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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

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werden müsse, so daß wenn derselbe keinen klaren Rechtstitel auf jene
Beschränkung habe, der Gutsherr berechtigt sei, unbeschränkte Dienste
und Abgaben zu fordern -- donec probetur contrarium. Die Con-
sequenzen dieses Princips wären wohl sehr ernste gewesen, denn gerade
die ganze erste Kategorie der reinen Lehns- und obrigkeitlichen Abgaben
und Dienste des ursprünglich freien Bauern an den Gutsherrn war
natürlich fast ausnahmslos ohne allen besonderen, nachweisbaren Akt
eingeführt; und wäre Estors Anschauung zur vollen Geltung gelangt,
so würde sie somit nothwendig die ganze persönlich freie Klasse mit
wenig Ausnahmen zu Leibeigenen gemacht haben. Natürlich war diese
Gefahr gerade deßhalb so groß, weil der Grundherr zugleich Polizei
und Gericht besaß, und daher selbst über jenen Beweis der Freiheit
oder Unfreiheit entschied. Die wissenschaftliche Welt fühlte das sehr
wohl. Die Opposition gegen Estor ließ nicht lange auf sich warten.
Schon 1738 schrieb J. Leonh. Hauschild sein opusculum historico-ju-
ridicum de praesumtione pro libertate naturali in causis rusticorum,

worin er freilich mehr aus dem jus naturale als aus der historischen
Auffassung die ursprüngliche Freiheit des Bauernstandes im Gegensatz
zu Estor allgemein behauptete. Estor ließ dann seine Abhandlung mit
einer etwas modificirten Grundlage 1742 wieder erscheinen. (Fischer
citirt andere Ausgabe von 1736; Runde hat nur die beiden von 1734
und 1742.) Dagegen schrieb dann Hauschild wieder 1744 seine Abhand-
lung "Beischriften von Bauern und Frohnden." Estor seinerseits fand
einen Vertheidiger in J. J. Reineccius, Dissertatio de rustico
quondam servo
1749, wogegen A. R. J. Bunnemann seine Ad-
sertio de rusticorum libertate et operis contra Reineccium
1750
erscheinen ließ. Dieser Streit hatte das Gute, daß man allmählig von
den abstracten Behauptungen sowohl über das positive als aus dem
natürlichen Recht abkam, und sich der historischen Grundlage zuwendete.
Allein diese war keineswegs genug bekannt; die alte Geschlechterordnung
mit dem freien Bauernstande des ursprünglichen Dorfes, das allmählige
Auftreten der Herren, die allmählige Verwischung des Unterschiedes
zwischen dem Freibauern und dem Leibeigenen verstand man nicht; eine
größere historische Auffassung fehlte gänzlich, und das darf uns nicht
wundern, wenn wir auch noch heut zu Tage in Facharbeiten die Ge-
lehrsamkeit sich in der Constatirung der einzelnen Thatsachen und Unter-
schiede statt in der Nachweisung jenes großen historischen Processes,
in welchem sie alle auftauchen und verschwinden, sich erschöpfen sehen.
Es entstand daher eine Art von Compromiß in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, der fast in alle Lehrbücher jener Zeit über-
ging, und die Grundlage der Lehre von den bäuerlichen Rechten ward,

werden müſſe, ſo daß wenn derſelbe keinen klaren Rechtstitel auf jene
Beſchränkung habe, der Gutsherr berechtigt ſei, unbeſchränkte Dienſte
und Abgaben zu fordern — donec probetur contrarium. Die Con-
ſequenzen dieſes Princips wären wohl ſehr ernſte geweſen, denn gerade
die ganze erſte Kategorie der reinen Lehns- und obrigkeitlichen Abgaben
und Dienſte des urſprünglich freien Bauern an den Gutsherrn war
natürlich faſt ausnahmslos ohne allen beſonderen, nachweisbaren Akt
eingeführt; und wäre Eſtors Anſchauung zur vollen Geltung gelangt,
ſo würde ſie ſomit nothwendig die ganze perſönlich freie Klaſſe mit
wenig Ausnahmen zu Leibeigenen gemacht haben. Natürlich war dieſe
Gefahr gerade deßhalb ſo groß, weil der Grundherr zugleich Polizei
und Gericht beſaß, und daher ſelbſt über jenen Beweis der Freiheit
oder Unfreiheit entſchied. Die wiſſenſchaftliche Welt fühlte das ſehr
wohl. Die Oppoſition gegen Eſtor ließ nicht lange auf ſich warten.
Schon 1738 ſchrieb J. Leonh. Hauſchild ſein opusculum historico-ju-
ridicum de praesumtione pro libertate naturali in causis rusticorum,

worin er freilich mehr aus dem jus naturale als aus der hiſtoriſchen
Auffaſſung die urſprüngliche Freiheit des Bauernſtandes im Gegenſatz
zu Eſtor allgemein behauptete. Eſtor ließ dann ſeine Abhandlung mit
einer etwas modificirten Grundlage 1742 wieder erſcheinen. (Fiſcher
citirt andere Ausgabe von 1736; Runde hat nur die beiden von 1734
und 1742.) Dagegen ſchrieb dann Hauſchild wieder 1744 ſeine Abhand-
lung „Beiſchriften von Bauern und Frohnden.“ Eſtor ſeinerſeits fand
einen Vertheidiger in J. J. Reineccius, Dissertatio de rustico
quondam servo
1749, wogegen A. R. J. Bunnemann ſeine Ad-
sertio de rusticorum libertate et operis contra Reineccium
1750
erſcheinen ließ. Dieſer Streit hatte das Gute, daß man allmählig von
den abſtracten Behauptungen ſowohl über das poſitive als aus dem
natürlichen Recht abkam, und ſich der hiſtoriſchen Grundlage zuwendete.
Allein dieſe war keineswegs genug bekannt; die alte Geſchlechterordnung
mit dem freien Bauernſtande des urſprünglichen Dorfes, das allmählige
Auftreten der Herren, die allmählige Verwiſchung des Unterſchiedes
zwiſchen dem Freibauern und dem Leibeigenen verſtand man nicht; eine
größere hiſtoriſche Auffaſſung fehlte gänzlich, und das darf uns nicht
wundern, wenn wir auch noch heut zu Tage in Facharbeiten die Ge-
lehrſamkeit ſich in der Conſtatirung der einzelnen Thatſachen und Unter-
ſchiede ſtatt in der Nachweiſung jenes großen hiſtoriſchen Proceſſes,
in welchem ſie alle auftauchen und verſchwinden, ſich erſchöpfen ſehen.
Es entſtand daher eine Art von Compromiß in der zweiten Hälfte
des vorigen Jahrhunderts, der faſt in alle Lehrbücher jener Zeit über-
ging, und die Grundlage der Lehre von den bäuerlichen Rechten ward,

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[159/0177] werden müſſe, ſo daß wenn derſelbe keinen klaren Rechtstitel auf jene Beſchränkung habe, der Gutsherr berechtigt ſei, unbeſchränkte Dienſte und Abgaben zu fordern — donec probetur contrarium. Die Con- ſequenzen dieſes Princips wären wohl ſehr ernſte geweſen, denn gerade die ganze erſte Kategorie der reinen Lehns- und obrigkeitlichen Abgaben und Dienſte des urſprünglich freien Bauern an den Gutsherrn war natürlich faſt ausnahmslos ohne allen beſonderen, nachweisbaren Akt eingeführt; und wäre Eſtors Anſchauung zur vollen Geltung gelangt, ſo würde ſie ſomit nothwendig die ganze perſönlich freie Klaſſe mit wenig Ausnahmen zu Leibeigenen gemacht haben. Natürlich war dieſe Gefahr gerade deßhalb ſo groß, weil der Grundherr zugleich Polizei und Gericht beſaß, und daher ſelbſt über jenen Beweis der Freiheit oder Unfreiheit entſchied. Die wiſſenſchaftliche Welt fühlte das ſehr wohl. Die Oppoſition gegen Eſtor ließ nicht lange auf ſich warten. Schon 1738 ſchrieb J. Leonh. Hauſchild ſein opusculum historico-ju- ridicum de praesumtione pro libertate naturali in causis rusticorum, worin er freilich mehr aus dem jus naturale als aus der hiſtoriſchen Auffaſſung die urſprüngliche Freiheit des Bauernſtandes im Gegenſatz zu Eſtor allgemein behauptete. Eſtor ließ dann ſeine Abhandlung mit einer etwas modificirten Grundlage 1742 wieder erſcheinen. (Fiſcher citirt andere Ausgabe von 1736; Runde hat nur die beiden von 1734 und 1742.) Dagegen ſchrieb dann Hauſchild wieder 1744 ſeine Abhand- lung „Beiſchriften von Bauern und Frohnden.“ Eſtor ſeinerſeits fand einen Vertheidiger in J. J. Reineccius, Dissertatio de rustico quondam servo 1749, wogegen A. R. J. Bunnemann ſeine Ad- sertio de rusticorum libertate et operis contra Reineccium 1750 erſcheinen ließ. Dieſer Streit hatte das Gute, daß man allmählig von den abſtracten Behauptungen ſowohl über das poſitive als aus dem natürlichen Recht abkam, und ſich der hiſtoriſchen Grundlage zuwendete. Allein dieſe war keineswegs genug bekannt; die alte Geſchlechterordnung mit dem freien Bauernſtande des urſprünglichen Dorfes, das allmählige Auftreten der Herren, die allmählige Verwiſchung des Unterſchiedes zwiſchen dem Freibauern und dem Leibeigenen verſtand man nicht; eine größere hiſtoriſche Auffaſſung fehlte gänzlich, und das darf uns nicht wundern, wenn wir auch noch heut zu Tage in Facharbeiten die Ge- lehrſamkeit ſich in der Conſtatirung der einzelnen Thatſachen und Unter- ſchiede ſtatt in der Nachweiſung jenes großen hiſtoriſchen Proceſſes, in welchem ſie alle auftauchen und verſchwinden, ſich erſchöpfen ſehen. Es entſtand daher eine Art von Compromiß in der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts, der faſt in alle Lehrbücher jener Zeit über- ging, und die Grundlage der Lehre von den bäuerlichen Rechten ward,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 159. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/177>, abgerufen am 25.11.2024.