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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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derselben vertritt. Dasselbe ward nun auch auf den obigen Organismus
angewendet, und ein System von Conseils allen jenen Organen an die
Seite gestellt. Der Rektor hat ein Conceil academique, der Präfekt
ein Conceil departemental, die örtliche Organisation hat die delegues
cantonnaux
zur Seite (mit Reglement von 1850 und 29. Juli 1854,
jedoch ohne rapport hierarchique zum Inspecteur); die Verordnung
vom 29. Februar 1816 hat eine Art von Gemeinderath eingesetzt, an
dessen Spitze der Maire stand; doch ist an dessen Stelle seit 1835 der
eigentliche Inspecteur getreten, der nur den oberen Behörden berichtet.
An der Spitze des Ganzen steht dann das Ministere de l'Instruction
publique,
das wieder einen Conseil general de l'instruction publique
zur Seite hat (Dekret vom 9. März 1852). Das sind die allgemeinen
Grundlagen des französischen staatlichen Bildungswesens. Der Charakter
desselben ist demnach klar. Er besteht in der strengsten Durchführung
der formellen Einheit; die Universite ist "une hierarchie d'ecoles
primaires et secondaires rattachees a un corps central d'etablisse-
ments d'instruction superieure qui exerce une veritable jurisdiction
scolaire
"
(Jourdain a. a. O.). Der Unterschied von dem deutschen Unter-
richtswesen beruht auf dem grundsätzlichen Mangel aller Selbständig-
keit jedes einzelnen Theiles dieses Lehrorganismus, und zwar in der
Weise, daß im Volksunterricht die Ausschließung der freien Gemeinde-
verwaltung vom Volksschulwesen, im Berufsbildungswesen die Beseiti-
gung jeder selbständigen Funktion der Lehrkörper durchgeführt ist. Und
in der That ist diese völlige Aufhebung aller Selbständigkeit der Lehrer,
ihre grundsätzliche Abhängigkeit von den Behörden der Grund des Zu-
rückbleibens Frankreichs in allem was Volksbildung heißt. Denn die
Lehrer sind weder selbständig in ihrer Stellung noch in ihrer geistigen
Thätigkeit. Die Lehrkörper aller Art besitzen nicht das Recht noch die
Macht
, die Lehre zu ordnen und dieselbe mit der freien Entwicklung der
Wissenschaft aus eigener That vorwärts zu bringen. Die individuelle
Freiheit der geistigen Bewegung ist der formellen Einheit des Bildungs-
wesens zum Opfer gebracht, wie umgekehrt in England die letztere gegen-
über der ersteren nicht zur gebührenden Geltung gelangt ist. Dennoch
ist gerade diese individuelle Freiheit das wahrhaft Belebende in allem
geistigen Leben, nicht etwa bloß, wie Frankreich es annimmt, gegen-
über den großen Problemen der Wissenschaft. Wo sie verloren geht,
geht die Höhe und Tüchtigkeit der individuellen Bildung verloren, wie
da, wo die Einheit fehlt, die Gleichmäßigkeit derselben unerreichbar
bleibt. Im ersten Falle gibt es hochgebildete Einzelne, im zweiten
sehr gebildete Klassen der Besitzenden, in beiden keine wahre Volks-
bildung.

derſelben vertritt. Daſſelbe ward nun auch auf den obigen Organismus
angewendet, und ein Syſtem von Conſeils allen jenen Organen an die
Seite geſtellt. Der Rektor hat ein Conceil académique, der Präfekt
ein Conceil départemental, die örtliche Organiſation hat die délégués
cantonnaux
zur Seite (mit Reglement von 1850 und 29. Juli 1854,
jedoch ohne rapport hierarchique zum Inspecteur); die Verordnung
vom 29. Februar 1816 hat eine Art von Gemeinderath eingeſetzt, an
deſſen Spitze der Maire ſtand; doch iſt an deſſen Stelle ſeit 1835 der
eigentliche Inspecteur getreten, der nur den oberen Behörden berichtet.
An der Spitze des Ganzen ſteht dann das Ministère de l’Instruction
publique,
das wieder einen Conseil général de l’instruction publique
zur Seite hat (Dekret vom 9. März 1852). Das ſind die allgemeinen
Grundlagen des franzöſiſchen ſtaatlichen Bildungsweſens. Der Charakter
deſſelben iſt demnach klar. Er beſteht in der ſtrengſten Durchführung
der formellen Einheit; die Université iſt „une hierarchie d’écoles
primaires et secondaires rattachées à un corps central d’établisse-
ments d’instruction supérieure qui exerce une véritable jurisdiction
scolaire
(Jourdain a. a. O.). Der Unterſchied von dem deutſchen Unter-
richtsweſen beruht auf dem grundſätzlichen Mangel aller Selbſtändig-
keit jedes einzelnen Theiles dieſes Lehrorganismus, und zwar in der
Weiſe, daß im Volksunterricht die Ausſchließung der freien Gemeinde-
verwaltung vom Volksſchulweſen, im Berufsbildungsweſen die Beſeiti-
gung jeder ſelbſtändigen Funktion der Lehrkörper durchgeführt iſt. Und
in der That iſt dieſe völlige Aufhebung aller Selbſtändigkeit der Lehrer,
ihre grundſätzliche Abhängigkeit von den Behörden der Grund des Zu-
rückbleibens Frankreichs in allem was Volksbildung heißt. Denn die
Lehrer ſind weder ſelbſtändig in ihrer Stellung noch in ihrer geiſtigen
Thätigkeit. Die Lehrkörper aller Art beſitzen nicht das Recht noch die
Macht
, die Lehre zu ordnen und dieſelbe mit der freien Entwicklung der
Wiſſenſchaft aus eigener That vorwärts zu bringen. Die individuelle
Freiheit der geiſtigen Bewegung iſt der formellen Einheit des Bildungs-
weſens zum Opfer gebracht, wie umgekehrt in England die letztere gegen-
über der erſteren nicht zur gebührenden Geltung gelangt iſt. Dennoch
iſt gerade dieſe individuelle Freiheit das wahrhaft Belebende in allem
geiſtigen Leben, nicht etwa bloß, wie Frankreich es annimmt, gegen-
über den großen Problemen der Wiſſenſchaft. Wo ſie verloren geht,
geht die Höhe und Tüchtigkeit der individuellen Bildung verloren, wie
da, wo die Einheit fehlt, die Gleichmäßigkeit derſelben unerreichbar
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[51/0079] derſelben vertritt. Daſſelbe ward nun auch auf den obigen Organismus angewendet, und ein Syſtem von Conſeils allen jenen Organen an die Seite geſtellt. Der Rektor hat ein Conceil académique, der Präfekt ein Conceil départemental, die örtliche Organiſation hat die délégués cantonnaux zur Seite (mit Reglement von 1850 und 29. Juli 1854, jedoch ohne rapport hierarchique zum Inspecteur); die Verordnung vom 29. Februar 1816 hat eine Art von Gemeinderath eingeſetzt, an deſſen Spitze der Maire ſtand; doch iſt an deſſen Stelle ſeit 1835 der eigentliche Inspecteur getreten, der nur den oberen Behörden berichtet. An der Spitze des Ganzen ſteht dann das Ministère de l’Instruction publique, das wieder einen Conseil général de l’instruction publique zur Seite hat (Dekret vom 9. März 1852). Das ſind die allgemeinen Grundlagen des franzöſiſchen ſtaatlichen Bildungsweſens. Der Charakter deſſelben iſt demnach klar. Er beſteht in der ſtrengſten Durchführung der formellen Einheit; die Université iſt „une hierarchie d’écoles primaires et secondaires rattachées à un corps central d’établisse- ments d’instruction supérieure qui exerce une véritable jurisdiction scolaire“ (Jourdain a. a. O.). Der Unterſchied von dem deutſchen Unter- richtsweſen beruht auf dem grundſätzlichen Mangel aller Selbſtändig- keit jedes einzelnen Theiles dieſes Lehrorganismus, und zwar in der Weiſe, daß im Volksunterricht die Ausſchließung der freien Gemeinde- verwaltung vom Volksſchulweſen, im Berufsbildungsweſen die Beſeiti- gung jeder ſelbſtändigen Funktion der Lehrkörper durchgeführt iſt. Und in der That iſt dieſe völlige Aufhebung aller Selbſtändigkeit der Lehrer, ihre grundſätzliche Abhängigkeit von den Behörden der Grund des Zu- rückbleibens Frankreichs in allem was Volksbildung heißt. Denn die Lehrer ſind weder ſelbſtändig in ihrer Stellung noch in ihrer geiſtigen Thätigkeit. Die Lehrkörper aller Art beſitzen nicht das Recht noch die Macht, die Lehre zu ordnen und dieſelbe mit der freien Entwicklung der Wiſſenſchaft aus eigener That vorwärts zu bringen. Die individuelle Freiheit der geiſtigen Bewegung iſt der formellen Einheit des Bildungs- weſens zum Opfer gebracht, wie umgekehrt in England die letztere gegen- über der erſteren nicht zur gebührenden Geltung gelangt iſt. Dennoch iſt gerade dieſe individuelle Freiheit das wahrhaft Belebende in allem geiſtigen Leben, nicht etwa bloß, wie Frankreich es annimmt, gegen- über den großen Problemen der Wiſſenſchaft. Wo ſie verloren geht, geht die Höhe und Tüchtigkeit der individuellen Bildung verloren, wie da, wo die Einheit fehlt, die Gleichmäßigkeit derſelben unerreichbar bleibt. Im erſten Falle gibt es hochgebildete Einzelne, im zweiten ſehr gebildete Klaſſen der Beſitzenden, in beiden keine wahre Volks- bildung.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 51. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/79>, abgerufen am 25.11.2024.