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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866.

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Der Staat als Persönlichkeit kommt zu diesem Satze immer erst unter
zwei Voraussetzungen. Erstlich muß es einen selbständigen, von der
Verschmelzung mit der Gesellschaftsordnung gelösten Staat und mit
ihm eine selbständige Verwaltung geben, und zweitens muß diese Ver-
waltung durch den Mangel der Bevölkerung den Werth der Quantität
derselben fühlen. Die Bevölkerungspolitik unterscheidet sich daher we-
sentlich von den übrigen Gebieten der Verwaltung. Sie existirt weder
ursprünglich, noch ist sie immer vorhanden. Sie beruht nicht auf dem
Wesen und Belegniß der Persönlichkeit, sondern hat ihre eigene Geschichte.

Es ergibt sich nämlich zuerst, daß es in denjenigen Staatsformen,
welche noch unter der Herrschaft der Geschlechterordnung und der stän-
dischen Ordnung stehen, gar keine Bevölkerungspolitik gibt und geben
kann -- was natürlich die Bevölkerungslehre so wenig ausschließt, als
die Entwicklung eines vollständigen Rechtssystems für die Bewegung der
Bevölkerung im Einzelnen, noch auch die theoretische Beschäftigung der
Staatskunst mit der Bevölkerungsfrage. Die Bevölkerungspolitik hat
die selbständig gewordene Staatsidee zur Voraussetzung; und da diese
Selbständigkeit erst im Königthum verwirklicht wird, so ergibt sich, daß
die eigentliche Bevölkerungspolitik erst unter dem Königthum mög-
lich ist
.

Zweitens aber folgt aus dem Wesen derselben, daß sie auch unter
dem Königthum nicht sofort mit der selbständigen Gewalt desselben ent-
steht, sondern erst dann, wenn die Zahl der Bevölkerung als Bedingung
für die Zwecke des Königthums erscheint. Der nächste Zweck, in
welchem das Königthum das Vorhandensein der Zahl als Bedingung
für seine Macht erkennt, ist ohne Zweifel die militärische Macht; an sie
schließt sich die Steuerkraft, um jene zu erhalten. Die Bevölkerungs-
politik entsteht daher auch unter dem selbständigen Königthum erst da,
wo es in dem Mangel an Bevölkerung den Grund des Mangels mili-
tärischer Kraft und an Einnahmen für dieselbe erkennt. Und aus dem-
selben Grunde ist naturgemäß der Inhalt aller Bevölkerungspolitik im
Anfange derselben stets das Streben nach Vermehrung der Bevöl-
kerung
durch die Maßregeln der Verwaltung.

Aus dieser natürlichen Gestalt der ersten Bevölkerungspolitik ergibt
sich auch der Inhalt derselben. Die Verwaltung arbeitet in dem Be-
wußtseyn, es nur mit dem Ganzen zu thun zu haben. Sie überläßt
den Einzelnen sich selber. Sie versucht daher ihren Zweck, die Ver-
mehrung der Bevölkerung, durch Mittel zu verwirklichen, welche sich
eben nur auf die Zahl derselben beziehen. Diese sind nun: Beförde-
rung der Kindererzeugung, der Ehen, der Einwanderung und
Verhinderung der Auswanderung. Die Gesammtheit der für die

Der Staat als Perſönlichkeit kommt zu dieſem Satze immer erſt unter
zwei Vorausſetzungen. Erſtlich muß es einen ſelbſtändigen, von der
Verſchmelzung mit der Geſellſchaftsordnung gelösten Staat und mit
ihm eine ſelbſtändige Verwaltung geben, und zweitens muß dieſe Ver-
waltung durch den Mangel der Bevölkerung den Werth der Quantität
derſelben fühlen. Die Bevölkerungspolitik unterſcheidet ſich daher we-
ſentlich von den übrigen Gebieten der Verwaltung. Sie exiſtirt weder
urſprünglich, noch iſt ſie immer vorhanden. Sie beruht nicht auf dem
Weſen und Belegniß der Perſönlichkeit, ſondern hat ihre eigene Geſchichte.

Es ergibt ſich nämlich zuerſt, daß es in denjenigen Staatsformen,
welche noch unter der Herrſchaft der Geſchlechterordnung und der ſtän-
diſchen Ordnung ſtehen, gar keine Bevölkerungspolitik gibt und geben
kann — was natürlich die Bevölkerungslehre ſo wenig ausſchließt, als
die Entwicklung eines vollſtändigen Rechtsſyſtems für die Bewegung der
Bevölkerung im Einzelnen, noch auch die theoretiſche Beſchäftigung der
Staatskunſt mit der Bevölkerungsfrage. Die Bevölkerungspolitik hat
die ſelbſtändig gewordene Staatsidee zur Vorausſetzung; und da dieſe
Selbſtändigkeit erſt im Königthum verwirklicht wird, ſo ergibt ſich, daß
die eigentliche Bevölkerungspolitik erſt unter dem Königthum mög-
lich iſt
.

Zweitens aber folgt aus dem Weſen derſelben, daß ſie auch unter
dem Königthum nicht ſofort mit der ſelbſtändigen Gewalt deſſelben ent-
ſteht, ſondern erſt dann, wenn die Zahl der Bevölkerung als Bedingung
für die Zwecke des Königthums erſcheint. Der nächſte Zweck, in
welchem das Königthum das Vorhandenſein der Zahl als Bedingung
für ſeine Macht erkennt, iſt ohne Zweifel die militäriſche Macht; an ſie
ſchließt ſich die Steuerkraft, um jene zu erhalten. Die Bevölkerungs-
politik entſteht daher auch unter dem ſelbſtändigen Königthum erſt da,
wo es in dem Mangel an Bevölkerung den Grund des Mangels mili-
täriſcher Kraft und an Einnahmen für dieſelbe erkennt. Und aus dem-
ſelben Grunde iſt naturgemäß der Inhalt aller Bevölkerungspolitik im
Anfange derſelben ſtets das Streben nach Vermehrung der Bevöl-
kerung
durch die Maßregeln der Verwaltung.

Aus dieſer natürlichen Geſtalt der erſten Bevölkerungspolitik ergibt
ſich auch der Inhalt derſelben. Die Verwaltung arbeitet in dem Be-
wußtſeyn, es nur mit dem Ganzen zu thun zu haben. Sie überläßt
den Einzelnen ſich ſelber. Sie verſucht daher ihren Zweck, die Ver-
mehrung der Bevölkerung, durch Mittel zu verwirklichen, welche ſich
eben nur auf die Zahl derſelben beziehen. Dieſe ſind nun: Beförde-
rung der Kindererzeugung, der Ehen, der Einwanderung und
Verhinderung der Auswanderung. Die Geſammtheit der für die

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[111/0133] Der Staat als Perſönlichkeit kommt zu dieſem Satze immer erſt unter zwei Vorausſetzungen. Erſtlich muß es einen ſelbſtändigen, von der Verſchmelzung mit der Geſellſchaftsordnung gelösten Staat und mit ihm eine ſelbſtändige Verwaltung geben, und zweitens muß dieſe Ver- waltung durch den Mangel der Bevölkerung den Werth der Quantität derſelben fühlen. Die Bevölkerungspolitik unterſcheidet ſich daher we- ſentlich von den übrigen Gebieten der Verwaltung. Sie exiſtirt weder urſprünglich, noch iſt ſie immer vorhanden. Sie beruht nicht auf dem Weſen und Belegniß der Perſönlichkeit, ſondern hat ihre eigene Geſchichte. Es ergibt ſich nämlich zuerſt, daß es in denjenigen Staatsformen, welche noch unter der Herrſchaft der Geſchlechterordnung und der ſtän- diſchen Ordnung ſtehen, gar keine Bevölkerungspolitik gibt und geben kann — was natürlich die Bevölkerungslehre ſo wenig ausſchließt, als die Entwicklung eines vollſtändigen Rechtsſyſtems für die Bewegung der Bevölkerung im Einzelnen, noch auch die theoretiſche Beſchäftigung der Staatskunſt mit der Bevölkerungsfrage. Die Bevölkerungspolitik hat die ſelbſtändig gewordene Staatsidee zur Vorausſetzung; und da dieſe Selbſtändigkeit erſt im Königthum verwirklicht wird, ſo ergibt ſich, daß die eigentliche Bevölkerungspolitik erſt unter dem Königthum mög- lich iſt. Zweitens aber folgt aus dem Weſen derſelben, daß ſie auch unter dem Königthum nicht ſofort mit der ſelbſtändigen Gewalt deſſelben ent- ſteht, ſondern erſt dann, wenn die Zahl der Bevölkerung als Bedingung für die Zwecke des Königthums erſcheint. Der nächſte Zweck, in welchem das Königthum das Vorhandenſein der Zahl als Bedingung für ſeine Macht erkennt, iſt ohne Zweifel die militäriſche Macht; an ſie ſchließt ſich die Steuerkraft, um jene zu erhalten. Die Bevölkerungs- politik entſteht daher auch unter dem ſelbſtändigen Königthum erſt da, wo es in dem Mangel an Bevölkerung den Grund des Mangels mili- täriſcher Kraft und an Einnahmen für dieſelbe erkennt. Und aus dem- ſelben Grunde iſt naturgemäß der Inhalt aller Bevölkerungspolitik im Anfange derſelben ſtets das Streben nach Vermehrung der Bevöl- kerung durch die Maßregeln der Verwaltung. Aus dieſer natürlichen Geſtalt der erſten Bevölkerungspolitik ergibt ſich auch der Inhalt derſelben. Die Verwaltung arbeitet in dem Be- wußtſeyn, es nur mit dem Ganzen zu thun zu haben. Sie überläßt den Einzelnen ſich ſelber. Sie verſucht daher ihren Zweck, die Ver- mehrung der Bevölkerung, durch Mittel zu verwirklichen, welche ſich eben nur auf die Zahl derſelben beziehen. Dieſe ſind nun: Beförde- rung der Kindererzeugung, der Ehen, der Einwanderung und Verhinderung der Auswanderung. Die Geſammtheit der für die

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 111. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/133>, abgerufen am 05.12.2024.