Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868.

Bild:
<< vorherige Seite

überschreiten. Ihre gesetzliche Aufzeichnung war in England überflüssig,
und fand nur als Privataufzeichnung im gutsherrlichen Grundbuch,
der Court roll statt, weil das königliche Gericht über vorkommenden
Streit zwischen Herrn und villein entschied; die gesetzliche Aufzeichnung
in Frankreich nützte dagegen wenig, weil hier der Inhaber der Berech-
tigung zugleich Gerichtsherr über die Rechtsfragen derselben war. Der
Sieg des Königthums gab daher Frankreich unter Richelieu, Mazarin
und Louis XIV. einen nie geahnten Glanz nach außen; allein die
Unfreiheit des Landvolkes machte es unfähig, die Lasten dieses Glanzes
zu tragen. Für die gänzliche Unterwerfung unter den Hof des Königs
gab das Königthum dem Adel seine Unfreien preis; die allgemeine
Verarmung, das glänzendste Elend in Europa war die Folge davon.
Das war der Zustand im achtzehnten Jahrhundert.

Unter diesen Verhältnissen würde es nun hier zu weit führen, auf
die einzelnen Rechte der Herren und der Eigenen einzugehen, und spe-
ciell die Reste der alten serfs (s. Repert. de Jurisprudence von Guyot
v. serfs Bd. II.) den taillables de haut en bas, die Rechte der corvees
(s. die vortreffliche Darstellung des alten coutümieren Rechts: Institutes
coutumieres d'Antoine Loysel, avec les notes d'Eusebe de
Lauriere,
neu herausgegeben von Dupin und Laboulaye 1846.
2 Bde. 8.) und die justice seigneuriale genauer zu bezeichnen. Das
Gesammtresultat aber, das für die Folge entscheidend ward, war das,
daß in Beziehung auf die grundherrlichen Rechte jeder Unterschied zwi-
schen allod und fief verschwindet, und daß der seigneur die ganze
grundherrliche Verwaltung als sein Eigenthum ansieht. Oeffentliches
und bürgerliches Eigenthumsrecht sind jetzt verschmolzen; der Begriff
und das Recht der Grundherrlichkeit sind zur vollen Herrschaft gelangt,
und die Geschlechterordnung ist mit der ständischen in Frankreich zu
Einem Ganzen verschmolzen.

Gegen diesen Zustand beginnt nun eine Bewegung, die wir als
die Vorläuferin der Revolution, und zwar speciell in Beziehung auf
die Grundentlastung, ansehen müssen. Dieselbe hat zwei Stadien; beide
sind hinlänglich bekannt. Das erste ward durch die Ueberzeugung ver-
treten, daß die Macht und der Reichthum des Königs unter dieser Un-
freiheit des Landmannes wirthschaftlich zu Grunde gehen. Der
Vertreter dieser Richtung ist vor allem Vauban in seiner Dixme Royale,
der erste Mann, der die Gefahr, die in jenen Zuständen lag, offen
und mit jenem hohen bürgerlichen Muthe zu bezeichnen wagte, der die
Franzosen so oft vor den Deutschen auszeichnet; neben ihm muß man
Boisguillebert mit seinen Factum de la France nennen. Sie sind die
Vorgänger des physiokratischen Systems, der in dem Quesnay'schen Satz

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 10

überſchreiten. Ihre geſetzliche Aufzeichnung war in England überflüſſig,
und fand nur als Privataufzeichnung im gutsherrlichen Grundbuch,
der Court roll ſtatt, weil das königliche Gericht über vorkommenden
Streit zwiſchen Herrn und villein entſchied; die geſetzliche Aufzeichnung
in Frankreich nützte dagegen wenig, weil hier der Inhaber der Berech-
tigung zugleich Gerichtsherr über die Rechtsfragen derſelben war. Der
Sieg des Königthums gab daher Frankreich unter Richelieu, Mazarin
und Louis XIV. einen nie geahnten Glanz nach außen; allein die
Unfreiheit des Landvolkes machte es unfähig, die Laſten dieſes Glanzes
zu tragen. Für die gänzliche Unterwerfung unter den Hof des Königs
gab das Königthum dem Adel ſeine Unfreien preis; die allgemeine
Verarmung, das glänzendſte Elend in Europa war die Folge davon.
Das war der Zuſtand im achtzehnten Jahrhundert.

Unter dieſen Verhältniſſen würde es nun hier zu weit führen, auf
die einzelnen Rechte der Herren und der Eigenen einzugehen, und ſpe-
ciell die Reſte der alten serfs (ſ. Repert. de Jurisprudence von Guyot
v. serfs Bd. II.) den taillables de haut en bas, die Rechte der corvées
(ſ. die vortreffliche Darſtellung des alten coutümieren Rechts: Institutes
coutumières d’Antoine Loysel, avec les notes d’Eusèbe de
Lauriére,
neu herausgegeben von Dupin und Laboulaye 1846.
2 Bde. 8.) und die justice seigneuriale genauer zu bezeichnen. Das
Geſammtreſultat aber, das für die Folge entſcheidend ward, war das,
daß in Beziehung auf die grundherrlichen Rechte jeder Unterſchied zwi-
ſchen allod und fief verſchwindet, und daß der seigneur die ganze
grundherrliche Verwaltung als ſein Eigenthum anſieht. Oeffentliches
und bürgerliches Eigenthumsrecht ſind jetzt verſchmolzen; der Begriff
und das Recht der Grundherrlichkeit ſind zur vollen Herrſchaft gelangt,
und die Geſchlechterordnung iſt mit der ſtändiſchen in Frankreich zu
Einem Ganzen verſchmolzen.

Gegen dieſen Zuſtand beginnt nun eine Bewegung, die wir als
die Vorläuferin der Revolution, und zwar ſpeciell in Beziehung auf
die Grundentlaſtung, anſehen müſſen. Dieſelbe hat zwei Stadien; beide
ſind hinlänglich bekannt. Das erſte ward durch die Ueberzeugung ver-
treten, daß die Macht und der Reichthum des Königs unter dieſer Un-
freiheit des Landmannes wirthſchaftlich zu Grunde gehen. Der
Vertreter dieſer Richtung iſt vor allem Vauban in ſeiner Dixme Royale,
der erſte Mann, der die Gefahr, die in jenen Zuſtänden lag, offen
und mit jenem hohen bürgerlichen Muthe zu bezeichnen wagte, der die
Franzoſen ſo oft vor den Deutſchen auszeichnet; neben ihm muß man
Boisguillebert mit ſeinen Factum de la France nennen. Sie ſind die
Vorgänger des phyſiokratiſchen Syſtems, der in dem Quesnay’ſchen Satz

Stein, die Verwaltungslehre. VII. 10
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <p><pb facs="#f0163" n="145"/>
über&#x017F;chreiten. Ihre ge&#x017F;etzliche Aufzeichnung war in England überflü&#x017F;&#x017F;ig,<lb/>
und fand nur als Privataufzeichnung im gutsherrlichen Grundbuch,<lb/>
der <hi rendition="#aq">Court roll</hi> &#x017F;tatt, weil das königliche Gericht über vorkommenden<lb/>
Streit zwi&#x017F;chen Herrn und <hi rendition="#aq">villein</hi> ent&#x017F;chied; die ge&#x017F;etzliche Aufzeichnung<lb/>
in Frankreich nützte dagegen wenig, weil hier der Inhaber der Berech-<lb/>
tigung zugleich Gerichtsherr über die Rechtsfragen der&#x017F;elben war. Der<lb/>
Sieg des Königthums gab daher Frankreich unter Richelieu, Mazarin<lb/>
und Louis <hi rendition="#aq">XIV.</hi> einen nie geahnten Glanz nach außen; allein die<lb/>
Unfreiheit des Landvolkes machte es unfähig, die La&#x017F;ten die&#x017F;es Glanzes<lb/>
zu tragen. Für die gänzliche Unterwerfung unter den Hof des Königs<lb/>
gab das Königthum dem Adel &#x017F;eine Unfreien preis; die allgemeine<lb/>
Verarmung, das glänzend&#x017F;te Elend in Europa war die Folge davon.<lb/>
Das war der Zu&#x017F;tand im achtzehnten Jahrhundert.</p><lb/>
                <p>Unter die&#x017F;en Verhältni&#x017F;&#x017F;en würde es nun hier zu weit führen, auf<lb/>
die einzelnen Rechte der Herren und der Eigenen einzugehen, und &#x017F;pe-<lb/>
ciell die Re&#x017F;te der alten <hi rendition="#aq">serfs</hi> (&#x017F;. <hi rendition="#aq">Repert. de Jurisprudence</hi> von Guyot<lb/><hi rendition="#aq">v. serfs</hi> Bd. <hi rendition="#aq">II.</hi>) den <hi rendition="#aq">taillables de haut en bas,</hi> die Rechte der <hi rendition="#aq">corvées</hi><lb/>
(&#x017F;. die vortreffliche Dar&#x017F;tellung des alten coutümieren Rechts: <hi rendition="#aq">Institutes<lb/>
coutumières d&#x2019;<hi rendition="#g">Antoine Loysel</hi>, avec les notes d&#x2019;Eusèbe de<lb/>
Lauriére,</hi> neu herausgegeben von <hi rendition="#g">Dupin</hi> und <hi rendition="#g">Laboulaye</hi> 1846.<lb/>
2 Bde. 8.) und die <hi rendition="#aq">justice seigneuriale</hi> genauer zu bezeichnen. Das<lb/>
Ge&#x017F;ammtre&#x017F;ultat aber, das für die Folge ent&#x017F;cheidend ward, war das,<lb/>
daß in Beziehung auf die grundherrlichen Rechte jeder Unter&#x017F;chied zwi-<lb/>
&#x017F;chen <hi rendition="#aq">allod</hi> und <hi rendition="#aq">fief</hi> ver&#x017F;chwindet, und daß der <hi rendition="#aq">seigneur</hi> die ganze<lb/>
grundherrliche Verwaltung als &#x017F;ein Eigenthum an&#x017F;ieht. Oeffentliches<lb/>
und bürgerliches Eigenthumsrecht &#x017F;ind jetzt ver&#x017F;chmolzen; der Begriff<lb/>
und das Recht der Grundherrlichkeit &#x017F;ind zur vollen Herr&#x017F;chaft gelangt,<lb/>
und die Ge&#x017F;chlechterordnung i&#x017F;t mit der &#x017F;tändi&#x017F;chen in Frankreich zu<lb/>
Einem Ganzen ver&#x017F;chmolzen.</p><lb/>
                <p>Gegen die&#x017F;en Zu&#x017F;tand beginnt nun eine Bewegung, die wir als<lb/>
die Vorläuferin der Revolution, und zwar &#x017F;peciell in Beziehung auf<lb/>
die Grundentla&#x017F;tung, an&#x017F;ehen mü&#x017F;&#x017F;en. Die&#x017F;elbe hat zwei Stadien; beide<lb/>
&#x017F;ind hinlänglich bekannt. Das er&#x017F;te ward durch die Ueberzeugung ver-<lb/>
treten, daß die Macht und der Reichthum des Königs unter die&#x017F;er Un-<lb/>
freiheit des Landmannes <hi rendition="#g">wirth&#x017F;chaftlich</hi> zu Grunde gehen. Der<lb/>
Vertreter die&#x017F;er Richtung i&#x017F;t vor allem <hi rendition="#g">Vauban</hi> in &#x017F;einer <hi rendition="#aq">Dixme Royale,</hi><lb/>
der er&#x017F;te Mann, der die Gefahr, die in jenen Zu&#x017F;tänden lag, offen<lb/>
und mit jenem hohen bürgerlichen Muthe zu bezeichnen wagte, der die<lb/>
Franzo&#x017F;en &#x017F;o oft vor den Deut&#x017F;chen auszeichnet; neben ihm muß man<lb/><hi rendition="#g">Boisguillebert</hi> mit &#x017F;einen <hi rendition="#aq">Factum de la France</hi> nennen. Sie &#x017F;ind die<lb/>
Vorgänger des phy&#x017F;iokrati&#x017F;chen Sy&#x017F;tems, der in dem <hi rendition="#g">Quesnay</hi>&#x2019;&#x017F;chen Satz<lb/>
<fw place="bottom" type="sig"><hi rendition="#g">Stein</hi>, die Verwaltungslehre. <hi rendition="#aq">VII.</hi> 10</fw><lb/></p>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[145/0163] überſchreiten. Ihre geſetzliche Aufzeichnung war in England überflüſſig, und fand nur als Privataufzeichnung im gutsherrlichen Grundbuch, der Court roll ſtatt, weil das königliche Gericht über vorkommenden Streit zwiſchen Herrn und villein entſchied; die geſetzliche Aufzeichnung in Frankreich nützte dagegen wenig, weil hier der Inhaber der Berech- tigung zugleich Gerichtsherr über die Rechtsfragen derſelben war. Der Sieg des Königthums gab daher Frankreich unter Richelieu, Mazarin und Louis XIV. einen nie geahnten Glanz nach außen; allein die Unfreiheit des Landvolkes machte es unfähig, die Laſten dieſes Glanzes zu tragen. Für die gänzliche Unterwerfung unter den Hof des Königs gab das Königthum dem Adel ſeine Unfreien preis; die allgemeine Verarmung, das glänzendſte Elend in Europa war die Folge davon. Das war der Zuſtand im achtzehnten Jahrhundert. Unter dieſen Verhältniſſen würde es nun hier zu weit führen, auf die einzelnen Rechte der Herren und der Eigenen einzugehen, und ſpe- ciell die Reſte der alten serfs (ſ. Repert. de Jurisprudence von Guyot v. serfs Bd. II.) den taillables de haut en bas, die Rechte der corvées (ſ. die vortreffliche Darſtellung des alten coutümieren Rechts: Institutes coutumières d’Antoine Loysel, avec les notes d’Eusèbe de Lauriére, neu herausgegeben von Dupin und Laboulaye 1846. 2 Bde. 8.) und die justice seigneuriale genauer zu bezeichnen. Das Geſammtreſultat aber, das für die Folge entſcheidend ward, war das, daß in Beziehung auf die grundherrlichen Rechte jeder Unterſchied zwi- ſchen allod und fief verſchwindet, und daß der seigneur die ganze grundherrliche Verwaltung als ſein Eigenthum anſieht. Oeffentliches und bürgerliches Eigenthumsrecht ſind jetzt verſchmolzen; der Begriff und das Recht der Grundherrlichkeit ſind zur vollen Herrſchaft gelangt, und die Geſchlechterordnung iſt mit der ſtändiſchen in Frankreich zu Einem Ganzen verſchmolzen. Gegen dieſen Zuſtand beginnt nun eine Bewegung, die wir als die Vorläuferin der Revolution, und zwar ſpeciell in Beziehung auf die Grundentlaſtung, anſehen müſſen. Dieſelbe hat zwei Stadien; beide ſind hinlänglich bekannt. Das erſte ward durch die Ueberzeugung ver- treten, daß die Macht und der Reichthum des Königs unter dieſer Un- freiheit des Landmannes wirthſchaftlich zu Grunde gehen. Der Vertreter dieſer Richtung iſt vor allem Vauban in ſeiner Dixme Royale, der erſte Mann, der die Gefahr, die in jenen Zuſtänden lag, offen und mit jenem hohen bürgerlichen Muthe zu bezeichnen wagte, der die Franzoſen ſo oft vor den Deutſchen auszeichnet; neben ihm muß man Boisguillebert mit ſeinen Factum de la France nennen. Sie ſind die Vorgänger des phyſiokratiſchen Syſtems, der in dem Quesnay’ſchen Satz Stein, die Verwaltungslehre. VII. 10

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/163
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 7. Stuttgart, 1868, S. 145. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre07_1868/163>, abgerufen am 06.05.2024.