Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

oder die nicht minder gründliche und geistvolle Arbeit von G. Schmoller
("Zur Geschichte der nationalen Ansichten in Deutschland während der Re-
formation," 1861). Uns ist es hier nur möglich, den Gang der Lite-
ratur in großen Grundzügen anzugeben; leider haben Sugenheims
Arbeiten ihn von dieser Richtung fern gehalten. Dennoch ist die Sache
selbst so bedeutsam für das innere geistige Leben der Deutschen, daß wir
das Eingehen auf dieselbe für eine, auch der tüchtigsten Kraft würdige
Aufgabe halten.

Denn diese Literatur zeigt uns, daß der deutsche Geist auch in
seinen bedeutendsten Vertretern noch im Beginn unseres Jahrhunderts
ganz unfähig war, sich in der Weise für die freie Entwicklung der
niederen Klasse, ja für die gesellschaftliche Freiheit und das wahre
Staatsbürgerthum zu begeistern, wie der französische. Es ist im Gegen-
theil keinen Augenblick zu verkennen, daß die Deutschen vielmehr mit
der größten Vorsicht, zum Theil auf großer Anschauung, zum Theil
aber auch auf strengen Vorurtheilen beruhend, an die Frage nach der
Befreiung des Bauernstandes gehen. Es liegt auf der ganzen, fast
hundert Jahre dauernden Literatur eine gewisse Kälte, über die wir
staunen müssen; da ist mit gar wenig Ausnahmen nirgends die Rede
von jenen gewaltigen Ideen, welche Frankreich an die Spitze von
Europa hoben; da ist nirgends jener Schwung der Gedanken, nirgends
jene mächtige Rücksichtslosigkeit des Princips, welche Menschen und
Dinge gleichmäßig und unwiderstehlich fortreißt, nirgends daher auch
die Gewalt über Völker und Staaten, wodurch Frankreich sich an die
Spitze der Civilisation emporschwang. Die ganze Frage nach der Be-
freiung des Bauernstandes verläuft ruhig und stückweise, theoretisch
und methodisch; sie ist durch und durch gesättigt mit der an sich sehr
achtbaren Angst, "wohlerworbene Rechte" zu verletzen; sie thut dem
Einen zu wenig, um dem Andern nicht zu viel zu thun, und während
Deutschland in Philosophie, Poesie und gewissenhafter Gelehrsamkeit sich
an die Spitze Europas stellt, ist es in dem Verständniß der entscheiden-
den socialen Fragen so weit hinter dem Westen zurück, daß der Vor-
rang Frankreichs und Englands selbst dem für das deutsche Wesen am
meisten Begeisterten klar war. Lag das an dem tiefen, conservativen,
die ganze Natur des deutschen Volkes durchziehenden Grundzug der Ach-
tung vor dem Unterschied der ständischen oder Geschlechterklassen? Lag
es an dem nicht minder tiefen Bedürfniß desselben, sich über jedes erst
vollständig bewußt sein zu wollen, ehe es mit positiven Maßregeln vor-
geht? Lag es an dem Mangel eines einheitlichen Staats, in dessen Ver-
tretungen sich die Ueberzeugungen zur Begeisterung entzünden? Lag es
an allen diesen Ursachen zugleich? Gewiß ist nur, daß wir auf diesem

oder die nicht minder gründliche und geiſtvolle Arbeit von G. Schmoller
(„Zur Geſchichte der nationalen Anſichten in Deutſchland während der Re-
formation,“ 1861). Uns iſt es hier nur möglich, den Gang der Lite-
ratur in großen Grundzügen anzugeben; leider haben Sugenheims
Arbeiten ihn von dieſer Richtung fern gehalten. Dennoch iſt die Sache
ſelbſt ſo bedeutſam für das innere geiſtige Leben der Deutſchen, daß wir
das Eingehen auf dieſelbe für eine, auch der tüchtigſten Kraft würdige
Aufgabe halten.

Denn dieſe Literatur zeigt uns, daß der deutſche Geiſt auch in
ſeinen bedeutendſten Vertretern noch im Beginn unſeres Jahrhunderts
ganz unfähig war, ſich in der Weiſe für die freie Entwicklung der
niederen Klaſſe, ja für die geſellſchaftliche Freiheit und das wahre
Staatsbürgerthum zu begeiſtern, wie der franzöſiſche. Es iſt im Gegen-
theil keinen Augenblick zu verkennen, daß die Deutſchen vielmehr mit
der größten Vorſicht, zum Theil auf großer Anſchauung, zum Theil
aber auch auf ſtrengen Vorurtheilen beruhend, an die Frage nach der
Befreiung des Bauernſtandes gehen. Es liegt auf der ganzen, faſt
hundert Jahre dauernden Literatur eine gewiſſe Kälte, über die wir
ſtaunen müſſen; da iſt mit gar wenig Ausnahmen nirgends die Rede
von jenen gewaltigen Ideen, welche Frankreich an die Spitze von
Europa hoben; da iſt nirgends jener Schwung der Gedanken, nirgends
jene mächtige Rückſichtsloſigkeit des Princips, welche Menſchen und
Dinge gleichmäßig und unwiderſtehlich fortreißt, nirgends daher auch
die Gewalt über Völker und Staaten, wodurch Frankreich ſich an die
Spitze der Civiliſation emporſchwang. Die ganze Frage nach der Be-
freiung des Bauernſtandes verläuft ruhig und ſtückweiſe, theoretiſch
und methodiſch; ſie iſt durch und durch geſättigt mit der an ſich ſehr
achtbaren Angſt, „wohlerworbene Rechte“ zu verletzen; ſie thut dem
Einen zu wenig, um dem Andern nicht zu viel zu thun, und während
Deutſchland in Philoſophie, Poeſie und gewiſſenhafter Gelehrſamkeit ſich
an die Spitze Europas ſtellt, iſt es in dem Verſtändniß der entſcheiden-
den ſocialen Fragen ſo weit hinter dem Weſten zurück, daß der Vor-
rang Frankreichs und Englands ſelbſt dem für das deutſche Weſen am
meiſten Begeiſterten klar war. Lag das an dem tiefen, conſervativen,
die ganze Natur des deutſchen Volkes durchziehenden Grundzug der Ach-
tung vor dem Unterſchied der ſtändiſchen oder Geſchlechterklaſſen? Lag
es an dem nicht minder tiefen Bedürfniß deſſelben, ſich über jedes erſt
vollſtändig bewußt ſein zu wollen, ehe es mit poſitiven Maßregeln vor-
geht? Lag es an dem Mangel eines einheitlichen Staats, in deſſen Ver-
tretungen ſich die Ueberzeugungen zur Begeiſterung entzünden? Lag es
an allen dieſen Urſachen zugleich? Gewiß iſt nur, daß wir auf dieſem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <p><pb facs="#f0197" n="179"/>
oder die nicht minder gründliche und gei&#x017F;tvolle Arbeit von G. <hi rendition="#g">Schmoller</hi><lb/>
(&#x201E;Zur Ge&#x017F;chichte der nationalen An&#x017F;ichten in Deut&#x017F;chland während der Re-<lb/>
formation,&#x201C; 1861). Uns i&#x017F;t es hier nur möglich, den Gang der Lite-<lb/>
ratur in großen Grundzügen anzugeben; leider haben <hi rendition="#g">Sugenheims</hi><lb/>
Arbeiten ihn von die&#x017F;er Richtung fern gehalten. Dennoch i&#x017F;t die Sache<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;t &#x017F;o bedeut&#x017F;am für das innere gei&#x017F;tige Leben der Deut&#x017F;chen, daß wir<lb/>
das Eingehen auf die&#x017F;elbe für eine, auch der tüchtig&#x017F;ten Kraft würdige<lb/>
Aufgabe halten.</p><lb/>
                  <p>Denn die&#x017F;e Literatur zeigt uns, daß der deut&#x017F;che Gei&#x017F;t auch in<lb/>
&#x017F;einen bedeutend&#x017F;ten Vertretern noch im Beginn un&#x017F;eres Jahrhunderts<lb/><hi rendition="#g">ganz unfähig war</hi>, &#x017F;ich in der Wei&#x017F;e für die freie Entwicklung der<lb/>
niederen Kla&#x017F;&#x017F;e, ja für die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Freiheit und das wahre<lb/>
Staatsbürgerthum zu begei&#x017F;tern, wie der franzö&#x017F;i&#x017F;che. Es i&#x017F;t im Gegen-<lb/>
theil keinen Augenblick zu verkennen, daß die Deut&#x017F;chen vielmehr mit<lb/>
der größten Vor&#x017F;icht, zum Theil auf großer An&#x017F;chauung, zum Theil<lb/>
aber auch auf &#x017F;trengen Vorurtheilen beruhend, an die Frage nach der<lb/>
Befreiung des Bauern&#x017F;tandes gehen. Es liegt auf der ganzen, fa&#x017F;t<lb/>
hundert Jahre dauernden Literatur eine gewi&#x017F;&#x017F;e Kälte, über die wir<lb/>
&#x017F;taunen mü&#x017F;&#x017F;en; da i&#x017F;t mit gar wenig Ausnahmen nirgends die Rede<lb/>
von jenen gewaltigen Ideen, welche Frankreich an die Spitze von<lb/>
Europa hoben; da i&#x017F;t nirgends jener Schwung der Gedanken, nirgends<lb/>
jene mächtige Rück&#x017F;ichtslo&#x017F;igkeit des Princips, welche Men&#x017F;chen und<lb/>
Dinge gleichmäßig und unwider&#x017F;tehlich fortreißt, nirgends daher auch<lb/>
die Gewalt über Völker und Staaten, wodurch Frankreich &#x017F;ich an die<lb/>
Spitze der Civili&#x017F;ation empor&#x017F;chwang. Die ganze Frage nach der Be-<lb/>
freiung des Bauern&#x017F;tandes verläuft ruhig und &#x017F;tückwei&#x017F;e, theoreti&#x017F;ch<lb/>
und methodi&#x017F;ch; &#x017F;ie i&#x017F;t durch und durch ge&#x017F;ättigt mit der an &#x017F;ich &#x017F;ehr<lb/>
achtbaren Ang&#x017F;t, &#x201E;wohlerworbene Rechte&#x201C; zu verletzen; &#x017F;ie thut dem<lb/>
Einen zu wenig, um dem Andern nicht zu viel zu thun, und während<lb/>
Deut&#x017F;chland in Philo&#x017F;ophie, Poe&#x017F;ie und gewi&#x017F;&#x017F;enhafter Gelehr&#x017F;amkeit &#x017F;ich<lb/>
an die Spitze Europas &#x017F;tellt, i&#x017F;t es in dem Ver&#x017F;tändniß der ent&#x017F;cheiden-<lb/>
den &#x017F;ocialen Fragen &#x017F;o weit hinter dem We&#x017F;ten zurück, daß der Vor-<lb/>
rang Frankreichs und Englands &#x017F;elb&#x017F;t dem für das deut&#x017F;che We&#x017F;en am<lb/>
mei&#x017F;ten Begei&#x017F;terten klar war. Lag das an dem tiefen, con&#x017F;ervativen,<lb/>
die ganze Natur des deut&#x017F;chen Volkes durchziehenden Grundzug der Ach-<lb/>
tung vor dem Unter&#x017F;chied der &#x017F;tändi&#x017F;chen oder Ge&#x017F;chlechterkla&#x017F;&#x017F;en? Lag<lb/>
es an dem nicht minder tiefen Bedürfniß de&#x017F;&#x017F;elben, &#x017F;ich über jedes er&#x017F;t<lb/>
voll&#x017F;tändig bewußt &#x017F;ein zu wollen, ehe es mit po&#x017F;itiven Maßregeln vor-<lb/>
geht? Lag es an dem Mangel eines einheitlichen Staats, in de&#x017F;&#x017F;en Ver-<lb/>
tretungen &#x017F;ich die Ueberzeugungen zur Begei&#x017F;terung entzünden? Lag es<lb/>
an allen die&#x017F;en Ur&#x017F;achen zugleich? Gewiß i&#x017F;t nur, daß wir auf die&#x017F;em<lb/></p>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[179/0197] oder die nicht minder gründliche und geiſtvolle Arbeit von G. Schmoller („Zur Geſchichte der nationalen Anſichten in Deutſchland während der Re- formation,“ 1861). Uns iſt es hier nur möglich, den Gang der Lite- ratur in großen Grundzügen anzugeben; leider haben Sugenheims Arbeiten ihn von dieſer Richtung fern gehalten. Dennoch iſt die Sache ſelbſt ſo bedeutſam für das innere geiſtige Leben der Deutſchen, daß wir das Eingehen auf dieſelbe für eine, auch der tüchtigſten Kraft würdige Aufgabe halten. Denn dieſe Literatur zeigt uns, daß der deutſche Geiſt auch in ſeinen bedeutendſten Vertretern noch im Beginn unſeres Jahrhunderts ganz unfähig war, ſich in der Weiſe für die freie Entwicklung der niederen Klaſſe, ja für die geſellſchaftliche Freiheit und das wahre Staatsbürgerthum zu begeiſtern, wie der franzöſiſche. Es iſt im Gegen- theil keinen Augenblick zu verkennen, daß die Deutſchen vielmehr mit der größten Vorſicht, zum Theil auf großer Anſchauung, zum Theil aber auch auf ſtrengen Vorurtheilen beruhend, an die Frage nach der Befreiung des Bauernſtandes gehen. Es liegt auf der ganzen, faſt hundert Jahre dauernden Literatur eine gewiſſe Kälte, über die wir ſtaunen müſſen; da iſt mit gar wenig Ausnahmen nirgends die Rede von jenen gewaltigen Ideen, welche Frankreich an die Spitze von Europa hoben; da iſt nirgends jener Schwung der Gedanken, nirgends jene mächtige Rückſichtsloſigkeit des Princips, welche Menſchen und Dinge gleichmäßig und unwiderſtehlich fortreißt, nirgends daher auch die Gewalt über Völker und Staaten, wodurch Frankreich ſich an die Spitze der Civiliſation emporſchwang. Die ganze Frage nach der Be- freiung des Bauernſtandes verläuft ruhig und ſtückweiſe, theoretiſch und methodiſch; ſie iſt durch und durch geſättigt mit der an ſich ſehr achtbaren Angſt, „wohlerworbene Rechte“ zu verletzen; ſie thut dem Einen zu wenig, um dem Andern nicht zu viel zu thun, und während Deutſchland in Philoſophie, Poeſie und gewiſſenhafter Gelehrſamkeit ſich an die Spitze Europas ſtellt, iſt es in dem Verſtändniß der entſcheiden- den ſocialen Fragen ſo weit hinter dem Weſten zurück, daß der Vor- rang Frankreichs und Englands ſelbſt dem für das deutſche Weſen am meiſten Begeiſterten klar war. Lag das an dem tiefen, conſervativen, die ganze Natur des deutſchen Volkes durchziehenden Grundzug der Ach- tung vor dem Unterſchied der ſtändiſchen oder Geſchlechterklaſſen? Lag es an dem nicht minder tiefen Bedürfniß deſſelben, ſich über jedes erſt vollſtändig bewußt ſein zu wollen, ehe es mit poſitiven Maßregeln vor- geht? Lag es an dem Mangel eines einheitlichen Staats, in deſſen Ver- tretungen ſich die Ueberzeugungen zur Begeiſterung entzünden? Lag es an allen dieſen Urſachen zugleich? Gewiß iſt nur, daß wir auf dieſem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/197
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 179. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/197>, abgerufen am 06.05.2024.