Diese Politik der Auswanderung wird nun natürlich zunächst davon bestimmt, ob der Mutterstaat überseeische Colonien hat oder nicht. Es ist klar, daß im ersten Falle die Auswanderungspolitik im Grunde die Colonialpolitik ist, während sie im zweiten Falle als ein Stück der reinen socialen Verwaltung erscheint. Für die deutsche Wissenschaft ist die erste Frage noch immer Gegenstand eines zwar humanitären, aber keines praktischen Verwaltungsinteresses, und wir können daher sehr kurz darüber hinweg gehen. Wir bemerken bloß, daß auch hier England und Frankreich wieder sehr verschieden sind. England hat für seine Colonialpolitik, wie es am Ende leicht begreiflich ist, eine eigene selbständige und tief einschneidende Literatur erzeugt. Die große innere Bewegung in den englischen Colonien hat sich nach langer Unklarheit zusammengefaßt in dem Gegensatz zwischen dem Princip der Staats- unterstützung von Seiten des Mutterlandes, um durch dieselbe in den neuen Colonien neue Handelsgebiete und neue Consumenten zu gewin- nen, und dem Princip der Selbstentwicklung der Colonien, das zuerst von Wakefield seit 1829 als das selfsupporting principle theoretisch ausgearbeitet und zu einem eigenen System erhoben ward. Der Kern dieses Systems liegt in dem Gedanken, daß jede Colonie ohne Staatsunterstützung die Hauptbedingungen der Colonisirung, namentlich die Herstellung und Erhaltung der öffentlichen Verwaltungs- organe, der öffentlichen Anstalten, der Communicationsmittel selbst übernehme, da die erstere denn doch zuerst und vor allem in ihrem eigenen Interesse liege. Die beiden Mittel dafür findet Wakefield in der unentgeltlichen Ueberlassung von Grund und Boden an Einwan- derer, und eventuell in der Selbstbesteuerung der alten Colonisten. Roscher hat dieß System, das natürlich nur für England Interesse hat, sehr gut dargestellt. Frankreich dagegen hat die innere Verwal- tung seiner Colonien von Paris aus mit möglichster Genauigkeit auch in neuester Zeit geregelt, indem es durch Dekret vom 13. Febr. und 27. März 1852 den Grundsatz durchführt, daß jeder angehende Colonist, der sich nicht selbst einen Grund erwerben kann, einen Arbeitsver- trag mit einem Grundbesitzer in der Colonie aufweisen muß, dessen Minimalsätze gesetzlich vorgeschrieben sind. Es ist ein altes Uebel der französischen Verwaltung, den Schutz auch der Auswanderer jenseits des Meeres von gesetzlichen Vorschriften, statt vom wohlverstandenen Interesse der Einwohner zu erwarten. -- In Deutschland endlich hat die ganze Frage praktisch -- neben vielen Theorien über das, was uns eigentlich nichts angeht, die englische und französische Politik -- nur Eine, freilich eben so unbestimmte als wichtige Gestalt gewonnen. Nachdem der alte polizeiliche Standpunkt überwunden, handelte es sich
Dieſe Politik der Auswanderung wird nun natürlich zunächſt davon beſtimmt, ob der Mutterſtaat überſeeiſche Colonien hat oder nicht. Es iſt klar, daß im erſten Falle die Auswanderungspolitik im Grunde die Colonialpolitik iſt, während ſie im zweiten Falle als ein Stück der reinen ſocialen Verwaltung erſcheint. Für die deutſche Wiſſenſchaft iſt die erſte Frage noch immer Gegenſtand eines zwar humanitären, aber keines praktiſchen Verwaltungsintereſſes, und wir können daher ſehr kurz darüber hinweg gehen. Wir bemerken bloß, daß auch hier England und Frankreich wieder ſehr verſchieden ſind. England hat für ſeine Colonialpolitik, wie es am Ende leicht begreiflich iſt, eine eigene ſelbſtändige und tief einſchneidende Literatur erzeugt. Die große innere Bewegung in den engliſchen Colonien hat ſich nach langer Unklarheit zuſammengefaßt in dem Gegenſatz zwiſchen dem Princip der Staats- unterſtützung von Seiten des Mutterlandes, um durch dieſelbe in den neuen Colonien neue Handelsgebiete und neue Conſumenten zu gewin- nen, und dem Princip der Selbſtentwicklung der Colonien, das zuerſt von Wakefield ſeit 1829 als das selfsupporting principle theoretiſch ausgearbeitet und zu einem eigenen Syſtem erhoben ward. Der Kern dieſes Syſtems liegt in dem Gedanken, daß jede Colonie ohne Staatsunterſtützung die Hauptbedingungen der Coloniſirung, namentlich die Herſtellung und Erhaltung der öffentlichen Verwaltungs- organe, der öffentlichen Anſtalten, der Communicationsmittel ſelbſt übernehme, da die erſtere denn doch zuerſt und vor allem in ihrem eigenen Intereſſe liege. Die beiden Mittel dafür findet Wakefield in der unentgeltlichen Ueberlaſſung von Grund und Boden an Einwan- derer, und eventuell in der Selbſtbeſteuerung der alten Coloniſten. Roſcher hat dieß Syſtem, das natürlich nur für England Intereſſe hat, ſehr gut dargeſtellt. Frankreich dagegen hat die innere Verwal- tung ſeiner Colonien von Paris aus mit möglichſter Genauigkeit auch in neueſter Zeit geregelt, indem es durch Dekret vom 13. Febr. und 27. März 1852 den Grundſatz durchführt, daß jeder angehende Coloniſt, der ſich nicht ſelbſt einen Grund erwerben kann, einen Arbeitsver- trag mit einem Grundbeſitzer in der Colonie aufweiſen muß, deſſen Minimalſätze geſetzlich vorgeſchrieben ſind. Es iſt ein altes Uebel der franzöſiſchen Verwaltung, den Schutz auch der Auswanderer jenſeits des Meeres von geſetzlichen Vorſchriften, ſtatt vom wohlverſtandenen Intereſſe der Einwohner zu erwarten. — In Deutſchland endlich hat die ganze Frage praktiſch — neben vielen Theorien über das, was uns eigentlich nichts angeht, die engliſche und franzöſiſche Politik — nur Eine, freilich eben ſo unbeſtimmte als wichtige Geſtalt gewonnen. Nachdem der alte polizeiliche Standpunkt überwunden, handelte es ſich
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><divn="5"><divn="6"><divn="7"><divn="8"><pbfacs="#f0230"n="208"/><p>Dieſe Politik der Auswanderung wird nun natürlich zunächſt davon<lb/>
beſtimmt, ob der Mutterſtaat überſeeiſche Colonien hat oder nicht. Es<lb/>
iſt klar, daß im erſten Falle die Auswanderungspolitik im Grunde die<lb/><hirendition="#g">Colonialpolitik</hi> iſt, während ſie im zweiten Falle als ein Stück<lb/>
der reinen ſocialen Verwaltung erſcheint. Für die deutſche Wiſſenſchaft<lb/>
iſt die <hirendition="#g">erſte</hi> Frage noch immer Gegenſtand eines zwar humanitären,<lb/>
aber keines praktiſchen Verwaltungsintereſſes, und wir können daher<lb/>ſehr kurz darüber hinweg gehen. Wir bemerken bloß, daß auch hier<lb/>
England und Frankreich wieder ſehr verſchieden ſind. England hat für<lb/>ſeine Colonialpolitik, wie es am Ende leicht begreiflich iſt, eine eigene<lb/>ſelbſtändige und tief einſchneidende Literatur erzeugt. Die große innere<lb/>
Bewegung in den engliſchen Colonien hat ſich nach langer Unklarheit<lb/>
zuſammengefaßt in dem Gegenſatz zwiſchen dem Princip der Staats-<lb/>
unterſtützung von Seiten des Mutterlandes, um durch dieſelbe in den<lb/>
neuen Colonien neue Handelsgebiete und neue Conſumenten zu gewin-<lb/>
nen, und dem Princip der <hirendition="#g">Selbſtentwicklung der Colonien</hi>, das<lb/>
zuerſt von <hirendition="#g">Wakefield</hi>ſeit 1829 als das <hirendition="#aq">selfsupporting principle</hi><lb/>
theoretiſch ausgearbeitet und zu einem eigenen Syſtem erhoben ward.<lb/>
Der Kern dieſes Syſtems liegt in dem Gedanken, daß jede Colonie<lb/><hirendition="#g">ohne</hi> Staatsunterſtützung die Hauptbedingungen der Coloniſirung,<lb/>
namentlich die Herſtellung und Erhaltung der öffentlichen Verwaltungs-<lb/>
organe, der öffentlichen Anſtalten, der Communicationsmittel <hirendition="#g">ſelbſt</hi><lb/>
übernehme, da die erſtere denn doch zuerſt und vor allem in ihrem<lb/>
eigenen Intereſſe liege. Die beiden Mittel dafür findet Wakefield in<lb/>
der unentgeltlichen Ueberlaſſung von Grund und Boden an Einwan-<lb/>
derer, und eventuell in der Selbſtbeſteuerung der alten Coloniſten.<lb/><hirendition="#g">Roſcher</hi> hat dieß Syſtem, das natürlich nur für England Intereſſe<lb/>
hat, ſehr gut dargeſtellt. <hirendition="#g">Frankreich</hi> dagegen hat die innere Verwal-<lb/>
tung ſeiner Colonien von Paris aus mit möglichſter Genauigkeit auch<lb/>
in neueſter Zeit geregelt, indem es durch Dekret vom 13. Febr. und<lb/>
27. März 1852 den Grundſatz durchführt, daß jeder angehende Coloniſt,<lb/>
der ſich nicht ſelbſt einen Grund erwerben kann, einen <hirendition="#g">Arbeitsver-<lb/>
trag</hi> mit einem Grundbeſitzer in der Colonie aufweiſen muß, deſſen<lb/>
Minimalſätze geſetzlich vorgeſchrieben ſind. Es iſt ein altes Uebel der<lb/>
franzöſiſchen Verwaltung, den Schutz auch der Auswanderer jenſeits<lb/>
des Meeres von geſetzlichen Vorſchriften, ſtatt vom wohlverſtandenen<lb/>
Intereſſe der Einwohner zu erwarten. — In Deutſchland endlich hat<lb/>
die ganze Frage <hirendition="#g">praktiſch</hi>— neben vielen Theorien über das, was<lb/>
uns eigentlich nichts angeht, die engliſche und franzöſiſche Politik —<lb/>
nur Eine, freilich eben ſo unbeſtimmte als wichtige Geſtalt gewonnen.<lb/>
Nachdem der alte polizeiliche Standpunkt überwunden, handelte es ſich<lb/></p></div></div></div></div></div></div></div></div></body></text></TEI>
[208/0230]
Dieſe Politik der Auswanderung wird nun natürlich zunächſt davon
beſtimmt, ob der Mutterſtaat überſeeiſche Colonien hat oder nicht. Es
iſt klar, daß im erſten Falle die Auswanderungspolitik im Grunde die
Colonialpolitik iſt, während ſie im zweiten Falle als ein Stück
der reinen ſocialen Verwaltung erſcheint. Für die deutſche Wiſſenſchaft
iſt die erſte Frage noch immer Gegenſtand eines zwar humanitären,
aber keines praktiſchen Verwaltungsintereſſes, und wir können daher
ſehr kurz darüber hinweg gehen. Wir bemerken bloß, daß auch hier
England und Frankreich wieder ſehr verſchieden ſind. England hat für
ſeine Colonialpolitik, wie es am Ende leicht begreiflich iſt, eine eigene
ſelbſtändige und tief einſchneidende Literatur erzeugt. Die große innere
Bewegung in den engliſchen Colonien hat ſich nach langer Unklarheit
zuſammengefaßt in dem Gegenſatz zwiſchen dem Princip der Staats-
unterſtützung von Seiten des Mutterlandes, um durch dieſelbe in den
neuen Colonien neue Handelsgebiete und neue Conſumenten zu gewin-
nen, und dem Princip der Selbſtentwicklung der Colonien, das
zuerſt von Wakefield ſeit 1829 als das selfsupporting principle
theoretiſch ausgearbeitet und zu einem eigenen Syſtem erhoben ward.
Der Kern dieſes Syſtems liegt in dem Gedanken, daß jede Colonie
ohne Staatsunterſtützung die Hauptbedingungen der Coloniſirung,
namentlich die Herſtellung und Erhaltung der öffentlichen Verwaltungs-
organe, der öffentlichen Anſtalten, der Communicationsmittel ſelbſt
übernehme, da die erſtere denn doch zuerſt und vor allem in ihrem
eigenen Intereſſe liege. Die beiden Mittel dafür findet Wakefield in
der unentgeltlichen Ueberlaſſung von Grund und Boden an Einwan-
derer, und eventuell in der Selbſtbeſteuerung der alten Coloniſten.
Roſcher hat dieß Syſtem, das natürlich nur für England Intereſſe
hat, ſehr gut dargeſtellt. Frankreich dagegen hat die innere Verwal-
tung ſeiner Colonien von Paris aus mit möglichſter Genauigkeit auch
in neueſter Zeit geregelt, indem es durch Dekret vom 13. Febr. und
27. März 1852 den Grundſatz durchführt, daß jeder angehende Coloniſt,
der ſich nicht ſelbſt einen Grund erwerben kann, einen Arbeitsver-
trag mit einem Grundbeſitzer in der Colonie aufweiſen muß, deſſen
Minimalſätze geſetzlich vorgeſchrieben ſind. Es iſt ein altes Uebel der
franzöſiſchen Verwaltung, den Schutz auch der Auswanderer jenſeits
des Meeres von geſetzlichen Vorſchriften, ſtatt vom wohlverſtandenen
Intereſſe der Einwohner zu erwarten. — In Deutſchland endlich hat
die ganze Frage praktiſch — neben vielen Theorien über das, was
uns eigentlich nichts angeht, die engliſche und franzöſiſche Politik —
nur Eine, freilich eben ſo unbeſtimmte als wichtige Geſtalt gewonnen.
Nachdem der alte polizeiliche Standpunkt überwunden, handelte es ſich
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 208. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/230>, abgerufen am 21.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.