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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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sittliche Existenz. Die Freiheit der deutschen Anschauung besteht daher
nicht darin, daß der Staat erst durch den Staatsbürger geschaffen wird,
sondern daß in dem sittlichen Wesen des Staats die Gränze
der Gewalt desselben
über dem Einzelnen oder sein Recht liege.
Das Staatsrecht ist der deutschen Staatsphilosophie daher ein sitt-
liches
Recht, erkannt durch die Philosophie vom Wesen des Staats.
Und jetzt beginnt daher eine neue Epoche, deren Inhalt nicht mehr wie
beim Wohlfahrtsstaat die praktische Verwaltungsaufgabe des Staats,
sondern vielmehr der abstrakte Begriff von Staat und Recht und seine
dialektische Deduktion ist. Diese Entwicklung beginnt bei Kant, bei
dem der Staat eine Kategorie ist; bei Fichte erscheint jene Richtung
in der logischen Unmöglichkeit, den Staat dialektisch durch einen Ver-
trag von Persönlichkeiten zu begründen, deren Wesen und Freiheit darin
besteht, an die Haltung ihres Vertrages nicht durch sich selbst gebunden
zu sein; bei Hegel ist der Staat ein immanentes, gegebenes Moment
des sich entwickelnden Geistes, dessen Dasein so wenig wie das irgend
eines anderen Begriffes eines Vertrages bedarf; bei Herbart ist er
eine Thatsache, also kein Produkt; bei Kraus ist er eine geistige Er-
scheinung; bei Haller ist er eine göttliche Institution; bei Stahl ist
er ein aus der christlichen Weltanschauung fließendes sittliches Dasein;
kurz man mag sehen wohin man will, die deutsche Philosophie hat den
Begriff des Vertragsstaats gar nie in sich aufgenommen. Aber
um ihn dennoch in seiner Oberherrlichkeit über den Einzelnen zu be-
gründen, mußte jetzt die Begriffsbestimmung und damit das Recht des
Staats aus den höchsten Begriffen der Weltanschauung überhaupt ent-
wickelt werden. Jene deutsche Idee des Staats mußte ihre Berechti-
gung daraus schöpfen, daß sie sich als organisches Moment einer ganzen
ethischen und philosophisch entwickelten Weltanschauung darstellte. Und
daraus folgte nun das, was die Staats- und Rechtsphilosophie Deutsch-
lands seit dem Beginn dieses Jahrhunderts charakterisirt. Die Staats-
und Rechtsphilosophie wird -- wir sagen geradezu unwillkürlich --
aus einer Lehre vom Inhalt des Staats zu einer philosophischen
Deduktion des Staatsbegriffs
, deren Grundlage bei den meisten
wieder der den Staat wie das ganze übrige Leben umfassende Begriff
des Rechts ist. Dieser rechtliche Staatsbegriff ist eben daher, den An-
forderungen seiner Zeit fast unwillkürlich entsprechend, durchdrungen von
dem Gefühl, daß die Berechtigung des Staats, die Freiheit des Einzel-
nen zu beschränken, auf der philosophisch-dialektischen Rich-
tigkeit des Rechts- und Staatsbegriffes beruhe
. So er-
scheint der Rechtsstaat als abstrakte Staatstheorie, und der charakteri-
stische Unterschied dieser Zeit und der vorhergehenden zeigt sich am besten

ſittliche Exiſtenz. Die Freiheit der deutſchen Anſchauung beſteht daher
nicht darin, daß der Staat erſt durch den Staatsbürger geſchaffen wird,
ſondern daß in dem ſittlichen Weſen des Staats die Gränze
der Gewalt deſſelben
über dem Einzelnen oder ſein Recht liege.
Das Staatsrecht iſt der deutſchen Staatsphiloſophie daher ein ſitt-
liches
Recht, erkannt durch die Philoſophie vom Weſen des Staats.
Und jetzt beginnt daher eine neue Epoche, deren Inhalt nicht mehr wie
beim Wohlfahrtsſtaat die praktiſche Verwaltungsaufgabe des Staats,
ſondern vielmehr der abſtrakte Begriff von Staat und Recht und ſeine
dialektiſche Deduktion iſt. Dieſe Entwicklung beginnt bei Kant, bei
dem der Staat eine Kategorie iſt; bei Fichte erſcheint jene Richtung
in der logiſchen Unmöglichkeit, den Staat dialektiſch durch einen Ver-
trag von Perſönlichkeiten zu begründen, deren Weſen und Freiheit darin
beſteht, an die Haltung ihres Vertrages nicht durch ſich ſelbſt gebunden
zu ſein; bei Hegel iſt der Staat ein immanentes, gegebenes Moment
des ſich entwickelnden Geiſtes, deſſen Daſein ſo wenig wie das irgend
eines anderen Begriffes eines Vertrages bedarf; bei Herbart iſt er
eine Thatſache, alſo kein Produkt; bei Kraus iſt er eine geiſtige Er-
ſcheinung; bei Haller iſt er eine göttliche Inſtitution; bei Stahl iſt
er ein aus der chriſtlichen Weltanſchauung fließendes ſittliches Daſein;
kurz man mag ſehen wohin man will, die deutſche Philoſophie hat den
Begriff des Vertragsſtaats gar nie in ſich aufgenommen. Aber
um ihn dennoch in ſeiner Oberherrlichkeit über den Einzelnen zu be-
gründen, mußte jetzt die Begriffsbeſtimmung und damit das Recht des
Staats aus den höchſten Begriffen der Weltanſchauung überhaupt ent-
wickelt werden. Jene deutſche Idee des Staats mußte ihre Berechti-
gung daraus ſchöpfen, daß ſie ſich als organiſches Moment einer ganzen
ethiſchen und philoſophiſch entwickelten Weltanſchauung darſtellte. Und
daraus folgte nun das, was die Staats- und Rechtsphiloſophie Deutſch-
lands ſeit dem Beginn dieſes Jahrhunderts charakteriſirt. Die Staats-
und Rechtsphiloſophie wird — wir ſagen geradezu unwillkürlich —
aus einer Lehre vom Inhalt des Staats zu einer philoſophiſchen
Deduktion des Staatsbegriffs
, deren Grundlage bei den meiſten
wieder der den Staat wie das ganze übrige Leben umfaſſende Begriff
des Rechts iſt. Dieſer rechtliche Staatsbegriff iſt eben daher, den An-
forderungen ſeiner Zeit faſt unwillkürlich entſprechend, durchdrungen von
dem Gefühl, daß die Berechtigung des Staats, die Freiheit des Einzel-
nen zu beſchränken, auf der philoſophiſch-dialektiſchen Rich-
tigkeit des Rechts- und Staatsbegriffes beruhe
. So er-
ſcheint der Rechtsſtaat als abſtrakte Staatstheorie, und der charakteri-
ſtiſche Unterſchied dieſer Zeit und der vorhergehenden zeigt ſich am beſten

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[26/0048] ſittliche Exiſtenz. Die Freiheit der deutſchen Anſchauung beſteht daher nicht darin, daß der Staat erſt durch den Staatsbürger geſchaffen wird, ſondern daß in dem ſittlichen Weſen des Staats die Gränze der Gewalt deſſelben über dem Einzelnen oder ſein Recht liege. Das Staatsrecht iſt der deutſchen Staatsphiloſophie daher ein ſitt- liches Recht, erkannt durch die Philoſophie vom Weſen des Staats. Und jetzt beginnt daher eine neue Epoche, deren Inhalt nicht mehr wie beim Wohlfahrtsſtaat die praktiſche Verwaltungsaufgabe des Staats, ſondern vielmehr der abſtrakte Begriff von Staat und Recht und ſeine dialektiſche Deduktion iſt. Dieſe Entwicklung beginnt bei Kant, bei dem der Staat eine Kategorie iſt; bei Fichte erſcheint jene Richtung in der logiſchen Unmöglichkeit, den Staat dialektiſch durch einen Ver- trag von Perſönlichkeiten zu begründen, deren Weſen und Freiheit darin beſteht, an die Haltung ihres Vertrages nicht durch ſich ſelbſt gebunden zu ſein; bei Hegel iſt der Staat ein immanentes, gegebenes Moment des ſich entwickelnden Geiſtes, deſſen Daſein ſo wenig wie das irgend eines anderen Begriffes eines Vertrages bedarf; bei Herbart iſt er eine Thatſache, alſo kein Produkt; bei Kraus iſt er eine geiſtige Er- ſcheinung; bei Haller iſt er eine göttliche Inſtitution; bei Stahl iſt er ein aus der chriſtlichen Weltanſchauung fließendes ſittliches Daſein; kurz man mag ſehen wohin man will, die deutſche Philoſophie hat den Begriff des Vertragsſtaats gar nie in ſich aufgenommen. Aber um ihn dennoch in ſeiner Oberherrlichkeit über den Einzelnen zu be- gründen, mußte jetzt die Begriffsbeſtimmung und damit das Recht des Staats aus den höchſten Begriffen der Weltanſchauung überhaupt ent- wickelt werden. Jene deutſche Idee des Staats mußte ihre Berechti- gung daraus ſchöpfen, daß ſie ſich als organiſches Moment einer ganzen ethiſchen und philoſophiſch entwickelten Weltanſchauung darſtellte. Und daraus folgte nun das, was die Staats- und Rechtsphiloſophie Deutſch- lands ſeit dem Beginn dieſes Jahrhunderts charakteriſirt. Die Staats- und Rechtsphiloſophie wird — wir ſagen geradezu unwillkürlich — aus einer Lehre vom Inhalt des Staats zu einer philoſophiſchen Deduktion des Staatsbegriffs, deren Grundlage bei den meiſten wieder der den Staat wie das ganze übrige Leben umfaſſende Begriff des Rechts iſt. Dieſer rechtliche Staatsbegriff iſt eben daher, den An- forderungen ſeiner Zeit faſt unwillkürlich entſprechend, durchdrungen von dem Gefühl, daß die Berechtigung des Staats, die Freiheit des Einzel- nen zu beſchränken, auf der philoſophiſch-dialektiſchen Rich- tigkeit des Rechts- und Staatsbegriffes beruhe. So er- ſcheint der Rechtsſtaat als abſtrakte Staatstheorie, und der charakteri- ſtiſche Unterſchied dieſer Zeit und der vorhergehenden zeigt ſich am beſten

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 26. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/48>, abgerufen am 25.04.2024.