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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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Jenes höchste Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaftsordnung
ist nun die volle Freiheit und Selbstthätigkeit der einzelnen Persönlich-
keit. Vermöge dieses Princips fordert sie nun, daß alles dasjenige
geltende Recht, was mit diesem ihrem höchsten Princip in Widerspruch
steht, aufgehoben werde. Sie fordert dieß aber nicht etwa als ein
abstraktes sittliches Princip; die Lehre von der Verfassung zeigt uns
vielmehr ein wesentlich anderes Bild. Jede positive Verfassung ist
nämlich auch ihrerseits nichts als diejenige Gestalt des öffentlichen Rechts,
welche aus dem höchsten Princip einer bestimmten Gesellschaftsordnung
hervorgeht; oder, jede Gesellschaftsordnung hat ihre, durch sie erzeugte
und nur durch sie verständliche Verfassung. Dadurch wird der Staat,
der an sich das Organ der persönlichen Entwicklung überhaupt, als
abstrakter Idee ist, in der Wirklichkeit vielmehr das Organ für die
Vollziehung aller Forderungen der bestimmten Gesellschaftsordnung,
welche in ihm lebt und ihn erfüllt. Vermöge dieses Gesetzes werden
dann die Forderungen der Gesellschaft als Willen des Staats zum gel-
tenden Recht; sie heißen Gesetz und Verordnung. Die staatsbürgerliche
Gesellschaft macht daher ihr Rechtssystem so gut zum geltenden Recht,
wie die Geschlechter- und die Ständeordnung es gethan; an sie schließt
sich daher so gut wie an diese eine reiche, das ganze Leben des Volkes
umfassende, auf jedem Punkte eingreifende Rechtsbildung und Gesetz-
gebung, deren Inhalt es auf jedem Punkte ist, die Bedingungen ihres
höchsten Princips der vollen individuellen Freiheit und Selbstbestimmung
zum geltenden Recht zu machen. Und hier ist nun der Platz, auf welchem
die Entwährung ihre Funktion, ihr Princip, ihr Recht, ja sogar ihr
nunmehr leicht verständliches System empfängt, von dem die unten
folgende Darstellung nur die genauere historische und juristische Aus-
führung enthält.

Es bedarf keiner Erklärung, daß das Rechtsprincip der Geschlechter-
und ständischen Ordnung für Person, Besitz und Arbeit in direktem
Widerspruch mit dem der staatsbürgerlichen Ordnung steht. Die erste
und unabweisbarste Aufgabe der letzteren ist es daher, dieß Rechts-
system der beiden andern Gesellschaftsordnungen, so weit es die freie
Selbstthätigkeit des Einzelnen rechtlich hemmt, aufzuheben und eine
Ordnung der Personen, des Besitzes und der Arbeit an die Stelle zu
setzen, deren Princip und Inhalt durch die Gesammtheit derjenigen
Bedingungen gebildet werden, welche eben jene selbständige individuelle
Freiheit möglich machen. So entstehen jene gewaltigen, in das Leben
der Völker auf das Tiefste eingreifenden Maßregeln, die wir gleich
bezeichnen werden, und die die Geschichte mit ganz bestimmten Namen
benannt hat. Allein die Entlastungen, die Gewerbefreiheit, die

Jenes höchſte Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung
iſt nun die volle Freiheit und Selbſtthätigkeit der einzelnen Perſönlich-
keit. Vermöge dieſes Princips fordert ſie nun, daß alles dasjenige
geltende Recht, was mit dieſem ihrem höchſten Princip in Widerſpruch
ſteht, aufgehoben werde. Sie fordert dieß aber nicht etwa als ein
abſtraktes ſittliches Princip; die Lehre von der Verfaſſung zeigt uns
vielmehr ein weſentlich anderes Bild. Jede poſitive Verfaſſung iſt
nämlich auch ihrerſeits nichts als diejenige Geſtalt des öffentlichen Rechts,
welche aus dem höchſten Princip einer beſtimmten Geſellſchaftsordnung
hervorgeht; oder, jede Geſellſchaftsordnung hat ihre, durch ſie erzeugte
und nur durch ſie verſtändliche Verfaſſung. Dadurch wird der Staat,
der an ſich das Organ der perſönlichen Entwicklung überhaupt, als
abſtrakter Idee iſt, in der Wirklichkeit vielmehr das Organ für die
Vollziehung aller Forderungen der beſtimmten Geſellſchaftsordnung,
welche in ihm lebt und ihn erfüllt. Vermöge dieſes Geſetzes werden
dann die Forderungen der Geſellſchaft als Willen des Staats zum gel-
tenden Recht; ſie heißen Geſetz und Verordnung. Die ſtaatsbürgerliche
Geſellſchaft macht daher ihr Rechtsſyſtem ſo gut zum geltenden Recht,
wie die Geſchlechter- und die Ständeordnung es gethan; an ſie ſchließt
ſich daher ſo gut wie an dieſe eine reiche, das ganze Leben des Volkes
umfaſſende, auf jedem Punkte eingreifende Rechtsbildung und Geſetz-
gebung, deren Inhalt es auf jedem Punkte iſt, die Bedingungen ihres
höchſten Princips der vollen individuellen Freiheit und Selbſtbeſtimmung
zum geltenden Recht zu machen. Und hier iſt nun der Platz, auf welchem
die Entwährung ihre Funktion, ihr Princip, ihr Recht, ja ſogar ihr
nunmehr leicht verſtändliches Syſtem empfängt, von dem die unten
folgende Darſtellung nur die genauere hiſtoriſche und juriſtiſche Aus-
führung enthält.

Es bedarf keiner Erklärung, daß das Rechtsprincip der Geſchlechter-
und ſtändiſchen Ordnung für Perſon, Beſitz und Arbeit in direktem
Widerſpruch mit dem der ſtaatsbürgerlichen Ordnung ſteht. Die erſte
und unabweisbarſte Aufgabe der letzteren iſt es daher, dieß Rechts-
ſyſtem der beiden andern Geſellſchaftsordnungen, ſo weit es die freie
Selbſtthätigkeit des Einzelnen rechtlich hemmt, aufzuheben und eine
Ordnung der Perſonen, des Beſitzes und der Arbeit an die Stelle zu
ſetzen, deren Princip und Inhalt durch die Geſammtheit derjenigen
Bedingungen gebildet werden, welche eben jene ſelbſtändige individuelle
Freiheit möglich machen. So entſtehen jene gewaltigen, in das Leben
der Völker auf das Tiefſte eingreifenden Maßregeln, die wir gleich
bezeichnen werden, und die die Geſchichte mit ganz beſtimmten Namen
benannt hat. Allein die Entlaſtungen, die Gewerbefreiheit, die

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[75/0093] Jenes höchſte Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaftsordnung iſt nun die volle Freiheit und Selbſtthätigkeit der einzelnen Perſönlich- keit. Vermöge dieſes Princips fordert ſie nun, daß alles dasjenige geltende Recht, was mit dieſem ihrem höchſten Princip in Widerſpruch ſteht, aufgehoben werde. Sie fordert dieß aber nicht etwa als ein abſtraktes ſittliches Princip; die Lehre von der Verfaſſung zeigt uns vielmehr ein weſentlich anderes Bild. Jede poſitive Verfaſſung iſt nämlich auch ihrerſeits nichts als diejenige Geſtalt des öffentlichen Rechts, welche aus dem höchſten Princip einer beſtimmten Geſellſchaftsordnung hervorgeht; oder, jede Geſellſchaftsordnung hat ihre, durch ſie erzeugte und nur durch ſie verſtändliche Verfaſſung. Dadurch wird der Staat, der an ſich das Organ der perſönlichen Entwicklung überhaupt, als abſtrakter Idee iſt, in der Wirklichkeit vielmehr das Organ für die Vollziehung aller Forderungen der beſtimmten Geſellſchaftsordnung, welche in ihm lebt und ihn erfüllt. Vermöge dieſes Geſetzes werden dann die Forderungen der Geſellſchaft als Willen des Staats zum gel- tenden Recht; ſie heißen Geſetz und Verordnung. Die ſtaatsbürgerliche Geſellſchaft macht daher ihr Rechtsſyſtem ſo gut zum geltenden Recht, wie die Geſchlechter- und die Ständeordnung es gethan; an ſie ſchließt ſich daher ſo gut wie an dieſe eine reiche, das ganze Leben des Volkes umfaſſende, auf jedem Punkte eingreifende Rechtsbildung und Geſetz- gebung, deren Inhalt es auf jedem Punkte iſt, die Bedingungen ihres höchſten Princips der vollen individuellen Freiheit und Selbſtbeſtimmung zum geltenden Recht zu machen. Und hier iſt nun der Platz, auf welchem die Entwährung ihre Funktion, ihr Princip, ihr Recht, ja ſogar ihr nunmehr leicht verſtändliches Syſtem empfängt, von dem die unten folgende Darſtellung nur die genauere hiſtoriſche und juriſtiſche Aus- führung enthält. Es bedarf keiner Erklärung, daß das Rechtsprincip der Geſchlechter- und ſtändiſchen Ordnung für Perſon, Beſitz und Arbeit in direktem Widerſpruch mit dem der ſtaatsbürgerlichen Ordnung ſteht. Die erſte und unabweisbarſte Aufgabe der letzteren iſt es daher, dieß Rechts- ſyſtem der beiden andern Geſellſchaftsordnungen, ſo weit es die freie Selbſtthätigkeit des Einzelnen rechtlich hemmt, aufzuheben und eine Ordnung der Perſonen, des Beſitzes und der Arbeit an die Stelle zu ſetzen, deren Princip und Inhalt durch die Geſammtheit derjenigen Bedingungen gebildet werden, welche eben jene ſelbſtändige individuelle Freiheit möglich machen. So entſtehen jene gewaltigen, in das Leben der Völker auf das Tiefſte eingreifenden Maßregeln, die wir gleich bezeichnen werden, und die die Geſchichte mit ganz beſtimmten Namen benannt hat. Allein die Entlaſtungen, die Gewerbefreiheit, die

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/93>, abgerufen am 27.04.2024.