinschaften ein paar fremde Individuen ein- treten, so werden sie, das ist ohne Weiteres zuzugeben, eine Kreuzung ver- anlassen, die durch das Studium der Sprache nicht verraten wird. Aber Ver- mischungen in grösserem Umfang verändern auch die Sprache gewaltig. Die fremden Frauen, die Mütter werden, üben einen Einfluss auf die Sprache der Kinder aus, der z. B. in dem Inselkaraibischen handgreiflich hervortritt. Die Kinder der Karaibenmänner und Aruakfrauen sprachen keineswegs karaibisch, wie die jungen Mulatten in Brasilien portugiesisch sprechen, sondern redeten eine neue Sprache, die wichtige grammatikalische Elemente und lautliche Besonderheiten von den Müttern aufgenommen hatte. Das ist auch wenig wunderbar, denn die Kultur- unterschiede zwischen den beiden Stämmen waren nicht wesentlich, die Zahl der fremden Frauen war gross und diese brachten alle lokale Tradition, da die er- obernden Männer von aussen kamen, mit in die Ehe. Die Kinder waren genötigt, sich sowohl für den Sprachstoff nach Vater- und Mutterseite hin auszugleichen, als auch zwischen den von hier und dort gebotenen Präfixen oder Suffixen, die für die Veränderung der Wortwurzeln durch den Einfluss auf den Stammanlaut oder den Stammauslaut von entscheidender Bedeutung sind, eine Auswahl zu treffen, und erfuhren die noch durch keine Schulmeisterkultur gezähmte, sondern in freiem Leben thätige Wechselwirkung der bisher bei den zwei elterlichen Stämmen geltenden Lautgesetze. Bei diesen Naturvölkern wird im Groben das Mass der sprachlichen Differenzierung auch das Mass der anthropologischen Differenzierung sein. Wenn wir uns nach den Sprachverwandtschaften der Kulisehu- »Stämme« umsehen und dadurch eine Reduktion der Liste gewinnen wollten, so müssen wir einen Augenblick bei den im übrigen Brasilien vorkommenden linguistischen Gruppen verweilen. Es giebt noch zahlreiche einzelne Stämme, die, sei es, dass ihre Sprach- verwandten nicht mehr leben, sei es, dass wir sie nicht kennen, isolierte Sprachen reden. Hierher haben wir vorläufig, um sie gleich aus dem Wege zu räumen, die Trumaí zu rechnen. Es ist mir nicht gelungen, sie irgendwo in der Nähe oder in der Ferne unterzubringen. Sie haben eine Menge Kulturwörter von ihren Nachbarn, den Kamayurá und Auetö́ entlehnt, aber der Kern und das Wesen des Idioms ist eigenartig und andern Ursprungs, wie auch der leibliche Typus von allen Kulisehu-Stämmen abweicht. Von den Kordilleren bis zum Atlantischen Ozean, vom La Platz bis zu den Antillen sind vier grosse Sprachfamilien verbreitet: Tapuya, Tupí, Karaiben und Nu-Aruak.

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 156. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/196>, abgerufen am 06.05.2024.