unserem Jahrhundert das Princip der Freiheit des Staatsbürgerthums sich auch dagegen empörte; die Lernfreiheit war der Ausdruck der allge- meinen Bewegung der Geister innerhalb des Gebietes des Universitäts- studiums und schien daher mit ihr stehen und fallen zu müssen. Das ist ihre historische Stellung; sie ist ein Theil des großen Kampfes gegen die polizeiliche Bevormundung des Geistes, und in diesem Sinne eine natürliche, vollberechtigte Erscheinung unseres Jahrhunderts.
Allein wie alle diese Bewegungen war sie naturgemäß nur negativ. Sie übersah das zweite Element in jener gesetzlichen Ordnung. Sie vergaß, daß der gesetzliche Studienplan zugleich die Aufgabe hatte, durch seine Vorschriften ein Minimum der organischen Fachbildung im öffentlichen Interesse zu sichern. Sie sah zwar sehr deutlich, auf welchen Punkten diese gesetzliche Ordnung nichts nützten und geradezu schadeten; sie sah aber nicht, wo und wie sie daneben zugleich heilsam wirkte. Sie begnügte sich mit der an sich richtigen Ueberzeugung, daß die Verwaltung die Bildung durch keine gesetzlichen Vorschriften er- zwingen könne, und mit der abstrakten Hoffnung, daß die Macht des Geistes an sich stark genug sein werde, um die jungen Männer zur Wissenschaft auch ohne alle Vorschrift zu sich heran zu ziehen. Sie ließ aber die Frage unerörtert was zu geschehen habe, wenn dieß nicht der Fall wäre. Sie entsprach daher dem Geiste der Zeit und seinem leben- digen Aufschwung; aber sie entsprach nicht dem richtigen, durch keine glanzvolle Anschauung geblendeten praktischen Bedürfniß der Fachmänner. Sie vermochte daher auch nicht, durch ihre viel zu allgemeine Tendenz das Gegebene zu ändern. Bis zu unserer Zeit blieben trotz derselben die gesetzlichen Studienpläne bestehen, und neben ihnen stand unver- mittelt ihr Gegensatz in der abstrakten Forderung der Lernfreiheit. Dieß scheint die gegenwärtige Sachlage.
In unserer Zeit nun ist es wohl kein Zweifel, daß wir diese Lern- freiheit nicht mehr im Namen der allgemeinen staatsbürgerlichen Frei- heit, wie zur Zeit Schleiermachers zu fordern haben. Die Verwaltungs- lehre erkennt das Princip der Lernfreiheit unbedingt an. Aber sie muß im Namen des öffentlichen Interesses die Frage aufstellen, ob diese unbedingte Lernfreiheit im Stande ist, die Gewähr für dasjenige Maß der Berufsbildung zu bieten, ohne welches die Berufsfunktionen den Anforderungen unserer Zeit nicht genügen. Ist das nicht der Fall, so muß auch hier die Verwaltung fordern, daß die individuelle Freiheit sich dem Gesammtinteresse unterordne, und somit die Begränzung des- selben zu einem Theile des öffentlichen Bildungsrechts mache.
Offenbar nun wäre jene Gewähr bei unbedingter Lernfreiheit nur da denkbar, wo das System der Prüfungen ausreichte, jenes Minimum
Stein, die Verwaltungslehre. V. 15
unſerem Jahrhundert das Princip der Freiheit des Staatsbürgerthums ſich auch dagegen empörte; die Lernfreiheit war der Ausdruck der allge- meinen Bewegung der Geiſter innerhalb des Gebietes des Univerſitäts- ſtudiums und ſchien daher mit ihr ſtehen und fallen zu müſſen. Das iſt ihre hiſtoriſche Stellung; ſie iſt ein Theil des großen Kampfes gegen die polizeiliche Bevormundung des Geiſtes, und in dieſem Sinne eine natürliche, vollberechtigte Erſcheinung unſeres Jahrhunderts.
Allein wie alle dieſe Bewegungen war ſie naturgemäß nur negativ. Sie überſah das zweite Element in jener geſetzlichen Ordnung. Sie vergaß, daß der geſetzliche Studienplan zugleich die Aufgabe hatte, durch ſeine Vorſchriften ein Minimum der organiſchen Fachbildung im öffentlichen Intereſſe zu ſichern. Sie ſah zwar ſehr deutlich, auf welchen Punkten dieſe geſetzliche Ordnung nichts nützten und geradezu ſchadeten; ſie ſah aber nicht, wo und wie ſie daneben zugleich heilſam wirkte. Sie begnügte ſich mit der an ſich richtigen Ueberzeugung, daß die Verwaltung die Bildung durch keine geſetzlichen Vorſchriften er- zwingen könne, und mit der abſtrakten Hoffnung, daß die Macht des Geiſtes an ſich ſtark genug ſein werde, um die jungen Männer zur Wiſſenſchaft auch ohne alle Vorſchrift zu ſich heran zu ziehen. Sie ließ aber die Frage unerörtert was zu geſchehen habe, wenn dieß nicht der Fall wäre. Sie entſprach daher dem Geiſte der Zeit und ſeinem leben- digen Aufſchwung; aber ſie entſprach nicht dem richtigen, durch keine glanzvolle Anſchauung geblendeten praktiſchen Bedürfniß der Fachmänner. Sie vermochte daher auch nicht, durch ihre viel zu allgemeine Tendenz das Gegebene zu ändern. Bis zu unſerer Zeit blieben trotz derſelben die geſetzlichen Studienpläne beſtehen, und neben ihnen ſtand unver- mittelt ihr Gegenſatz in der abſtrakten Forderung der Lernfreiheit. Dieß ſcheint die gegenwärtige Sachlage.
In unſerer Zeit nun iſt es wohl kein Zweifel, daß wir dieſe Lern- freiheit nicht mehr im Namen der allgemeinen ſtaatsbürgerlichen Frei- heit, wie zur Zeit Schleiermachers zu fordern haben. Die Verwaltungs- lehre erkennt das Princip der Lernfreiheit unbedingt an. Aber ſie muß im Namen des öffentlichen Intereſſes die Frage aufſtellen, ob dieſe unbedingte Lernfreiheit im Stande iſt, die Gewähr für dasjenige Maß der Berufsbildung zu bieten, ohne welches die Berufsfunktionen den Anforderungen unſerer Zeit nicht genügen. Iſt das nicht der Fall, ſo muß auch hier die Verwaltung fordern, daß die individuelle Freiheit ſich dem Geſammtintereſſe unterordne, und ſomit die Begränzung des- ſelben zu einem Theile des öffentlichen Bildungsrechts mache.
Offenbar nun wäre jene Gewähr bei unbedingter Lernfreiheit nur da denkbar, wo das Syſtem der Prüfungen ausreichte, jenes Minimum
Stein, die Verwaltungslehre. V. 15
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ſich auch dagegen empörte; die Lernfreiheit war der Ausdruck der allge-
meinen Bewegung der Geiſter innerhalb des Gebietes des Univerſitäts-
ſtudiums und ſchien daher mit ihr ſtehen und fallen zu müſſen. Das
iſt ihre hiſtoriſche Stellung; ſie iſt ein Theil des großen Kampfes gegen
die polizeiliche Bevormundung des Geiſtes, und in dieſem Sinne eine
natürliche, vollberechtigte Erſcheinung unſeres Jahrhunderts.
Allein wie alle dieſe Bewegungen war ſie naturgemäß nur negativ.
Sie überſah das zweite Element in jener geſetzlichen Ordnung. Sie
vergaß, daß der geſetzliche Studienplan zugleich die Aufgabe hatte,
durch ſeine Vorſchriften ein Minimum der organiſchen Fachbildung
im öffentlichen Intereſſe zu ſichern. Sie ſah zwar ſehr deutlich, auf
welchen Punkten dieſe geſetzliche Ordnung nichts nützten und geradezu
ſchadeten; ſie ſah aber nicht, wo und wie ſie daneben zugleich heilſam
wirkte. Sie begnügte ſich mit der an ſich richtigen Ueberzeugung, daß
die Verwaltung die Bildung durch keine geſetzlichen Vorſchriften er-
zwingen könne, und mit der abſtrakten Hoffnung, daß die Macht des
Geiſtes an ſich ſtark genug ſein werde, um die jungen Männer zur
Wiſſenſchaft auch ohne alle Vorſchrift zu ſich heran zu ziehen. Sie ließ
aber die Frage unerörtert was zu geſchehen habe, wenn dieß nicht der
Fall wäre. Sie entſprach daher dem Geiſte der Zeit und ſeinem leben-
digen Aufſchwung; aber ſie entſprach nicht dem richtigen, durch keine
glanzvolle Anſchauung geblendeten praktiſchen Bedürfniß der Fachmänner.
Sie vermochte daher auch nicht, durch ihre viel zu allgemeine Tendenz
das Gegebene zu ändern. Bis zu unſerer Zeit blieben trotz derſelben
die geſetzlichen Studienpläne beſtehen, und neben ihnen ſtand unver-
mittelt ihr Gegenſatz in der abſtrakten Forderung der Lernfreiheit. Dieß
ſcheint die gegenwärtige Sachlage.
In unſerer Zeit nun iſt es wohl kein Zweifel, daß wir dieſe Lern-
freiheit nicht mehr im Namen der allgemeinen ſtaatsbürgerlichen Frei-
heit, wie zur Zeit Schleiermachers zu fordern haben. Die Verwaltungs-
lehre erkennt das Princip der Lernfreiheit unbedingt an. Aber ſie muß
im Namen des öffentlichen Intereſſes die Frage aufſtellen, ob dieſe
unbedingte Lernfreiheit im Stande iſt, die Gewähr für dasjenige
Maß der Berufsbildung zu bieten, ohne welches die Berufsfunktionen
den Anforderungen unſerer Zeit nicht genügen. Iſt das nicht der Fall,
ſo muß auch hier die Verwaltung fordern, daß die individuelle Freiheit
ſich dem Geſammtintereſſe unterordne, und ſomit die Begränzung des-
ſelben zu einem Theile des öffentlichen Bildungsrechts mache.
Offenbar nun wäre jene Gewähr bei unbedingter Lernfreiheit nur da
denkbar, wo das Syſtem der Prüfungen ausreichte, jenes Minimum
Stein, die Verwaltungslehre. V. 15
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 225. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/253>, abgerufen am 16.02.2025.
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