Das Zählungswesen erscheint daher in einem zweifachen Verhält- niß, das man wohl scheiden muß, um die Stellung desselben in der Staatswissenschaft richtig zu würdigen. Es ist zuerst ein rein wissen- schaftliches Bedürfniß und erscheint daher auch geschichtlich als ein rein wissenschaftlicher Akt, der die große Thatsache, welche wir die Be- völkerung nennen, feststellen und in ihren inneren Beziehungen und Ordnungen messen soll, um das Leben der Menschheit kennen zu lernen. Es ist aber zweitens ein Bedürfniß für die Verwaltung; es wird daher aus den Händen der Wissenschaft von der Verwaltung übernom- men, durch die Organe der Verwaltung oder doch unter Mitwirkung derselben vollzogen, und erscheint in diesem Sinne als der erste Theil der Verwaltung der Bevölkerungsordnung. Es wird wohl unmöglich bleiben, das Verhältniß der Volkszählung zur Verwaltung jemals besser zu bezeichnen, als es Justi gethan, der überhaupt das erste organische Verständniß des Zählungswesens an den Tag legt. "Die Selbst- erkenntniß," sagt er, "ist die erste Pflicht eines verständigen Wesens überhaupt. Noch mehr aber soll eine weise Regierung diejenigen kennen, welche von ihr regiert werden sollen. Jemanden regieren zu wollen, ohne ihn genugsam zu kennen, das ist eines von den allerwidersinnig- sten und ungereimtesten Verfahren. Man sieht demnach leicht, daß die Berechnung des Volkes im Lande eine nothwendige und unentbehrliche Anstalt ist, und diejenigen Regierungen, so solches unterlassen, geben dadurch von ihrer schlechten Beschaffenheit ein unläugbares Zeugniß." (Buch II. Hptst. VI. §. 216.) Die Erkenntniß dieser Wahrheit ist in der That allgemein worden; allein die Ausführung derselben hat wieder ihre Geschichte, und ihr liegen die beiden Arten von Fragen zum Grunde, welche die Volkszählung zu beantworten hat. Einerseits enthalten sie die Feststellung aller derjenigen Thatsachen, welche für die Wissenschaft des menschlichen Lebens überhaupt durch den Akt der Zählung festge- stellt werden können -- Thatsachen, für die es im Grunde gar keine Gränze gibt; anderseits haben sie sich auf dasjenige Gebiet der persön- lichen Lebensverhältnisse zu beschränken, deren Kenntniß die Voraus- setzung einer tüchtigen Verwaltungsthätigkeit sind. Einrichtung, Umfang und Verfahren bei der Zählung wird daher nicht unwesentlich verschieden sein, je nachdem der erste oder der zweite Gesichtspunkt vorherrscht. Und in diesem Sinne kann man wohl von einem Unterschiede zwischen der wissenschaftlichen Zählung, die wir die populationistische nennen möchten, und der administrativen Volkszählung unterscheiden.
Erst auf Grundlage dieser Unterscheidung wird die Darstellung des Zählungswesens eine feste Gestalt gewinnen, indem wir den Begriff des Rechts der Zählung der Geschichte derselben zum Grunde legen.
Das Zählungsweſen erſcheint daher in einem zweifachen Verhält- niß, das man wohl ſcheiden muß, um die Stellung deſſelben in der Staatswiſſenſchaft richtig zu würdigen. Es iſt zuerſt ein rein wiſſen- ſchaftliches Bedürfniß und erſcheint daher auch geſchichtlich als ein rein wiſſenſchaftlicher Akt, der die große Thatſache, welche wir die Be- völkerung nennen, feſtſtellen und in ihren inneren Beziehungen und Ordnungen meſſen ſoll, um das Leben der Menſchheit kennen zu lernen. Es iſt aber zweitens ein Bedürfniß für die Verwaltung; es wird daher aus den Händen der Wiſſenſchaft von der Verwaltung übernom- men, durch die Organe der Verwaltung oder doch unter Mitwirkung derſelben vollzogen, und erſcheint in dieſem Sinne als der erſte Theil der Verwaltung der Bevölkerungsordnung. Es wird wohl unmöglich bleiben, das Verhältniß der Volkszählung zur Verwaltung jemals beſſer zu bezeichnen, als es Juſti gethan, der überhaupt das erſte organiſche Verſtändniß des Zählungsweſens an den Tag legt. „Die Selbſt- erkenntniß,“ ſagt er, „iſt die erſte Pflicht eines verſtändigen Weſens überhaupt. Noch mehr aber ſoll eine weiſe Regierung diejenigen kennen, welche von ihr regiert werden ſollen. Jemanden regieren zu wollen, ohne ihn genugſam zu kennen, das iſt eines von den allerwiderſinnig- ſten und ungereimteſten Verfahren. Man ſieht demnach leicht, daß die Berechnung des Volkes im Lande eine nothwendige und unentbehrliche Anſtalt iſt, und diejenigen Regierungen, ſo ſolches unterlaſſen, geben dadurch von ihrer ſchlechten Beſchaffenheit ein unläugbares Zeugniß.“ (Buch II. Hptſt. VI. §. 216.) Die Erkenntniß dieſer Wahrheit iſt in der That allgemein worden; allein die Ausführung derſelben hat wieder ihre Geſchichte, und ihr liegen die beiden Arten von Fragen zum Grunde, welche die Volkszählung zu beantworten hat. Einerſeits enthalten ſie die Feſtſtellung aller derjenigen Thatſachen, welche für die Wiſſenſchaft des menſchlichen Lebens überhaupt durch den Akt der Zählung feſtge- ſtellt werden können — Thatſachen, für die es im Grunde gar keine Gränze gibt; anderſeits haben ſie ſich auf dasjenige Gebiet der perſön- lichen Lebensverhältniſſe zu beſchränken, deren Kenntniß die Voraus- ſetzung einer tüchtigen Verwaltungsthätigkeit ſind. Einrichtung, Umfang und Verfahren bei der Zählung wird daher nicht unweſentlich verſchieden ſein, je nachdem der erſte oder der zweite Geſichtspunkt vorherrſcht. Und in dieſem Sinne kann man wohl von einem Unterſchiede zwiſchen der wiſſenſchaftlichen Zählung, die wir die populationiſtiſche nennen möchten, und der adminiſtrativen Volkszählung unterſcheiden.
Erſt auf Grundlage dieſer Unterſcheidung wird die Darſtellung des Zählungsweſens eine feſte Geſtalt gewinnen, indem wir den Begriff des Rechts der Zählung der Geſchichte derſelben zum Grunde legen.
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Das Zählungsweſen erſcheint daher in einem zweifachen Verhält-
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Staatswiſſenſchaft richtig zu würdigen. Es iſt zuerſt ein rein wiſſen-
ſchaftliches Bedürfniß und erſcheint daher auch geſchichtlich als ein
rein wiſſenſchaftlicher Akt, der die große Thatſache, welche wir die Be-
völkerung nennen, feſtſtellen und in ihren inneren Beziehungen und
Ordnungen meſſen ſoll, um das Leben der Menſchheit kennen zu lernen.
Es iſt aber zweitens ein Bedürfniß für die Verwaltung; es wird
daher aus den Händen der Wiſſenſchaft von der Verwaltung übernom-
men, durch die Organe der Verwaltung oder doch unter Mitwirkung
derſelben vollzogen, und erſcheint in dieſem Sinne als der erſte Theil
der Verwaltung der Bevölkerungsordnung. Es wird wohl unmöglich
bleiben, das Verhältniß der Volkszählung zur Verwaltung jemals beſſer
zu bezeichnen, als es Juſti gethan, der überhaupt das erſte organiſche
Verſtändniß des Zählungsweſens an den Tag legt. „Die Selbſt-
erkenntniß,“ ſagt er, „iſt die erſte Pflicht eines verſtändigen Weſens
überhaupt. Noch mehr aber ſoll eine weiſe Regierung diejenigen kennen,
welche von ihr regiert werden ſollen. Jemanden regieren zu wollen,
ohne ihn genugſam zu kennen, das iſt eines von den allerwiderſinnig-
ſten und ungereimteſten Verfahren. Man ſieht demnach leicht, daß die
Berechnung des Volkes im Lande eine nothwendige und unentbehrliche
Anſtalt iſt, und diejenigen Regierungen, ſo ſolches unterlaſſen, geben
dadurch von ihrer ſchlechten Beſchaffenheit ein unläugbares Zeugniß.“
(Buch II. Hptſt. VI. §. 216.) Die Erkenntniß dieſer Wahrheit iſt in
der That allgemein worden; allein die Ausführung derſelben hat wieder
ihre Geſchichte, und ihr liegen die beiden Arten von Fragen zum Grunde,
welche die Volkszählung zu beantworten hat. Einerſeits enthalten ſie
die Feſtſtellung aller derjenigen Thatſachen, welche für die Wiſſenſchaft
des menſchlichen Lebens überhaupt durch den Akt der Zählung feſtge-
ſtellt werden können — Thatſachen, für die es im Grunde gar keine
Gränze gibt; anderſeits haben ſie ſich auf dasjenige Gebiet der perſön-
lichen Lebensverhältniſſe zu beſchränken, deren Kenntniß die Voraus-
ſetzung einer tüchtigen Verwaltungsthätigkeit ſind. Einrichtung, Umfang
und Verfahren bei der Zählung wird daher nicht unweſentlich verſchieden
ſein, je nachdem der erſte oder der zweite Geſichtspunkt vorherrſcht. Und
in dieſem Sinne kann man wohl von einem Unterſchiede zwiſchen der
wiſſenſchaftlichen Zählung, die wir die populationiſtiſche nennen
möchten, und der adminiſtrativen Volkszählung unterſcheiden.
Erſt auf Grundlage dieſer Unterſcheidung wird die Darſtellung des
Zählungsweſens eine feſte Geſtalt gewinnen, indem wir den Begriff
des Rechts der Zählung der Geſchichte derſelben zum Grunde legen.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 214. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/236>, abgerufen am 03.05.2024.
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