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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Westgothen, wenigstens zum Theil in die germanischen Geschlechter auf-
genommenen Römer, Bürger und Sklaven. Diese haben natürlich kein
Volksrecht, kein Volksgericht, also keine Angehörigkeit im germanischen
Sinne. Demnach gibt es gar keinen öffentlichen Zustand ohne die letztere;
also auch diese müssen eine solche finden. Hier nun entsteht das, was
den Uebergang von der Geschlechterordnung zur ständischen bildet,
und bereits den Keim der ersten amtlichen Ordnung enthält. Da jene
keinem Geschlecht angehören, nicht einmal wie die gentiles Roms, so
müssen sie ihrem Herrn angehören, und zwar theils durch ihre Person,
theils durch ihren Grundbesitz. So bildet sich das große Princip für
die Unfreien mit ihrer Angehörigkeit, das Princip der örtlichen
Angehörigkeit, das Princip der Competenz und Zuständigkeit auf Grund-
lage der Herrschaft. Und da dieser Herr für diese ihm in Person und
Besitz Angehörigen kein Volksrecht -- also kein geltendes Verwaltungs-
recht -- hat, so ist sein Wille das Recht für sie. Sein Besitz ist
jetzt der Competenzbezirk; seine Hörigen sind ihm zuständig. Es ist die
zweite Gestalt der Angehörigkeit, und diese Epoche die unfreie.

An diese Ordnung der Bevölkerung schließt sich nun diejenige in
den Theilen des germanischen Europas an, in denen, wie namentlich
im Norden Deutschlands, sich die alte Geschlechterordnung noch erhalten
oder doch schon örtlich festgesetzt hat. Wir haben diese Gestalt das alte
Dorf, die Gemeinschaft der freien Bauern die alte Dorfschaft ge-
nannt. Hier ist noch keine Zerstörung des Verbandes eingetreten, da-
her ist noch kein Gesetz nothwendig; das Recht, das bürgerliche, das
peinliche, das polizeiliche, das administrative, lebt noch im Bewußtsein
der Gemeinschaft; noch Jahrhunderte hindurch wird kein geschriebenes
Weißthum nöthig; die Abstammung gibt zwar die Zuständigkeit,
aber doch ist die Competenz des Dorf- und Gaugerichts schon durch die
Gemeindemarkung beschränkt. Was innerhalb derselben liegt, fällt
unbedingt unter die Competenz des Tithings, Loddings, Godings,
oder wie die freien Gerichts- und Verwaltungsorgane der Dorfschaften
sonst hießen, und wie sie sonst im Einzelnen organisirt sein mögen.
Allein jenseits dieser Gemarkung hört die Competenz auf, die Ange-
hörigkeit verschmilzt daher hier zuerst mit dem Grundbesitz
,
und so entsteht der noch heutigen Tages geltende Grundsatz, daß, wer
einmal innerhalb der Gemarkung einen Grundbesitz, der ja principiell
einen Theil des ursprünglichen Geschlechtseigenthums bildet, erwirbt,
eben dadurch auch der Dorfschaft angehörig ist. Zugleich erscheint
hier zuerst die freie, noch bloß im unmittelbaren Bewußtsein liegende
Linie zwischen Gemeindebürgerthum und Heimathswesen. Der Grund-
besitzer hat das Gemeindebürgerthum; wer keinen Grundbesitz hat

Weſtgothen, wenigſtens zum Theil in die germaniſchen Geſchlechter auf-
genommenen Römer, Bürger und Sklaven. Dieſe haben natürlich kein
Volksrecht, kein Volksgericht, alſo keine Angehörigkeit im germaniſchen
Sinne. Demnach gibt es gar keinen öffentlichen Zuſtand ohne die letztere;
alſo auch dieſe müſſen eine ſolche finden. Hier nun entſteht das, was
den Uebergang von der Geſchlechterordnung zur ſtändiſchen bildet,
und bereits den Keim der erſten amtlichen Ordnung enthält. Da jene
keinem Geſchlecht angehören, nicht einmal wie die gentiles Roms, ſo
müſſen ſie ihrem Herrn angehören, und zwar theils durch ihre Perſon,
theils durch ihren Grundbeſitz. So bildet ſich das große Princip für
die Unfreien mit ihrer Angehörigkeit, das Princip der örtlichen
Angehörigkeit, das Princip der Competenz und Zuſtändigkeit auf Grund-
lage der Herrſchaft. Und da dieſer Herr für dieſe ihm in Perſon und
Beſitz Angehörigen kein Volksrecht — alſo kein geltendes Verwaltungs-
recht — hat, ſo iſt ſein Wille das Recht für ſie. Sein Beſitz iſt
jetzt der Competenzbezirk; ſeine Hörigen ſind ihm zuſtändig. Es iſt die
zweite Geſtalt der Angehörigkeit, und dieſe Epoche die unfreie.

An dieſe Ordnung der Bevölkerung ſchließt ſich nun diejenige in
den Theilen des germaniſchen Europas an, in denen, wie namentlich
im Norden Deutſchlands, ſich die alte Geſchlechterordnung noch erhalten
oder doch ſchon örtlich feſtgeſetzt hat. Wir haben dieſe Geſtalt das alte
Dorf, die Gemeinſchaft der freien Bauern die alte Dorfſchaft ge-
nannt. Hier iſt noch keine Zerſtörung des Verbandes eingetreten, da-
her iſt noch kein Geſetz nothwendig; das Recht, das bürgerliche, das
peinliche, das polizeiliche, das adminiſtrative, lebt noch im Bewußtſein
der Gemeinſchaft; noch Jahrhunderte hindurch wird kein geſchriebenes
Weißthum nöthig; die Abſtammung gibt zwar die Zuſtändigkeit,
aber doch iſt die Competenz des Dorf- und Gaugerichts ſchon durch die
Gemeindemarkung beſchränkt. Was innerhalb derſelben liegt, fällt
unbedingt unter die Competenz des Tithings, Loddings, Godings,
oder wie die freien Gerichts- und Verwaltungsorgane der Dorfſchaften
ſonſt hießen, und wie ſie ſonſt im Einzelnen organiſirt ſein mögen.
Allein jenſeits dieſer Gemarkung hört die Competenz auf, die Ange-
hörigkeit verſchmilzt daher hier zuerſt mit dem Grundbeſitz
,
und ſo entſteht der noch heutigen Tages geltende Grundſatz, daß, wer
einmal innerhalb der Gemarkung einen Grundbeſitz, der ja principiell
einen Theil des urſprünglichen Geſchlechtseigenthums bildet, erwirbt,
eben dadurch auch der Dorfſchaft angehörig iſt. Zugleich erſcheint
hier zuerſt die freie, noch bloß im unmittelbaren Bewußtſein liegende
Linie zwiſchen Gemeindebürgerthum und Heimathsweſen. Der Grund-
beſitzer hat das Gemeindebürgerthum; wer keinen Grundbeſitz hat

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[312/0334] Weſtgothen, wenigſtens zum Theil in die germaniſchen Geſchlechter auf- genommenen Römer, Bürger und Sklaven. Dieſe haben natürlich kein Volksrecht, kein Volksgericht, alſo keine Angehörigkeit im germaniſchen Sinne. Demnach gibt es gar keinen öffentlichen Zuſtand ohne die letztere; alſo auch dieſe müſſen eine ſolche finden. Hier nun entſteht das, was den Uebergang von der Geſchlechterordnung zur ſtändiſchen bildet, und bereits den Keim der erſten amtlichen Ordnung enthält. Da jene keinem Geſchlecht angehören, nicht einmal wie die gentiles Roms, ſo müſſen ſie ihrem Herrn angehören, und zwar theils durch ihre Perſon, theils durch ihren Grundbeſitz. So bildet ſich das große Princip für die Unfreien mit ihrer Angehörigkeit, das Princip der örtlichen Angehörigkeit, das Princip der Competenz und Zuſtändigkeit auf Grund- lage der Herrſchaft. Und da dieſer Herr für dieſe ihm in Perſon und Beſitz Angehörigen kein Volksrecht — alſo kein geltendes Verwaltungs- recht — hat, ſo iſt ſein Wille das Recht für ſie. Sein Beſitz iſt jetzt der Competenzbezirk; ſeine Hörigen ſind ihm zuſtändig. Es iſt die zweite Geſtalt der Angehörigkeit, und dieſe Epoche die unfreie. An dieſe Ordnung der Bevölkerung ſchließt ſich nun diejenige in den Theilen des germaniſchen Europas an, in denen, wie namentlich im Norden Deutſchlands, ſich die alte Geſchlechterordnung noch erhalten oder doch ſchon örtlich feſtgeſetzt hat. Wir haben dieſe Geſtalt das alte Dorf, die Gemeinſchaft der freien Bauern die alte Dorfſchaft ge- nannt. Hier iſt noch keine Zerſtörung des Verbandes eingetreten, da- her iſt noch kein Geſetz nothwendig; das Recht, das bürgerliche, das peinliche, das polizeiliche, das adminiſtrative, lebt noch im Bewußtſein der Gemeinſchaft; noch Jahrhunderte hindurch wird kein geſchriebenes Weißthum nöthig; die Abſtammung gibt zwar die Zuſtändigkeit, aber doch iſt die Competenz des Dorf- und Gaugerichts ſchon durch die Gemeindemarkung beſchränkt. Was innerhalb derſelben liegt, fällt unbedingt unter die Competenz des Tithings, Loddings, Godings, oder wie die freien Gerichts- und Verwaltungsorgane der Dorfſchaften ſonſt hießen, und wie ſie ſonſt im Einzelnen organiſirt ſein mögen. Allein jenſeits dieſer Gemarkung hört die Competenz auf, die Ange- hörigkeit verſchmilzt daher hier zuerſt mit dem Grundbeſitz, und ſo entſteht der noch heutigen Tages geltende Grundſatz, daß, wer einmal innerhalb der Gemarkung einen Grundbeſitz, der ja principiell einen Theil des urſprünglichen Geſchlechtseigenthums bildet, erwirbt, eben dadurch auch der Dorfſchaft angehörig iſt. Zugleich erſcheint hier zuerſt die freie, noch bloß im unmittelbaren Bewußtſein liegende Linie zwiſchen Gemeindebürgerthum und Heimathsweſen. Der Grund- beſitzer hat das Gemeindebürgerthum; wer keinen Grundbeſitz hat

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 312. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/334>, abgerufen am 24.11.2024.