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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868.

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werden. Man muß daher auch auf diesem Punkte den geschehenen
Rückschritt nicht bloß in diesem Sinne, sondern eben so sehr in dem
der socialen Gegensätze beklagen.

Dieß sind die allgemeinen Grundzüge des französischen Volksschul-
wesens. Einzelnes zur Vergleichung im Folgenden.


Gesetzgebung. Im Allgemeinen wird man hier drei Abschnitte
unterscheiden. Der erste umfaßt alle Gesetze bis 1833. In dieser Zeit
kümmert sich die Gesetzgebung noch wenig um die Volksschule, und über-
läßt die Sache fast ganz den Ortsschulbehörden. Der zweite geht von
1830 bis 1850; er enthält die Aufstellung und Durchführung des
großen Princips der (deutschen) Selbstverwaltung des (Gemeinde-)
Schulwesens, und bildet die Epoche des Aufschwunges der ganzen
Volksbildung. Der dritte beginnt mit dem organischen Gesetze vom
15. März 1850 und der Inspektoralorganisation, nebst dem Reglement
vom 29. Juli und 7. Oktober; das Decret organique vom 9. März 1852
organisirte die Aufgabe und Competenz der Präfektur und mit ihm
der Behörden; auch im Schulwesen das Gesetz vom 14. Juni 1854
bestimmte namentlich das Verhältniß des Recteur zu den Prefets und
organisirte die Scheidung des öffentlichen Rechts der Lehre von dem der
Lehrer, was durch das hochwichtige Dekret vom 31. Oktober 1854 dann
genauer durchgeführt ward. Eine sehr gute Sammlung dieser Gesetze
der neuesten Epoche in: Lois, decrets et reglements relatifs a l'in-
struction publique
(vom 2. December 1851 bis 1855). Andere Samm-
lungen bei Block (Dictionnaire de l'Administration v. Instruction
publique
). Spezielle Bearbeitungen bei Laferriere, Cours de droit
administratif III. Tom. IV. Ch.
2 und 3; Batbie, Traite du droit
public et administratif III. Ch.
§. 165--179; beide mit großer Be-
rücksichtigung des Lehrer- und Schulrechts. -- Die französische Volks-
schulliteratur
ist in hohem Grade unbedeutend und besteht meistens
nur in Interpretation der Gesetze; es mangelt mit dem ethischen Ele-
ment des Berufes und Standes das höhere Element der Pädagogik.
Zwei gute Schriften von Eugene Rendu: De la loi de l'enseigne-
ment,
und de l'Education populaire dans l'Allemagne du Nord. --
Durch diesen Mangel jedes Standesbewußtseins und selbst jeder tüchtigen
Statistik hat auch die deutsche Literatur sich kein rechtes Urtheil bilden
können, um so weniger, da den Pädagogen, den einzigen, die sich bei
dem völligen Mangel der Verwaltungslehre mit dem Gegenstand ernstlich
beschäftigten, die Hauptsache, das öffentliche Recht und die organische
Bedeutung der Selbstverwaltung denn doch nicht so geläufig sein konnte.

werden. Man muß daher auch auf dieſem Punkte den geſchehenen
Rückſchritt nicht bloß in dieſem Sinne, ſondern eben ſo ſehr in dem
der ſocialen Gegenſätze beklagen.

Dieß ſind die allgemeinen Grundzüge des franzöſiſchen Volksſchul-
weſens. Einzelnes zur Vergleichung im Folgenden.


Geſetzgebung. Im Allgemeinen wird man hier drei Abſchnitte
unterſcheiden. Der erſte umfaßt alle Geſetze bis 1833. In dieſer Zeit
kümmert ſich die Geſetzgebung noch wenig um die Volksſchule, und über-
läßt die Sache faſt ganz den Ortsſchulbehörden. Der zweite geht von
1830 bis 1850; er enthält die Aufſtellung und Durchführung des
großen Princips der (deutſchen) Selbſtverwaltung des (Gemeinde-)
Schulweſens, und bildet die Epoche des Aufſchwunges der ganzen
Volksbildung. Der dritte beginnt mit dem organiſchen Geſetze vom
15. März 1850 und der Inſpektoralorganiſation, nebſt dem Reglement
vom 29. Juli und 7. Oktober; das Décret organique vom 9. März 1852
organiſirte die Aufgabe und Competenz der Präfektur und mit ihm
der Behörden; auch im Schulweſen das Geſetz vom 14. Juni 1854
beſtimmte namentlich das Verhältniß des Recteur zu den Préfets und
organiſirte die Scheidung des öffentlichen Rechts der Lehre von dem der
Lehrer, was durch das hochwichtige Dekret vom 31. Oktober 1854 dann
genauer durchgeführt ward. Eine ſehr gute Sammlung dieſer Geſetze
der neueſten Epoche in: Lois, décrets et réglements rélatifs à l’in-
struction publique
(vom 2. December 1851 bis 1855). Andere Samm-
lungen bei Block (Dictionnaire de l’Administration v. Instruction
publique
). Spezielle Bearbeitungen bei Laferrière, Cours de droit
administratif III. Tom. IV. Ch.
2 und 3; Batbie, Traité du droit
public et administratif III. Ch.
§. 165—179; beide mit großer Be-
rückſichtigung des Lehrer- und Schulrechts. — Die franzöſiſche Volks-
ſchulliteratur
iſt in hohem Grade unbedeutend und beſteht meiſtens
nur in Interpretation der Geſetze; es mangelt mit dem ethiſchen Ele-
ment des Berufes und Standes das höhere Element der Pädagogik.
Zwei gute Schriften von Eugène Rendu: De la loi de l’enseigne-
ment,
und de l’Education populaire dans l’Allemagne du Nord.
Durch dieſen Mangel jedes Standesbewußtſeins und ſelbſt jeder tüchtigen
Statiſtik hat auch die deutſche Literatur ſich kein rechtes Urtheil bilden
können, um ſo weniger, da den Pädagogen, den einzigen, die ſich bei
dem völligen Mangel der Verwaltungslehre mit dem Gegenſtand ernſtlich
beſchäftigten, die Hauptſache, das öffentliche Recht und die organiſche
Bedeutung der Selbſtverwaltung denn doch nicht ſo geläufig ſein konnte.

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[108/0136] werden. Man muß daher auch auf dieſem Punkte den geſchehenen Rückſchritt nicht bloß in dieſem Sinne, ſondern eben ſo ſehr in dem der ſocialen Gegenſätze beklagen. Dieß ſind die allgemeinen Grundzüge des franzöſiſchen Volksſchul- weſens. Einzelnes zur Vergleichung im Folgenden. Geſetzgebung. Im Allgemeinen wird man hier drei Abſchnitte unterſcheiden. Der erſte umfaßt alle Geſetze bis 1833. In dieſer Zeit kümmert ſich die Geſetzgebung noch wenig um die Volksſchule, und über- läßt die Sache faſt ganz den Ortsſchulbehörden. Der zweite geht von 1830 bis 1850; er enthält die Aufſtellung und Durchführung des großen Princips der (deutſchen) Selbſtverwaltung des (Gemeinde-) Schulweſens, und bildet die Epoche des Aufſchwunges der ganzen Volksbildung. Der dritte beginnt mit dem organiſchen Geſetze vom 15. März 1850 und der Inſpektoralorganiſation, nebſt dem Reglement vom 29. Juli und 7. Oktober; das Décret organique vom 9. März 1852 organiſirte die Aufgabe und Competenz der Präfektur und mit ihm der Behörden; auch im Schulweſen das Geſetz vom 14. Juni 1854 beſtimmte namentlich das Verhältniß des Recteur zu den Préfets und organiſirte die Scheidung des öffentlichen Rechts der Lehre von dem der Lehrer, was durch das hochwichtige Dekret vom 31. Oktober 1854 dann genauer durchgeführt ward. Eine ſehr gute Sammlung dieſer Geſetze der neueſten Epoche in: Lois, décrets et réglements rélatifs à l’in- struction publique (vom 2. December 1851 bis 1855). Andere Samm- lungen bei Block (Dictionnaire de l’Administration v. Instruction publique). Spezielle Bearbeitungen bei Laferrière, Cours de droit administratif III. Tom. IV. Ch. 2 und 3; Batbie, Traité du droit public et administratif III. Ch. §. 165—179; beide mit großer Be- rückſichtigung des Lehrer- und Schulrechts. — Die franzöſiſche Volks- ſchulliteratur iſt in hohem Grade unbedeutend und beſteht meiſtens nur in Interpretation der Geſetze; es mangelt mit dem ethiſchen Ele- ment des Berufes und Standes das höhere Element der Pädagogik. Zwei gute Schriften von Eugène Rendu: De la loi de l’enseigne- ment, und de l’Education populaire dans l’Allemagne du Nord. — Durch dieſen Mangel jedes Standesbewußtſeins und ſelbſt jeder tüchtigen Statiſtik hat auch die deutſche Literatur ſich kein rechtes Urtheil bilden können, um ſo weniger, da den Pädagogen, den einzigen, die ſich bei dem völligen Mangel der Verwaltungslehre mit dem Gegenſtand ernſtlich beſchäftigten, die Hauptſache, das öffentliche Recht und die organiſche Bedeutung der Selbſtverwaltung denn doch nicht ſo geläufig ſein konnte.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 5. Stuttgart, 1868, S. 108. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre05_1868/136>, abgerufen am 27.04.2024.