war es nun, was durch seine Ausführung im Einzelnen zuletzt den Charakter jener eudämonistischen Verwaltungslehre im Ganzen umge- staltete. Die theoretischen Grundsätze der ersteren, die noch unter Pufen- dorf und Wolf als Philosophie erschienen, werden namentlich im ersten Jahrhundert zu sehr positiven Vorschriften und Maßregeln. Der Wohl- fahrtsstaat wird eine Zwangsanstalt für das Glück der Völker, negativ, indem es die letztern vor allem schützt, was die Eudämonie für gefährlich hält, positiv, indem es ihnen gebietet, was als nützlich erkannt wird. Und in dieser von den Lehrkanzeln herabsteigenden, in allem Kleinen groß, gegenüber allem Schwachen stark, immer aber unbe- rufen und ohne Dank das "Gute" und das "Wohl" durch seine Zwangs- organe vollziehenden Gestalt wurde aus dem theoretischen Wohlfahrts- staat der praktische Polizeistaat.
Das ist der Sinn und der innere, organische Begriff des vielbe- sprochenen Polizeistaates, der dem Rechtsstaat voraufgeht. Nie hat eine Staatsidee Besseres gewollt, nie hat ihr Wollen und Thun so viel Wider- stand gefunden und nichts ist leichter begreiflich, als dieser Widerspruch des Polizeistaats. Diesen Widerspruch aber ertrugen die Germanen nicht. Und doch hätten sie ihn vielleicht lange ertragen, wenn jener Staat als Wohlfahrtsanstalt seine mächtige Hand noch an die großen und entscheidenden Bedingungen des Fortschrittes, die Gleichheit des Rechts und die Aufhebung der Privilegien gelegt hätte. Allein diese waren für ihn unantastbar, und die Völker sahen daher jenen Wohlfahrtsstaat nur da thätig, wo er im Namen des Volkswohls unbequem ward, ohne das Ganze zu fördern, im Einzelnen und Kleinen, im täglichen Leben, in den Sitten und Gewohnheiten, oft den harmlosen, fast immer den unbedeutenden Dingen, während in den großen Fragen diese Theorie in den Hintergrund trat und dem positiven, historischen Rechte seinen Lauf ließ. Das mußte ihr den Boden unter den wankenden Füßen nehmen. Zu dem Bewußtsein von der Unfähigkeit derselben, auf den für die Entwicklung entscheidend gewordenen Punkten auszureichen, trat allmählig der Widerwille, einer Gewalt im Kleinen unterworfen zu sein, die im Großen nicht helfen wollte oder konnte. Der ganze Standpunkt war unhaltbar geworden. Die Zeit war vorbei. Eine neue geistige Welt begann sich zu regen. Und es wird jetzt klar sein, weßhalb die- selbe, indem sie sich positiv der Verfassungsfrage in die Arme warf, negativ die ganze alte Verwaltungslehre als "Polizeiwissenschaft" von sich wies. In der jetzt folgenden Epoche kehrte sich daher das alte Verhältniß geradezu um. Statt daß bisher der Schwerpunkt der Staats- wissenschaft in der Verwaltung gelegen und die Verfassung von der- selben geradezu ausgeschlossen war, ward jetzt in der neuen Zeit die
war es nun, was durch ſeine Ausführung im Einzelnen zuletzt den Charakter jener eudämoniſtiſchen Verwaltungslehre im Ganzen umge- ſtaltete. Die theoretiſchen Grundſätze der erſteren, die noch unter Pufen- dorf und Wolf als Philoſophie erſchienen, werden namentlich im erſten Jahrhundert zu ſehr poſitiven Vorſchriften und Maßregeln. Der Wohl- fahrtsſtaat wird eine Zwangsanſtalt für das Glück der Völker, negativ, indem es die letztern vor allem ſchützt, was die Eudämonie für gefährlich hält, poſitiv, indem es ihnen gebietet, was als nützlich erkannt wird. Und in dieſer von den Lehrkanzeln herabſteigenden, in allem Kleinen groß, gegenüber allem Schwachen ſtark, immer aber unbe- rufen und ohne Dank das „Gute“ und das „Wohl“ durch ſeine Zwangs- organe vollziehenden Geſtalt wurde aus dem theoretiſchen Wohlfahrts- ſtaat der praktiſche Polizeiſtaat.
Das iſt der Sinn und der innere, organiſche Begriff des vielbe- ſprochenen Polizeiſtaates, der dem Rechtsſtaat voraufgeht. Nie hat eine Staatsidee Beſſeres gewollt, nie hat ihr Wollen und Thun ſo viel Wider- ſtand gefunden und nichts iſt leichter begreiflich, als dieſer Widerſpruch des Polizeiſtaats. Dieſen Widerſpruch aber ertrugen die Germanen nicht. Und doch hätten ſie ihn vielleicht lange ertragen, wenn jener Staat als Wohlfahrtsanſtalt ſeine mächtige Hand noch an die großen und entſcheidenden Bedingungen des Fortſchrittes, die Gleichheit des Rechts und die Aufhebung der Privilegien gelegt hätte. Allein dieſe waren für ihn unantaſtbar, und die Völker ſahen daher jenen Wohlfahrtsſtaat nur da thätig, wo er im Namen des Volkswohls unbequem ward, ohne das Ganze zu fördern, im Einzelnen und Kleinen, im täglichen Leben, in den Sitten und Gewohnheiten, oft den harmloſen, faſt immer den unbedeutenden Dingen, während in den großen Fragen dieſe Theorie in den Hintergrund trat und dem poſitiven, hiſtoriſchen Rechte ſeinen Lauf ließ. Das mußte ihr den Boden unter den wankenden Füßen nehmen. Zu dem Bewußtſein von der Unfähigkeit derſelben, auf den für die Entwicklung entſcheidend gewordenen Punkten auszureichen, trat allmählig der Widerwille, einer Gewalt im Kleinen unterworfen zu ſein, die im Großen nicht helfen wollte oder konnte. Der ganze Standpunkt war unhaltbar geworden. Die Zeit war vorbei. Eine neue geiſtige Welt begann ſich zu regen. Und es wird jetzt klar ſein, weßhalb die- ſelbe, indem ſie ſich poſitiv der Verfaſſungsfrage in die Arme warf, negativ die ganze alte Verwaltungslehre als „Polizeiwiſſenſchaft“ von ſich wies. In der jetzt folgenden Epoche kehrte ſich daher das alte Verhältniß geradezu um. Statt daß bisher der Schwerpunkt der Staats- wiſſenſchaft in der Verwaltung gelegen und die Verfaſſung von der- ſelben geradezu ausgeſchloſſen war, ward jetzt in der neuen Zeit die
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war es nun, was durch ſeine Ausführung im Einzelnen zuletzt den
Charakter jener eudämoniſtiſchen Verwaltungslehre im Ganzen umge-
ſtaltete. Die theoretiſchen Grundſätze der erſteren, die noch unter Pufen-
dorf und Wolf als Philoſophie erſchienen, werden namentlich im erſten
Jahrhundert zu ſehr poſitiven Vorſchriften und Maßregeln. Der Wohl-
fahrtsſtaat wird eine Zwangsanſtalt für das Glück der Völker,
negativ, indem es die letztern vor allem ſchützt, was die Eudämonie
für gefährlich hält, poſitiv, indem es ihnen gebietet, was als nützlich
erkannt wird. Und in dieſer von den Lehrkanzeln herabſteigenden, in
allem Kleinen groß, gegenüber allem Schwachen ſtark, immer aber unbe-
rufen und ohne Dank das „Gute“ und das „Wohl“ durch ſeine Zwangs-
organe vollziehenden Geſtalt wurde aus dem theoretiſchen Wohlfahrts-
ſtaat der praktiſche Polizeiſtaat.
Das iſt der Sinn und der innere, organiſche Begriff des vielbe-
ſprochenen Polizeiſtaates, der dem Rechtsſtaat voraufgeht. Nie hat eine
Staatsidee Beſſeres gewollt, nie hat ihr Wollen und Thun ſo viel Wider-
ſtand gefunden und nichts iſt leichter begreiflich, als dieſer Widerſpruch des
Polizeiſtaats. Dieſen Widerſpruch aber ertrugen die Germanen nicht.
Und doch hätten ſie ihn vielleicht lange ertragen, wenn jener Staat
als Wohlfahrtsanſtalt ſeine mächtige Hand noch an die großen und
entſcheidenden Bedingungen des Fortſchrittes, die Gleichheit des Rechts
und die Aufhebung der Privilegien gelegt hätte. Allein dieſe waren
für ihn unantaſtbar, und die Völker ſahen daher jenen Wohlfahrtsſtaat
nur da thätig, wo er im Namen des Volkswohls unbequem ward, ohne
das Ganze zu fördern, im Einzelnen und Kleinen, im täglichen Leben,
in den Sitten und Gewohnheiten, oft den harmloſen, faſt immer den
unbedeutenden Dingen, während in den großen Fragen dieſe Theorie
in den Hintergrund trat und dem poſitiven, hiſtoriſchen Rechte ſeinen
Lauf ließ. Das mußte ihr den Boden unter den wankenden Füßen
nehmen. Zu dem Bewußtſein von der Unfähigkeit derſelben, auf den
für die Entwicklung entſcheidend gewordenen Punkten auszureichen, trat
allmählig der Widerwille, einer Gewalt im Kleinen unterworfen zu ſein,
die im Großen nicht helfen wollte oder konnte. Der ganze Standpunkt
war unhaltbar geworden. Die Zeit war vorbei. Eine neue geiſtige
Welt begann ſich zu regen. Und es wird jetzt klar ſein, weßhalb die-
ſelbe, indem ſie ſich poſitiv der Verfaſſungsfrage in die Arme warf,
negativ die ganze alte Verwaltungslehre als „Polizeiwiſſenſchaft“ von
ſich wies. In der jetzt folgenden Epoche kehrte ſich daher das alte
Verhältniß geradezu um. Statt daß bisher der Schwerpunkt der Staats-
wiſſenſchaft in der Verwaltung gelegen und die Verfaſſung von der-
ſelben geradezu ausgeſchloſſen war, ward jetzt in der neuen Zeit die
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 20. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/42>, abgerufen am 24.11.2024.
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