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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867.

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ist. Die Aufgabe des Erwerbs geistiger Güter (Bildung) kommt nicht
zur selbständigen Erscheinung.

5) Die Beendigung der Vormundschaft enthält die Haftung
der Vormünder. Aber diese Haftung ist eine privatrechtliche; der
Mündel muß sich seine Ansprüche selbst geltend machen.

Es ist klar, daß auf diese Weise die alte tutela fast ganz ver-
schwunden und an ihre Stelle ein allgemein gültiges System der Vor-
mundschaft getreten ist, in dem die früher als selbständige Rechtsverhält-
nisse erscheinenden Curatelen nur noch als untergeordnete Modifikationen
des einheitlichen Vormundschaftswesens auftreten. Leider behielt man
die alten Ausdrücke ohne historisches Verständniß in der Compilation
Tribonians bei, was zu einer endlosen Masse von ganz unnützen und
verwirrenden Ansichten Anlaß gegeben hat, so daß die Jurisprudenz
darüber das germanische Vormundschaftswesen gar nicht begriff, und
das staatsbürgerliche trotz guter Gesetze vielfach unklar machte.


Die bisherigen Bearbeitungen der römischen Vormundschaft begehen
den Fehler aller Lehren von den Pandekten, das römische Recht als
ein innerlich gleichartiges Ganzes anzusehen. Damit ist jedes Verständ-
niß, namentlich seines Verhältnisses zur gegenwärtigen Vormundschaft
so gut als unmöglich. Doch ist hier nicht der Ort, genauer darauf
einzugehen. (Vgl. meine oben citirte Abhandlung S. 242--266.)

b) Das Vormundschaftswesen der ständischen Epoche. (Das germanische
Vormundschaftsrecht.)

Während das römische Vormundschaftswesen auf dem Begriff der
Persönlichkeit und ihren einzelnen Momenten beruht, geht das der stän-
dischen Epoche aus dem Hauptfaktor der ständischen Rechtsbildung, der
Grundherrlichkeit und dem Lehnswesen hervor. Die Natur des letztern
macht namentlich die kriegerische Leistung des Vasallen gegenüber dem
Lehnsherrn zur Bedingung des Rechts auf den Lehnsbesitz. Die Ver-
tretung des Unmündigen enthält daher vor allen Dingen die Pflicht
zur Leistung dieser Dienste, und die Annahme derselben von Seiten
des Lehnsherrn. Aus dem erstern Satz entwickelt sich neben der Waffen-
vormundschaft zugleich die Frage, bis zu welchem Alter diese Waffen-
vertretung nothwendig wird. Die Unterschiede der Waffen- oder
persönlichen Mündigkeit und der wirthschaftlichen Volljährigkeit greifen
dabei ein, und erzeugen, da das germanische Recht an den Unterschied
von Tutel und Curatel nicht denkt, sehr verschiedene Bestimmungen, in
denen sich statt der obigen römischen Unterscheidung eine zweite endgültig

iſt. Die Aufgabe des Erwerbs geiſtiger Güter (Bildung) kommt nicht
zur ſelbſtändigen Erſcheinung.

5) Die Beendigung der Vormundſchaft enthält die Haftung
der Vormünder. Aber dieſe Haftung iſt eine privatrechtliche; der
Mündel muß ſich ſeine Anſprüche ſelbſt geltend machen.

Es iſt klar, daß auf dieſe Weiſe die alte tutela faſt ganz ver-
ſchwunden und an ihre Stelle ein allgemein gültiges Syſtem der Vor-
mundſchaft getreten iſt, in dem die früher als ſelbſtändige Rechtsverhält-
niſſe erſcheinenden Curatelen nur noch als untergeordnete Modifikationen
des einheitlichen Vormundſchaftsweſens auftreten. Leider behielt man
die alten Ausdrücke ohne hiſtoriſches Verſtändniß in der Compilation
Tribonians bei, was zu einer endloſen Maſſe von ganz unnützen und
verwirrenden Anſichten Anlaß gegeben hat, ſo daß die Jurisprudenz
darüber das germaniſche Vormundſchaftsweſen gar nicht begriff, und
das ſtaatsbürgerliche trotz guter Geſetze vielfach unklar machte.


Die bisherigen Bearbeitungen der römiſchen Vormundſchaft begehen
den Fehler aller Lehren von den Pandekten, das römiſche Recht als
ein innerlich gleichartiges Ganzes anzuſehen. Damit iſt jedes Verſtänd-
niß, namentlich ſeines Verhältniſſes zur gegenwärtigen Vormundſchaft
ſo gut als unmöglich. Doch iſt hier nicht der Ort, genauer darauf
einzugehen. (Vgl. meine oben citirte Abhandlung S. 242—266.)

b) Das Vormundſchaftsweſen der ſtändiſchen Epoche. (Das germaniſche
Vormundſchaftsrecht.)

Während das römiſche Vormundſchaftsweſen auf dem Begriff der
Perſönlichkeit und ihren einzelnen Momenten beruht, geht das der ſtän-
diſchen Epoche aus dem Hauptfaktor der ſtändiſchen Rechtsbildung, der
Grundherrlichkeit und dem Lehnsweſen hervor. Die Natur des letztern
macht namentlich die kriegeriſche Leiſtung des Vaſallen gegenüber dem
Lehnsherrn zur Bedingung des Rechts auf den Lehnsbeſitz. Die Ver-
tretung des Unmündigen enthält daher vor allen Dingen die Pflicht
zur Leiſtung dieſer Dienſte, und die Annahme derſelben von Seiten
des Lehnsherrn. Aus dem erſtern Satz entwickelt ſich neben der Waffen-
vormundſchaft zugleich die Frage, bis zu welchem Alter dieſe Waffen-
vertretung nothwendig wird. Die Unterſchiede der Waffen- oder
perſönlichen Mündigkeit und der wirthſchaftlichen Volljährigkeit greifen
dabei ein, und erzeugen, da das germaniſche Recht an den Unterſchied
von Tutel und Curatel nicht denkt, ſehr verſchiedene Beſtimmungen, in
denen ſich ſtatt der obigen römiſchen Unterſcheidung eine zweite endgültig

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[186/0208] iſt. Die Aufgabe des Erwerbs geiſtiger Güter (Bildung) kommt nicht zur ſelbſtändigen Erſcheinung. 5) Die Beendigung der Vormundſchaft enthält die Haftung der Vormünder. Aber dieſe Haftung iſt eine privatrechtliche; der Mündel muß ſich ſeine Anſprüche ſelbſt geltend machen. Es iſt klar, daß auf dieſe Weiſe die alte tutela faſt ganz ver- ſchwunden und an ihre Stelle ein allgemein gültiges Syſtem der Vor- mundſchaft getreten iſt, in dem die früher als ſelbſtändige Rechtsverhält- niſſe erſcheinenden Curatelen nur noch als untergeordnete Modifikationen des einheitlichen Vormundſchaftsweſens auftreten. Leider behielt man die alten Ausdrücke ohne hiſtoriſches Verſtändniß in der Compilation Tribonians bei, was zu einer endloſen Maſſe von ganz unnützen und verwirrenden Anſichten Anlaß gegeben hat, ſo daß die Jurisprudenz darüber das germaniſche Vormundſchaftsweſen gar nicht begriff, und das ſtaatsbürgerliche trotz guter Geſetze vielfach unklar machte. Die bisherigen Bearbeitungen der römiſchen Vormundſchaft begehen den Fehler aller Lehren von den Pandekten, das römiſche Recht als ein innerlich gleichartiges Ganzes anzuſehen. Damit iſt jedes Verſtänd- niß, namentlich ſeines Verhältniſſes zur gegenwärtigen Vormundſchaft ſo gut als unmöglich. Doch iſt hier nicht der Ort, genauer darauf einzugehen. (Vgl. meine oben citirte Abhandlung S. 242—266.) b) Das Vormundſchaftsweſen der ſtändiſchen Epoche. (Das germaniſche Vormundſchaftsrecht.) Während das römiſche Vormundſchaftsweſen auf dem Begriff der Perſönlichkeit und ihren einzelnen Momenten beruht, geht das der ſtän- diſchen Epoche aus dem Hauptfaktor der ſtändiſchen Rechtsbildung, der Grundherrlichkeit und dem Lehnsweſen hervor. Die Natur des letztern macht namentlich die kriegeriſche Leiſtung des Vaſallen gegenüber dem Lehnsherrn zur Bedingung des Rechts auf den Lehnsbeſitz. Die Ver- tretung des Unmündigen enthält daher vor allen Dingen die Pflicht zur Leiſtung dieſer Dienſte, und die Annahme derſelben von Seiten des Lehnsherrn. Aus dem erſtern Satz entwickelt ſich neben der Waffen- vormundſchaft zugleich die Frage, bis zu welchem Alter dieſe Waffen- vertretung nothwendig wird. Die Unterſchiede der Waffen- oder perſönlichen Mündigkeit und der wirthſchaftlichen Volljährigkeit greifen dabei ein, und erzeugen, da das germaniſche Recht an den Unterſchied von Tutel und Curatel nicht denkt, ſehr verſchiedene Beſtimmungen, in denen ſich ſtatt der obigen römiſchen Unterſcheidung eine zweite endgültig

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 4. Stuttgart, 1867, S. 186. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre04_1867/208>, abgerufen am 27.11.2024.