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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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dieselbe zu schreiben. Wir bemerken nur, daß hier der Standpunkt der
französischen und deutschen Literatur in Beziehung auf die Frage nach
dem Verhältniß beider Gebiete ein formell sehr verschiedener ist. In
Frankreich ist man sich über den Unterschied vollkommen klar, und hat
selbst das Gesundheitswesen für sich viel bestimmter vom verwaltungs-
rechtlichen Standpunkt aufgefaßt, als in Deutschland, dafür aber formell
beide Gebiete wieder unter dem gemeinsamen Begriff der "Jurisprudence
de la medecine"
zusammengestellt, zum Theil aus dem einfachen Grunde,
weil keine eigenen Vorlesungen darüber an dem Faculte gehalten wer-
den. Das Hauptwerk ist Trebuchet, Jurisprudence de la medecine,
de la chirurgie et de la pharmacie en France, comprenant la mede-
cine legale, la police medicale, la responsabilite des medecins, chirur-
giens etc., l'expose et la discussion des lois, ordonnances, reglements
et instructions conc. l'art de guerir
1834. Er sagt: "Nous compre-
nons dans la medecine legale non seulement tout ce qui ce rattache
aux lois criminelles et civiles, mais encore tout ce que tient a l'hy-
giene et la salubrite."
Aehnliche Verschmelzung bei Tardieu, Dic-
tionnaire d'Hygiene publique.
In der deutschen Literatur dagegen ist
die Scheidung materiell bereits im vorigen Jahrhundert vollzogen (s. das
Folgende), formell erhält sich aber die Vermengung noch vielfach und
ist offenbar der Grund des Unmuthes, mit dem logisch denkende Schrift-
steller sich über die Systemlosigkeit der deutschen Literatur des Medicinal-
wesens äußern. Rust, Medicinalverfassung von Preußen I. S. 11:
"Die Medicinalverwaltung in allen Staaten ist höchst unentwickelt und
ungleich verschiedener als irgend eine andere Doctrin." Stoll, Staats-
wirthschaftliche Untersuchung über das Medicinalwesen, Wien 1842: "Die
Gesundheitsverwaltung ist ein Chaos ohne Form und Leben." Vergl.
Haller, Vorlesungen über gerichtliche Arznei I. S. 95, und zuletzt noch
den Streit zwischen Rönne und Horn in Rönne, Staatsrecht der
preußischen Monarchie II. S. 351. Doch hat die Polizeiwissenschaft der
neuern Zeit bereits streng geschieden, wie bei Jacob und Mohl, jedoch
noch ohne von den Medicinern beachtet zu werden.

III. Elemente der Geschichte des Gesundheitswesens.

Die beiden großen, jeder für sich selbständig wirkenden Faktoren
der Geschichte des Gesundheitswesens sind dem Obigen zufolge einerseits
und in erster Reihe die Entwicklung der selbständigen, von der Rechts-
pflege sich trennenden Verwaltung des Innern, andererseits die Geschichte
der ärztlichen Wissenschaften selbst. Die erstere gibt der Geschichte des
Gesundheitswesens Form und Organismus, die zweite gibt ihr Inhalt und

dieſelbe zu ſchreiben. Wir bemerken nur, daß hier der Standpunkt der
franzöſiſchen und deutſchen Literatur in Beziehung auf die Frage nach
dem Verhältniß beider Gebiete ein formell ſehr verſchiedener iſt. In
Frankreich iſt man ſich über den Unterſchied vollkommen klar, und hat
ſelbſt das Geſundheitsweſen für ſich viel beſtimmter vom verwaltungs-
rechtlichen Standpunkt aufgefaßt, als in Deutſchland, dafür aber formell
beide Gebiete wieder unter dem gemeinſamen Begriff der „Jurisprudence
de la médecine“
zuſammengeſtellt, zum Theil aus dem einfachen Grunde,
weil keine eigenen Vorleſungen darüber an dem Faculté gehalten wer-
den. Das Hauptwerk iſt Trébuchet, Jurisprudence de la médecine,
de la chirurgie et de la pharmacie en France, comprenant la méde-
cine légale, la police médicale, la responsabilité des médecins, chirur-
giens etc., l’exposé et la discussion des lois, ordonnances, réglements
et instructions conc. l’art de guérir
1834. Er ſagt: „Nous compre-
nons dans la médecine légale non seulement tout ce qui ce rattache
aux lois criminelles et civiles, mais encore tout ce que tient à l’hy-
giène et la salubrité.“
Aehnliche Verſchmelzung bei Tardieu, Dic-
tionnaire d’Hygiène publique.
In der deutſchen Literatur dagegen iſt
die Scheidung materiell bereits im vorigen Jahrhundert vollzogen (ſ. das
Folgende), formell erhält ſich aber die Vermengung noch vielfach und
iſt offenbar der Grund des Unmuthes, mit dem logiſch denkende Schrift-
ſteller ſich über die Syſtemloſigkeit der deutſchen Literatur des Medicinal-
weſens äußern. Ruſt, Medicinalverfaſſung von Preußen I. S. 11:
„Die Medicinalverwaltung in allen Staaten iſt höchſt unentwickelt und
ungleich verſchiedener als irgend eine andere Doctrin.“ Stoll, Staats-
wirthſchaftliche Unterſuchung über das Medicinalweſen, Wien 1842: „Die
Geſundheitsverwaltung iſt ein Chaos ohne Form und Leben.“ Vergl.
Haller, Vorleſungen über gerichtliche Arznei I. S. 95, und zuletzt noch
den Streit zwiſchen Rönne und Horn in Rönne, Staatsrecht der
preußiſchen Monarchie II. S. 351. Doch hat die Polizeiwiſſenſchaft der
neuern Zeit bereits ſtreng geſchieden, wie bei Jacob und Mohl, jedoch
noch ohne von den Medicinern beachtet zu werden.

III. Elemente der Geſchichte des Geſundheitsweſens.

Die beiden großen, jeder für ſich ſelbſtändig wirkenden Faktoren
der Geſchichte des Geſundheitsweſens ſind dem Obigen zufolge einerſeits
und in erſter Reihe die Entwicklung der ſelbſtändigen, von der Rechts-
pflege ſich trennenden Verwaltung des Innern, andererſeits die Geſchichte
der ärztlichen Wiſſenſchaften ſelbſt. Die erſtere gibt der Geſchichte des
Geſundheitsweſens Form und Organismus, die zweite gibt ihr Inhalt und

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[7/0023] dieſelbe zu ſchreiben. Wir bemerken nur, daß hier der Standpunkt der franzöſiſchen und deutſchen Literatur in Beziehung auf die Frage nach dem Verhältniß beider Gebiete ein formell ſehr verſchiedener iſt. In Frankreich iſt man ſich über den Unterſchied vollkommen klar, und hat ſelbſt das Geſundheitsweſen für ſich viel beſtimmter vom verwaltungs- rechtlichen Standpunkt aufgefaßt, als in Deutſchland, dafür aber formell beide Gebiete wieder unter dem gemeinſamen Begriff der „Jurisprudence de la médecine“ zuſammengeſtellt, zum Theil aus dem einfachen Grunde, weil keine eigenen Vorleſungen darüber an dem Faculté gehalten wer- den. Das Hauptwerk iſt Trébuchet, Jurisprudence de la médecine, de la chirurgie et de la pharmacie en France, comprenant la méde- cine légale, la police médicale, la responsabilité des médecins, chirur- giens etc., l’exposé et la discussion des lois, ordonnances, réglements et instructions conc. l’art de guérir 1834. Er ſagt: „Nous compre- nons dans la médecine légale non seulement tout ce qui ce rattache aux lois criminelles et civiles, mais encore tout ce que tient à l’hy- giène et la salubrité.“ Aehnliche Verſchmelzung bei Tardieu, Dic- tionnaire d’Hygiène publique. In der deutſchen Literatur dagegen iſt die Scheidung materiell bereits im vorigen Jahrhundert vollzogen (ſ. das Folgende), formell erhält ſich aber die Vermengung noch vielfach und iſt offenbar der Grund des Unmuthes, mit dem logiſch denkende Schrift- ſteller ſich über die Syſtemloſigkeit der deutſchen Literatur des Medicinal- weſens äußern. Ruſt, Medicinalverfaſſung von Preußen I. S. 11: „Die Medicinalverwaltung in allen Staaten iſt höchſt unentwickelt und ungleich verſchiedener als irgend eine andere Doctrin.“ Stoll, Staats- wirthſchaftliche Unterſuchung über das Medicinalweſen, Wien 1842: „Die Geſundheitsverwaltung iſt ein Chaos ohne Form und Leben.“ Vergl. Haller, Vorleſungen über gerichtliche Arznei I. S. 95, und zuletzt noch den Streit zwiſchen Rönne und Horn in Rönne, Staatsrecht der preußiſchen Monarchie II. S. 351. Doch hat die Polizeiwiſſenſchaft der neuern Zeit bereits ſtreng geſchieden, wie bei Jacob und Mohl, jedoch noch ohne von den Medicinern beachtet zu werden. III. Elemente der Geſchichte des Geſundheitsweſens. Die beiden großen, jeder für ſich ſelbſtändig wirkenden Faktoren der Geſchichte des Geſundheitsweſens ſind dem Obigen zufolge einerſeits und in erſter Reihe die Entwicklung der ſelbſtändigen, von der Rechts- pflege ſich trennenden Verwaltung des Innern, andererſeits die Geſchichte der ärztlichen Wiſſenſchaften ſelbſt. Die erſtere gibt der Geſchichte des Geſundheitsweſens Form und Organismus, die zweite gibt ihr Inhalt und

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 7. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/23>, abgerufen am 27.04.2024.