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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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vom 9. Nov. 1864 in der Austria 1865 S. 60. -- Die neueste eng-
lische Contagious Diseases Prevention Act bezieht sich nur auf Syphilis
(s. das Folgende).

II. Blattern und Impfungswesen.

Das Impfungswesen ist natürlich erst Gegenstand der Verwaltung
seit der Entdeckung der Möglichkeit, durch Menschen- oder Kuhpocken-
impfung sich gegen die Blattern zu schützen. Die damit eröffnete Sicher-
heit, vor der furchtbaren Gefahr der Blattern die Bevölkerungen zu
schützen, machte es den Verwaltungen unmöglich, gegen die Einführung
der Impfung auf die Dauer gleichgültig zu bleiben. Dadurch entstand
die Frage, deren Beantwortung als Grundlage alles Impfungswesens
anzusehen ist: ob die Regierung den in der polizeilichen Impfung lie-
genden Eingriff in die individuelle Freiheit zu machen berechtigt sei,
oder ob sie bloß bei der Herstellung der Bedingungen einer guten
Impfung, höchstens bei der Empfehlung derselben, stehen bleiben solle.
Offenbar ist die Voraussetzung des letzteren Standpunktes eine nicht
unbedeutende Bildung des Volkes; die Ueberzeugung, daß die letztere
durch ihren Mangel die Einführung der Schutzblattern unmöglich mache,
erzeugte bei einigen Gesetzgebungen das polizeiliche Impfungswesen und
die gesetzlichen Vorschriften für die Einführung desselben, während andere
dieselbe trotzdem der Bevölkerung überließen.

Daraus sind nun drei Systeme entstanden, die wir als das der
Impffreiheit, das der Impfungsbeförderung und das des Impf-
zwanges bezeichnen können. Das erstere besteht bis auf die neueste
Zeit auch in England, in Rußland, Spanien, Portugal u. s. w. Das
zweite namentlich in Frankreich. Das dritte in den Staaten Mittel-
europas. An das letztere hat sich demgemäß ein förmliches System
der polizeilichen Impfung
angeschlossen. Dieses System beruht
auf dem Grundsatz, einen indirekten Zwang zur Impfung durch den
Grundsatz auszuüben, daß die ärztliche Bestätigung der geschehenen
Impfung, der Impfschein, als Bedingung für gewisse öffentliche
Acte, namentlich die Verehelichung, angesehen wird, während beim
Militär die Impfung unmittelbar vorgenommen wird. Daran schließt
sich das medicinal-polizeiliche Impfwesen, welches auf folgenden Grund-
sätzen beruht: 1) Verpflichtung der Aerzte zur Impfung; 2) Organi-
sirung der Vertheilung gesunder Lymphe, als charakteristisches Merkmal
eines guten Impfwesens; 3) Einbeziehung des Impfwesens in die orga-
nische Thätigkeit der Gesundheitsverwaltung. -- Gleichförmigkeit ist auch
hier noch nicht erzielt.


vom 9. Nov. 1864 in der Auſtria 1865 S. 60. — Die neueſte eng-
liſche Contagious Diseases Prevention Act bezieht ſich nur auf Syphilis
(ſ. das Folgende).

II. Blattern und Impfungsweſen.

Das Impfungsweſen iſt natürlich erſt Gegenſtand der Verwaltung
ſeit der Entdeckung der Möglichkeit, durch Menſchen- oder Kuhpocken-
impfung ſich gegen die Blattern zu ſchützen. Die damit eröffnete Sicher-
heit, vor der furchtbaren Gefahr der Blattern die Bevölkerungen zu
ſchützen, machte es den Verwaltungen unmöglich, gegen die Einführung
der Impfung auf die Dauer gleichgültig zu bleiben. Dadurch entſtand
die Frage, deren Beantwortung als Grundlage alles Impfungsweſens
anzuſehen iſt: ob die Regierung den in der polizeilichen Impfung lie-
genden Eingriff in die individuelle Freiheit zu machen berechtigt ſei,
oder ob ſie bloß bei der Herſtellung der Bedingungen einer guten
Impfung, höchſtens bei der Empfehlung derſelben, ſtehen bleiben ſolle.
Offenbar iſt die Vorausſetzung des letzteren Standpunktes eine nicht
unbedeutende Bildung des Volkes; die Ueberzeugung, daß die letztere
durch ihren Mangel die Einführung der Schutzblattern unmöglich mache,
erzeugte bei einigen Geſetzgebungen das polizeiliche Impfungsweſen und
die geſetzlichen Vorſchriften für die Einführung deſſelben, während andere
dieſelbe trotzdem der Bevölkerung überließen.

Daraus ſind nun drei Syſteme entſtanden, die wir als das der
Impffreiheit, das der Impfungsbeförderung und das des Impf-
zwanges bezeichnen können. Das erſtere beſteht bis auf die neueſte
Zeit auch in England, in Rußland, Spanien, Portugal u. ſ. w. Das
zweite namentlich in Frankreich. Das dritte in den Staaten Mittel-
europas. An das letztere hat ſich demgemäß ein förmliches Syſtem
der polizeilichen Impfung
angeſchloſſen. Dieſes Syſtem beruht
auf dem Grundſatz, einen indirekten Zwang zur Impfung durch den
Grundſatz auszuüben, daß die ärztliche Beſtätigung der geſchehenen
Impfung, der Impfſchein, als Bedingung für gewiſſe öffentliche
Acte, namentlich die Verehelichung, angeſehen wird, während beim
Militär die Impfung unmittelbar vorgenommen wird. Daran ſchließt
ſich das medicinal-polizeiliche Impfweſen, welches auf folgenden Grund-
ſätzen beruht: 1) Verpflichtung der Aerzte zur Impfung; 2) Organi-
ſirung der Vertheilung geſunder Lymphe, als charakteriſtiſches Merkmal
eines guten Impfweſens; 3) Einbeziehung des Impfweſens in die orga-
niſche Thätigkeit der Geſundheitsverwaltung. — Gleichförmigkeit iſt auch
hier noch nicht erzielt.


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[46/0062] vom 9. Nov. 1864 in der Auſtria 1865 S. 60. — Die neueſte eng- liſche Contagious Diseases Prevention Act bezieht ſich nur auf Syphilis (ſ. das Folgende). II. Blattern und Impfungsweſen. Das Impfungsweſen iſt natürlich erſt Gegenſtand der Verwaltung ſeit der Entdeckung der Möglichkeit, durch Menſchen- oder Kuhpocken- impfung ſich gegen die Blattern zu ſchützen. Die damit eröffnete Sicher- heit, vor der furchtbaren Gefahr der Blattern die Bevölkerungen zu ſchützen, machte es den Verwaltungen unmöglich, gegen die Einführung der Impfung auf die Dauer gleichgültig zu bleiben. Dadurch entſtand die Frage, deren Beantwortung als Grundlage alles Impfungsweſens anzuſehen iſt: ob die Regierung den in der polizeilichen Impfung lie- genden Eingriff in die individuelle Freiheit zu machen berechtigt ſei, oder ob ſie bloß bei der Herſtellung der Bedingungen einer guten Impfung, höchſtens bei der Empfehlung derſelben, ſtehen bleiben ſolle. Offenbar iſt die Vorausſetzung des letzteren Standpunktes eine nicht unbedeutende Bildung des Volkes; die Ueberzeugung, daß die letztere durch ihren Mangel die Einführung der Schutzblattern unmöglich mache, erzeugte bei einigen Geſetzgebungen das polizeiliche Impfungsweſen und die geſetzlichen Vorſchriften für die Einführung deſſelben, während andere dieſelbe trotzdem der Bevölkerung überließen. Daraus ſind nun drei Syſteme entſtanden, die wir als das der Impffreiheit, das der Impfungsbeförderung und das des Impf- zwanges bezeichnen können. Das erſtere beſteht bis auf die neueſte Zeit auch in England, in Rußland, Spanien, Portugal u. ſ. w. Das zweite namentlich in Frankreich. Das dritte in den Staaten Mittel- europas. An das letztere hat ſich demgemäß ein förmliches Syſtem der polizeilichen Impfung angeſchloſſen. Dieſes Syſtem beruht auf dem Grundſatz, einen indirekten Zwang zur Impfung durch den Grundſatz auszuüben, daß die ärztliche Beſtätigung der geſchehenen Impfung, der Impfſchein, als Bedingung für gewiſſe öffentliche Acte, namentlich die Verehelichung, angeſehen wird, während beim Militär die Impfung unmittelbar vorgenommen wird. Daran ſchließt ſich das medicinal-polizeiliche Impfweſen, welches auf folgenden Grund- ſätzen beruht: 1) Verpflichtung der Aerzte zur Impfung; 2) Organi- ſirung der Vertheilung geſunder Lymphe, als charakteriſtiſches Merkmal eines guten Impfweſens; 3) Einbeziehung des Impfweſens in die orga- niſche Thätigkeit der Geſundheitsverwaltung. — Gleichförmigkeit iſt auch hier noch nicht erzielt.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 46. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/62>, abgerufen am 29.11.2024.