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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867.

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Die hierauf bezüglichen Bestimmungen sind nur in einzelnen Län-
dern Gegenstand einer codificirten Gesetzgebung, während namentlich in
Deutschland die Gewähr für die gute und gesicherte Verwaltung des
Irrenwesens noch immer mehr auf der Thätigkeit der Oberaufsicht, als
auf organischen Gesetzen beruht, was eben nur dadurch erklärt und er-
tragen werden kann, daß die medicinische Bildung selbst, die wahre
Grundlage des Ganzen, hier am höchsten steht, und das strenge admini-
strative Gesetz zu ersetzen weiß. Die juristische Seite der Irrengesetz-
gebung entbehrt in Deutschland der Einheit; für die meisten kleineren
Staaten scheint sie ganz zu fehlen.


In der ganzen Irren-Literatur haben selbst auf juristischem Ge-
biete die Mediciner viel mehr geleistet als die Juristen. Die Gesetz-
gebung ist die reichste im ganzen Gesundheitswesen. Ueber England
ist das Hauptwerk: Schlemm, Bericht über das brittische Irrenwesen
1848. Die neueste Gesetzgebung dagegen bei Gneist, Engl. Verwal-
tungsrecht II. §. 110 (Lunatic Asylum). Erste Periode: reine Sicher-
heitspolizei gegen gefährliche Irren 17 G. II. 5, jedoch schon mit dem
Verbot, Irren ohne Genehmigung in Privathäuser aufzunehmen. Zweite:
Errichtung von öffentlichen Irrenhäusern (Lunacy Asylum 48 G. III. 96.
1808): Pflicht zur Aufnahme gegen Erklärung von zwei Friedensrich-
tern. Die Verwaltung der Irrenhäuser unter besondere Commissionen
gestellt 9 G. IV. 40, welche auch Licenses für Irrenanstalten geben;
eine förmliche organische Gesetzgebung über die ganze Irrenverwaltung
dann zuerst 8, 9 Vict. 120 und 126; das letzte, alle gesetzlichen Bestim-
mungen über Aufnahme und Entlassung, Verwaltung und Oberaufsicht
zusammenfassende Gesetz der Lunacy Asylums Act 16, 17 Vict. 97.
(1853) unter den Commissioners in Lunacy (s. Gneist a. a. O. S.
731). Das Ganze ist gut charakterisirt bei Schlemm S. 27: die eng-
lische Irrengesetzgebung hat die strenge Tendenz "die Sache der Irren
aus den Händen der Aerzte in die der Richter zu geben
."
Doch fehlen Bestimmungen über die gesetzliche Irrenerklärung und die
Vormünder. Das neueste Statut 25, 26 Vict. 86 (Lunacy Regulation
Act 1862)
regelt die Inspektion der Irrenhäuser, Herstellung eines
amtlichen Registers und Recht auf Berufung einer Jury -- durch den
Irren! -- Das Gesetz über die wahnsinnigen Gefangenen 3, 4 Vict.
54 etwas geändert durch 27, 28 Vict. 99. -- Die französische Ge-
setzgebung ist sehr umfassend und vortrefflich, namentlich in ihrem
administrativen Theil musterhaft. Ueber das Pflegschaftswesen der
Irren schon der Code Civ. 489 und 490, 509, 510; Recht der Behörde

Die hierauf bezüglichen Beſtimmungen ſind nur in einzelnen Län-
dern Gegenſtand einer codificirten Geſetzgebung, während namentlich in
Deutſchland die Gewähr für die gute und geſicherte Verwaltung des
Irrenweſens noch immer mehr auf der Thätigkeit der Oberaufſicht, als
auf organiſchen Geſetzen beruht, was eben nur dadurch erklärt und er-
tragen werden kann, daß die mediciniſche Bildung ſelbſt, die wahre
Grundlage des Ganzen, hier am höchſten ſteht, und das ſtrenge admini-
ſtrative Geſetz zu erſetzen weiß. Die juriſtiſche Seite der Irrengeſetz-
gebung entbehrt in Deutſchland der Einheit; für die meiſten kleineren
Staaten ſcheint ſie ganz zu fehlen.


In der ganzen Irren-Literatur haben ſelbſt auf juriſtiſchem Ge-
biete die Mediciner viel mehr geleiſtet als die Juriſten. Die Geſetz-
gebung iſt die reichſte im ganzen Geſundheitsweſen. Ueber England
iſt das Hauptwerk: Schlemm, Bericht über das brittiſche Irrenweſen
1848. Die neueſte Geſetzgebung dagegen bei Gneiſt, Engl. Verwal-
tungsrecht II. §. 110 (Lunatic Asylum). Erſte Periode: reine Sicher-
heitspolizei gegen gefährliche Irren 17 G. II. 5, jedoch ſchon mit dem
Verbot, Irren ohne Genehmigung in Privathäuſer aufzunehmen. Zweite:
Errichtung von öffentlichen Irrenhäuſern (Lunacy Asylum 48 G. III. 96.
1808): Pflicht zur Aufnahme gegen Erklärung von zwei Friedensrich-
tern. Die Verwaltung der Irrenhäuſer unter beſondere Commiſſionen
geſtellt 9 G. IV. 40, welche auch Licenses für Irrenanſtalten geben;
eine förmliche organiſche Geſetzgebung über die ganze Irrenverwaltung
dann zuerſt 8, 9 Vict. 120 und 126; das letzte, alle geſetzlichen Beſtim-
mungen über Aufnahme und Entlaſſung, Verwaltung und Oberaufſicht
zuſammenfaſſende Geſetz der Lunacy Asylums Act 16, 17 Vict. 97.
(1853) unter den Commissioners in Lunacy (ſ. Gneiſt a. a. O. S.
731). Das Ganze iſt gut charakteriſirt bei Schlemm S. 27: die eng-
liſche Irrengeſetzgebung hat die ſtrenge Tendenz „die Sache der Irren
aus den Händen der Aerzte in die der Richter zu geben
.“
Doch fehlen Beſtimmungen über die geſetzliche Irrenerklärung und die
Vormünder. Das neueſte Statut 25, 26 Vict. 86 (Lunacy Regulation
Act 1862)
regelt die Inſpektion der Irrenhäuſer, Herſtellung eines
amtlichen Regiſters und Recht auf Berufung einer Jury — durch den
Irren! — Das Geſetz über die wahnſinnigen Gefangenen 3, 4 Vict.
54 etwas geändert durch 27, 28 Vict. 99. — Die franzöſiſche Ge-
ſetzgebung iſt ſehr umfaſſend und vortrefflich, namentlich in ihrem
adminiſtrativen Theil muſterhaft. Ueber das Pflegſchaftsweſen der
Irren ſchon der Code Civ. 489 und 490, 509, 510; Recht der Behörde

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[128/0144] Die hierauf bezüglichen Beſtimmungen ſind nur in einzelnen Län- dern Gegenſtand einer codificirten Geſetzgebung, während namentlich in Deutſchland die Gewähr für die gute und geſicherte Verwaltung des Irrenweſens noch immer mehr auf der Thätigkeit der Oberaufſicht, als auf organiſchen Geſetzen beruht, was eben nur dadurch erklärt und er- tragen werden kann, daß die mediciniſche Bildung ſelbſt, die wahre Grundlage des Ganzen, hier am höchſten ſteht, und das ſtrenge admini- ſtrative Geſetz zu erſetzen weiß. Die juriſtiſche Seite der Irrengeſetz- gebung entbehrt in Deutſchland der Einheit; für die meiſten kleineren Staaten ſcheint ſie ganz zu fehlen. In der ganzen Irren-Literatur haben ſelbſt auf juriſtiſchem Ge- biete die Mediciner viel mehr geleiſtet als die Juriſten. Die Geſetz- gebung iſt die reichſte im ganzen Geſundheitsweſen. Ueber England iſt das Hauptwerk: Schlemm, Bericht über das brittiſche Irrenweſen 1848. Die neueſte Geſetzgebung dagegen bei Gneiſt, Engl. Verwal- tungsrecht II. §. 110 (Lunatic Asylum). Erſte Periode: reine Sicher- heitspolizei gegen gefährliche Irren 17 G. II. 5, jedoch ſchon mit dem Verbot, Irren ohne Genehmigung in Privathäuſer aufzunehmen. Zweite: Errichtung von öffentlichen Irrenhäuſern (Lunacy Asylum 48 G. III. 96. 1808): Pflicht zur Aufnahme gegen Erklärung von zwei Friedensrich- tern. Die Verwaltung der Irrenhäuſer unter beſondere Commiſſionen geſtellt 9 G. IV. 40, welche auch Licenses für Irrenanſtalten geben; eine förmliche organiſche Geſetzgebung über die ganze Irrenverwaltung dann zuerſt 8, 9 Vict. 120 und 126; das letzte, alle geſetzlichen Beſtim- mungen über Aufnahme und Entlaſſung, Verwaltung und Oberaufſicht zuſammenfaſſende Geſetz der Lunacy Asylums Act 16, 17 Vict. 97. (1853) unter den Commissioners in Lunacy (ſ. Gneiſt a. a. O. S. 731). Das Ganze iſt gut charakteriſirt bei Schlemm S. 27: die eng- liſche Irrengeſetzgebung hat die ſtrenge Tendenz „die Sache der Irren aus den Händen der Aerzte in die der Richter zu geben.“ Doch fehlen Beſtimmungen über die geſetzliche Irrenerklärung und die Vormünder. Das neueſte Statut 25, 26 Vict. 86 (Lunacy Regulation Act 1862) regelt die Inſpektion der Irrenhäuſer, Herſtellung eines amtlichen Regiſters und Recht auf Berufung einer Jury — durch den Irren! — Das Geſetz über die wahnſinnigen Gefangenen 3, 4 Vict. 54 etwas geändert durch 27, 28 Vict. 99. — Die franzöſiſche Ge- ſetzgebung iſt ſehr umfaſſend und vortrefflich, namentlich in ihrem adminiſtrativen Theil muſterhaft. Ueber das Pflegſchaftsweſen der Irren ſchon der Code Civ. 489 und 490, 509, 510; Recht der Behörde

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 3 (2,2). Stuttgart, 1867, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre03_1867/144>, abgerufen am 23.11.2024.