erkennen wird, theils in unserer Gesellschaftslehre, theils aber auch, und vielleicht näher, in unserer Darstellung der vollziehenden Gewalt in diesen drei Ländern liegen.
Wir dürfen nämlich dabei von dem wohl unbezweifelten Satze aus- gehen, daß es nicht zufällig ist, ob die persönliche Staatsgewalt eine große oder kleine Gewalt hat, und es ist daher auch nicht zufäl- lig, ob dem entsprechend die gesetzmäßige oder die verordnungsmäßige Bildung des Verwaltungsrechts vorherrscht. Sondern die höhere Natur des organischen Lebensprocesses der Staatsbildung bringt es unbedingt mit sich, daß sich die persönliche Gewalt des Staats stets in dem Grade mehr entwickelt, in welchem die gesellschaftlichen Gegensätze sich gegen- seitig bedrohen oder gar offen bekämpfen. Da, wo dieser Kampf zum Bürgerkriege wird, sehen wir deßhalb diesem Gesetze gemäß stets die Dictatur auftreten; sie ist ewig das naturgemäße Ende des gesellschaft- lichen Krieges zu allen Zeiten und bei allen Völkern, und wird es auch bleiben. Wo dagegen das Königthum sich im Bürgerkriege erhält, da wird es zwar während desselben nur wenige Gewalt haben, aber nach demselben stets doppelt mächtig sein. Dictatur und herrschendes König- thum erscheinen nun in der Verwaltung als verordnungsmäßiges Ver- waltungsrecht; die Herrschaft der gesellschaftlichen Classen dagegen als gesetzmäßiges Verwaltungsrecht. Und umgekehrt wird das Vorwiegen des Einen oder des Andern zugleich einen Maßstab und einen Inhalt der innern Lebensgeschichte der Staaten bilden.
Die Besonderheit, welche in dem Charakter des Verwaltungsrechts der europäischen Staaten obwaltet, hat demgemäß ihren tiefern Grund in jener Geschichte derselben, und muß von ihr aus erklärt werden.
In England hat der Gegensatz der Grundformen und Classen der Gesellschaft keine dauernde Gestalt angenommen, denn es hat eigentlich nie eine unfreie Classe gegeben. Der gesellschaftliche Kampf, wie er namentlich im 17. Jahrhundert zur Erscheinung kommt, ist nur der Kampf zwischen der ständischen und der staatsbürgerlichen Gesellschaft, der, da er nicht wie in Frankreich auf allen Punkten mit unfreien Elemen- ten leibeigener Hörigen durchsetzt ist, und die staatsbürgerliche Gesell- schaft in den Städten nicht ihre Freiheit, sondern nur ihre Geltung zu erringen hat, auch nach errungener Geltung die ständischen Elemente fortbestehen läßt. Die Verschmelzung beider Gesellschaftsformen zu einem großen und gemeinschaftlichen Leben und Wirken, wie es überhaupt den Charakter des englischen Volkes bildet und seine wahre Kraft ausmacht, hat nun auch Gestalt und Charakter des Verwaltungsrechts bestimmt. Das Königthum hat vermöge jener Verbindung zu keiner absoluten Herr- schaft gelangen können. Daher ist das Verwaltungsrecht in England
erkennen wird, theils in unſerer Geſellſchaftslehre, theils aber auch, und vielleicht näher, in unſerer Darſtellung der vollziehenden Gewalt in dieſen drei Ländern liegen.
Wir dürfen nämlich dabei von dem wohl unbezweifelten Satze aus- gehen, daß es nicht zufällig iſt, ob die perſönliche Staatsgewalt eine große oder kleine Gewalt hat, und es iſt daher auch nicht zufäl- lig, ob dem entſprechend die geſetzmäßige oder die verordnungsmäßige Bildung des Verwaltungsrechts vorherrſcht. Sondern die höhere Natur des organiſchen Lebensproceſſes der Staatsbildung bringt es unbedingt mit ſich, daß ſich die perſönliche Gewalt des Staats ſtets in dem Grade mehr entwickelt, in welchem die geſellſchaftlichen Gegenſätze ſich gegen- ſeitig bedrohen oder gar offen bekämpfen. Da, wo dieſer Kampf zum Bürgerkriege wird, ſehen wir deßhalb dieſem Geſetze gemäß ſtets die Dictatur auftreten; ſie iſt ewig das naturgemäße Ende des geſellſchaft- lichen Krieges zu allen Zeiten und bei allen Völkern, und wird es auch bleiben. Wo dagegen das Königthum ſich im Bürgerkriege erhält, da wird es zwar während deſſelben nur wenige Gewalt haben, aber nach demſelben ſtets doppelt mächtig ſein. Dictatur und herrſchendes König- thum erſcheinen nun in der Verwaltung als verordnungsmäßiges Ver- waltungsrecht; die Herrſchaft der geſellſchaftlichen Claſſen dagegen als geſetzmäßiges Verwaltungsrecht. Und umgekehrt wird das Vorwiegen des Einen oder des Andern zugleich einen Maßſtab und einen Inhalt der innern Lebensgeſchichte der Staaten bilden.
Die Beſonderheit, welche in dem Charakter des Verwaltungsrechts der europäiſchen Staaten obwaltet, hat demgemäß ihren tiefern Grund in jener Geſchichte derſelben, und muß von ihr aus erklärt werden.
In England hat der Gegenſatz der Grundformen und Claſſen der Geſellſchaft keine dauernde Geſtalt angenommen, denn es hat eigentlich nie eine unfreie Claſſe gegeben. Der geſellſchaftliche Kampf, wie er namentlich im 17. Jahrhundert zur Erſcheinung kommt, iſt nur der Kampf zwiſchen der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der, da er nicht wie in Frankreich auf allen Punkten mit unfreien Elemen- ten leibeigener Hörigen durchſetzt iſt, und die ſtaatsbürgerliche Geſell- ſchaft in den Städten nicht ihre Freiheit, ſondern nur ihre Geltung zu erringen hat, auch nach errungener Geltung die ſtändiſchen Elemente fortbeſtehen läßt. Die Verſchmelzung beider Geſellſchaftsformen zu einem großen und gemeinſchaftlichen Leben und Wirken, wie es überhaupt den Charakter des engliſchen Volkes bildet und ſeine wahre Kraft ausmacht, hat nun auch Geſtalt und Charakter des Verwaltungsrechts beſtimmt. Das Königthum hat vermöge jener Verbindung zu keiner abſoluten Herr- ſchaft gelangen können. Daher iſt das Verwaltungsrecht in England
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erkennen wird, theils in unſerer Geſellſchaftslehre, theils aber auch, und
vielleicht näher, in unſerer Darſtellung der vollziehenden Gewalt in dieſen
drei Ländern liegen.
Wir dürfen nämlich dabei von dem wohl unbezweifelten Satze aus-
gehen, daß es nicht zufällig iſt, ob die perſönliche Staatsgewalt
eine große oder kleine Gewalt hat, und es iſt daher auch nicht zufäl-
lig, ob dem entſprechend die geſetzmäßige oder die verordnungsmäßige
Bildung des Verwaltungsrechts vorherrſcht. Sondern die höhere Natur
des organiſchen Lebensproceſſes der Staatsbildung bringt es unbedingt
mit ſich, daß ſich die perſönliche Gewalt des Staats ſtets in dem Grade
mehr entwickelt, in welchem die geſellſchaftlichen Gegenſätze ſich gegen-
ſeitig bedrohen oder gar offen bekämpfen. Da, wo dieſer Kampf zum
Bürgerkriege wird, ſehen wir deßhalb dieſem Geſetze gemäß ſtets die
Dictatur auftreten; ſie iſt ewig das naturgemäße Ende des geſellſchaft-
lichen Krieges zu allen Zeiten und bei allen Völkern, und wird es auch
bleiben. Wo dagegen das Königthum ſich im Bürgerkriege erhält, da
wird es zwar während deſſelben nur wenige Gewalt haben, aber nach
demſelben ſtets doppelt mächtig ſein. Dictatur und herrſchendes König-
thum erſcheinen nun in der Verwaltung als verordnungsmäßiges Ver-
waltungsrecht; die Herrſchaft der geſellſchaftlichen Claſſen dagegen als
geſetzmäßiges Verwaltungsrecht. Und umgekehrt wird das Vorwiegen
des Einen oder des Andern zugleich einen Maßſtab und einen Inhalt
der innern Lebensgeſchichte der Staaten bilden.
Die Beſonderheit, welche in dem Charakter des Verwaltungsrechts
der europäiſchen Staaten obwaltet, hat demgemäß ihren tiefern Grund
in jener Geſchichte derſelben, und muß von ihr aus erklärt werden.
In England hat der Gegenſatz der Grundformen und Claſſen der
Geſellſchaft keine dauernde Geſtalt angenommen, denn es hat eigentlich
nie eine unfreie Claſſe gegeben. Der geſellſchaftliche Kampf, wie er
namentlich im 17. Jahrhundert zur Erſcheinung kommt, iſt nur der
Kampf zwiſchen der ſtändiſchen und der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft, der,
da er nicht wie in Frankreich auf allen Punkten mit unfreien Elemen-
ten leibeigener Hörigen durchſetzt iſt, und die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaft in den Städten nicht ihre Freiheit, ſondern nur ihre Geltung zu
erringen hat, auch nach errungener Geltung die ſtändiſchen Elemente
fortbeſtehen läßt. Die Verſchmelzung beider Geſellſchaftsformen zu einem
großen und gemeinſchaftlichen Leben und Wirken, wie es überhaupt den
Charakter des engliſchen Volkes bildet und ſeine wahre Kraft ausmacht,
hat nun auch Geſtalt und Charakter des Verwaltungsrechts beſtimmt.
Das Königthum hat vermöge jener Verbindung zu keiner abſoluten Herr-
ſchaft gelangen können. Daher iſt das Verwaltungsrecht in England
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 2 (2,1). Stuttgart, 1866, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre02_1866/108>, abgerufen am 27.07.2024.
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