seinem geltenden Verwaltungsrecht ein nicht unwesentlich verschiedenes Bild von Frankreich dar. Deutschland hat durch keine gewaltsame ge- sellschaftliche Revolution mit der Vergangenheit seiner Staatsbildung gebrochen. Es hat daher das öffentliche Recht der Zeit, in welcher Gesetz und Verordnung noch identisch waren, nicht vernichtet. Es hat dann die Gesetzgebung auf Grundlage der Volksvertretung eingeführt, und von dieser Zeit an das durchsichtige französische System nicht gesetz- lich und auch nicht einmal theoretisch, sondern einfach durch Gewohnheit acceptirt, daß die Verordnung zwar an sich nur die Vollziehung zum Inhalt habe, dagegen aber auch die Stelle des fehlenden Gesetzes er- setzen müsse. Das deutsche Verwaltungsrecht besteht daher aus zwei großen Gruppen. Die erste ist durch das vorconstitutionelle, die zweite durch das verfassungsmäßige Verwaltungsrecht gebildet, welches letztere wieder theils aus Gesetzen, theils aus Verordnungen besteht. Dem Be- griffe nach sind diese Unterschiede daher sehr klar. Allein die große Verschiedenheit in der deutschen Staatenbildung, sowie das Princip der Souveränetät der Staaten haben dafür entscheidend gewirkt, und wir glauben den Zustand in dieser Beziehung sehr einfach bezeichnen zu kön- nen. Das gesammte Verwaltungsrecht jedes einzelnen Staates ist ent- halten in dem, was wir die "Verwaltungsgesetzkunde" nennen können, ein Begriff, der dem französischen droit administratif wesentlich ent- spricht, nur mit dem Unterschied, daß vielfach auch die verordnenden Gesetze des vorigen Jahrhunderts darin aufgenommen sind. Nur be- sitzen wir diese Verwaltungsgesetzkunde nur von sehr we- nigen Staaten, und wir müssen es daher fast für unmöglich halten, hier etwas Vollständiges zu liefern, bis weitere Vorarbeiten in dieser Richtung vorliegen und die geltenden Verwaltungsrechte der einzelnen Staaten gehörig durcharbeitet sind. Zu dieser Unfertigkeit des Materials kommt aber die Unklarheit über Begriff und Umfang des Verwaltungs- rechts und die durchgreifende, bis jetzt jede einheitliche Darstellung unmög- lich machende Verschiedenheit in der Bildung des positiven Verwaltungs- rechts hinzu. Der Charakter dieser Bildung in den einzelnen Staaten war nun außerdem bis 1848 so verschieden und so sehr in der Entwick- lung begriffen, daß sich um so weniger etwas allgemeines sagen läßt, als nur in wenigen Staaten überhaupt der Begriff des Gesetzes gegen- über dem der Verordnung klar war, wie wir früher gezeigt haben. Die amtliche Verwaltung strebte daher in dieser Epoche beständig durch Verordnungen Recht zu bilden und die Gesetzgebungen zu beseitigen. Erst nach 1848 tritt dafür mit einer wenigstens in den Hauptstaaten durchgreifenden Gleichmäßigkeit die Funktion der Gesetzgebung ein, und das französische System der Unterscheidung von Gesetz und Verordnung
ſeinem geltenden Verwaltungsrecht ein nicht unweſentlich verſchiedenes Bild von Frankreich dar. Deutſchland hat durch keine gewaltſame ge- ſellſchaftliche Revolution mit der Vergangenheit ſeiner Staatsbildung gebrochen. Es hat daher das öffentliche Recht der Zeit, in welcher Geſetz und Verordnung noch identiſch waren, nicht vernichtet. Es hat dann die Geſetzgebung auf Grundlage der Volksvertretung eingeführt, und von dieſer Zeit an das durchſichtige franzöſiſche Syſtem nicht geſetz- lich und auch nicht einmal theoretiſch, ſondern einfach durch Gewohnheit acceptirt, daß die Verordnung zwar an ſich nur die Vollziehung zum Inhalt habe, dagegen aber auch die Stelle des fehlenden Geſetzes er- ſetzen müſſe. Das deutſche Verwaltungsrecht beſteht daher aus zwei großen Gruppen. Die erſte iſt durch das vorconſtitutionelle, die zweite durch das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht gebildet, welches letztere wieder theils aus Geſetzen, theils aus Verordnungen beſteht. Dem Be- griffe nach ſind dieſe Unterſchiede daher ſehr klar. Allein die große Verſchiedenheit in der deutſchen Staatenbildung, ſowie das Princip der Souveränetät der Staaten haben dafür entſcheidend gewirkt, und wir glauben den Zuſtand in dieſer Beziehung ſehr einfach bezeichnen zu kön- nen. Das geſammte Verwaltungsrecht jedes einzelnen Staates iſt ent- halten in dem, was wir die „Verwaltungsgeſetzkunde“ nennen können, ein Begriff, der dem franzöſiſchen droit administratif weſentlich ent- ſpricht, nur mit dem Unterſchied, daß vielfach auch die verordnenden Geſetze des vorigen Jahrhunderts darin aufgenommen ſind. Nur be- ſitzen wir dieſe Verwaltungsgeſetzkunde nur von ſehr we- nigen Staaten, und wir müſſen es daher faſt für unmöglich halten, hier etwas Vollſtändiges zu liefern, bis weitere Vorarbeiten in dieſer Richtung vorliegen und die geltenden Verwaltungsrechte der einzelnen Staaten gehörig durcharbeitet ſind. Zu dieſer Unfertigkeit des Materials kommt aber die Unklarheit über Begriff und Umfang des Verwaltungs- rechts und die durchgreifende, bis jetzt jede einheitliche Darſtellung unmög- lich machende Verſchiedenheit in der Bildung des poſitiven Verwaltungs- rechts hinzu. Der Charakter dieſer Bildung in den einzelnen Staaten war nun außerdem bis 1848 ſo verſchieden und ſo ſehr in der Entwick- lung begriffen, daß ſich um ſo weniger etwas allgemeines ſagen läßt, als nur in wenigen Staaten überhaupt der Begriff des Geſetzes gegen- über dem der Verordnung klar war, wie wir früher gezeigt haben. Die amtliche Verwaltung ſtrebte daher in dieſer Epoche beſtändig durch Verordnungen Recht zu bilden und die Geſetzgebungen zu beſeitigen. Erſt nach 1848 tritt dafür mit einer wenigſtens in den Hauptſtaaten durchgreifenden Gleichmäßigkeit die Funktion der Geſetzgebung ein, und das franzöſiſche Syſtem der Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung
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[91/0113]
ſeinem geltenden Verwaltungsrecht ein nicht unweſentlich verſchiedenes
Bild von Frankreich dar. Deutſchland hat durch keine gewaltſame ge-
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gebrochen. Es hat daher das öffentliche Recht der Zeit, in welcher
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dann die Geſetzgebung auf Grundlage der Volksvertretung eingeführt,
und von dieſer Zeit an das durchſichtige franzöſiſche Syſtem nicht geſetz-
lich und auch nicht einmal theoretiſch, ſondern einfach durch Gewohnheit
acceptirt, daß die Verordnung zwar an ſich nur die Vollziehung zum
Inhalt habe, dagegen aber auch die Stelle des fehlenden Geſetzes er-
ſetzen müſſe. Das deutſche Verwaltungsrecht beſteht daher aus zwei
großen Gruppen. Die erſte iſt durch das vorconſtitutionelle, die zweite
durch das verfaſſungsmäßige Verwaltungsrecht gebildet, welches letztere
wieder theils aus Geſetzen, theils aus Verordnungen beſteht. Dem Be-
griffe nach ſind dieſe Unterſchiede daher ſehr klar. Allein die große
Verſchiedenheit in der deutſchen Staatenbildung, ſowie das Princip der
Souveränetät der Staaten haben dafür entſcheidend gewirkt, und wir
glauben den Zuſtand in dieſer Beziehung ſehr einfach bezeichnen zu kön-
nen. Das geſammte Verwaltungsrecht jedes einzelnen Staates iſt ent-
halten in dem, was wir die „Verwaltungsgeſetzkunde“ nennen können,
ein Begriff, der dem franzöſiſchen droit administratif weſentlich ent-
ſpricht, nur mit dem Unterſchied, daß vielfach auch die verordnenden
Geſetze des vorigen Jahrhunderts darin aufgenommen ſind. Nur be-
ſitzen wir dieſe Verwaltungsgeſetzkunde nur von ſehr we-
nigen Staaten, und wir müſſen es daher faſt für unmöglich halten,
hier etwas Vollſtändiges zu liefern, bis weitere Vorarbeiten in dieſer
Richtung vorliegen und die geltenden Verwaltungsrechte der einzelnen
Staaten gehörig durcharbeitet ſind. Zu dieſer Unfertigkeit des Materials
kommt aber die Unklarheit über Begriff und Umfang des Verwaltungs-
rechts und die durchgreifende, bis jetzt jede einheitliche Darſtellung unmög-
lich machende Verſchiedenheit in der Bildung des poſitiven Verwaltungs-
rechts hinzu. Der Charakter dieſer Bildung in den einzelnen Staaten
war nun außerdem bis 1848 ſo verſchieden und ſo ſehr in der Entwick-
lung begriffen, daß ſich um ſo weniger etwas allgemeines ſagen läßt,
als nur in wenigen Staaten überhaupt der Begriff des Geſetzes gegen-
über dem der Verordnung klar war, wie wir früher gezeigt haben.
Die amtliche Verwaltung ſtrebte daher in dieſer Epoche beſtändig durch
Verordnungen Recht zu bilden und die Geſetzgebungen zu beſeitigen.
Erſt nach 1848 tritt dafür mit einer wenigſtens in den Hauptſtaaten
durchgreifenden Gleichmäßigkeit die Funktion der Geſetzgebung ein, und
das franzöſiſche Syſtem der Unterſcheidung von Geſetz und Verordnung
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 91. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/113>, abgerufen am 18.12.2024.
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