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Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894.

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Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter-
erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter-
esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn
sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in
einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yelo der wesentlichere Teil ist,
geht daraus hervor, dass sie yelo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich,
der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der
Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden
Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit "Blitz" anstatt mit "Donner".

Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen
wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für "Vogel", das wahrscheinlich
"geflügelt" bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder
tono-, der bei den Bakairi noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa-
geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern
Namen und der allgemeinere Begriff "Papagei" fehlt vollständig, ebenso wie der
Begriff "Palme" fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und
Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass
sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht
bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein-
heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch
bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber
im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem
Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich-
artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer
Gliederung.

Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den
Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte
ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den
Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den
Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakairi-Idylle
etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für
die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es
auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.




v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6

Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter-
erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter-
esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn
sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in
einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yélo der wesentlichere Teil ist,
geht daraus hervor, dass sie yélo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich,
der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der
Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden
Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit »Blitz« anstatt mit »Donner«.

Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen
wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für »Vogel«, das wahrscheinlich
»geflügelt« bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder
tono-, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa-
geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern
Namen und der allgemeinere Begriff »Papagei« fehlt vollständig, ebenso wie der
Begriff »Palme« fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und
Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass
sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht
bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein-
heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch
bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber
im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem
Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich-
artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer
Gliederung.

Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den
Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte
ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den
Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den
Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle
etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für
die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es
auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war.




v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6
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[81/0111] Gewitter und Wolke. Nun sind ja in ihrem Gebiet fast alle Regen mit Gewitter- erscheinungen verbunden, und die Wolke am Himmel hat für sie nur das Inter- esse, dass sie ein heranziehendes Gewitter bedeutet. Dass der Donner, wenn sie die sichtbare und die hörbare Teilerscheinung der elektrischen Entladung in einen Begriff zusammenfassen, in ihrem Wort yélo der wesentlichere Teil ist, geht daraus hervor, dass sie yélo auch das brummende Schwirrholz nennen; ich, der ich von der Idee des Zauberinstrumentes ausging, nach dem Brauch der Mythologen auf das Unheimliche fahndete und dies zunächst in dem zuckenden Strahl erblickte, übersetzte das Wort anfangs mit »Blitz« anstatt mit »Donner«. Die eigentliche Armut steckt in dem Mangel an übergeordneten Begriffen wie bei allen Naturvölkern. Sie haben ein Wort für »Vogel«, das wahrscheinlich »geflügelt« bedeutet, aber die Nordkaraiben haben einen andern Stamm toro- oder tono-, der bei den Bakaïrí noch bestimmte, sehr gewöhnliche Vögel, eine Papa- geien- und eine Waldhuhnart, bedeutet. Jeder Papagei hat seinen besondern Namen und der allgemeinere Begriff »Papagei« fehlt vollständig, ebenso wie der Begriff »Palme« fehlt. Sie kennen aber die Eigenschaften jeder Papageien- und Palmenart sehr genau und kleben so an diesen zahlreichen Einzelkenntnissen, dass sie sich um die gemeinschaftlichen Merkmale, die ja kein Interesse haben, nicht bekümmern. Man sieht also, ihre Armut ist nur eine Armut an höheren Ein- heiten, sie ersticken in der Fülle des Stoffes und können ihn nicht ökonomisch bewirtschaften. Sie haben nur erst einen Verkehr mit Scheidemünze, sind aber im Besitz der Stückzahl eher überreich als arm zu nennen. Sie setzen in dem Ausbau ihrer Gedanken die Begriffe wie zu einem endlos langen Wall von gleich- artigen Steinen zusammen und haben noch kaum eine Ahnung von architektonischer Gliederung. Ihre Schwerfälligkeit, Abstraktionen zu bilden, trat am deutlichsten bei den Versuchen hervor, die ich betreffs ihrer Zählkunst anstellte. Hierüber möchte ich aber in einem besondern Kapitel später berichten, damit ich nun endlich den Faden unserer Reisechronik wieder aufnehmen und zur Independencia zu den Gefährten heimfahren kann. Ich bin bei der Schilderung meiner Bakaïrí-Idylle etwas sehr ausführlich gewesen, erspare damit aber auch manche Einzelheiten für die spätere Darstellung, da das Bild bei den übrigen Stämmen, wenn ich es auch nirgendwo mehr so still geniessen konnte, im Wesentlichen dasselbe war. v. d. Steinen, Zentral-Brasilien. 6

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Zitationshilfe: Steinen, Karl von den: Unter den Naturvölkern Zentral-Brasiliens. Berlin, 1894, S. 81. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/steinen_naturvoelker_1894/111>, abgerufen am 23.11.2024.