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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Die -- wir müssen sagen ziemlich unklare Vorstellung von diesem
Recht wird nun schon seit der Herrschaft Napoleons auf die deutschen
Verfassungsbildungen übertragen, und hätte hier vielleicht gleich anfangs,
seine volle wissenschaftliche Entwicklung empfangend, die Basis des öffent-
lichen Rechts gebildet, wenn nicht zwei Gegengewichte vorhanden ge-
wesen wären.

Das erste bestand darin, daß man in der Aufstellung des offen
anerkannten Rechts der selbständigen, in der Volksvertretung repräsen-
tirten gesetzgebenden Gewalt dasjenige gesehen hatte, was man die
Theilung der Gewalten nannte. Man ging bei dieser Vorstellung
auf den revolutionären Begriff der gesetzgebenden Gewalt zurück, und
verstand unter der Forderung nach einer Gesetzgebung im constitutio-
nellen Sinne ein Verhältniß, in welchem Königthum und Executive
identisch, und das erstere daher nicht nur seiner Stellung als freies
Oberhaupt beraubt, sondern direkt und rechtlich zu demjenigen Gehor-
sam gegen die Gesetzgebung verpflichtet wurde, der überhaupt der bloßen
Vollziehung gegenüber dem Willen zukommt. Die höhere Natur des
Königthums, gestützt auf die Erfahrungen der Revolution, bekämpfte
diese Auffassung und mit vollem Recht, und so entstand das, was man
in jener Zeit als das monarchische Princip in Verfassung und Verwal-
tung bezeichnete: die Negation "der Trennung der Gewalten." Sie
bedeutete nicht, daß nicht Gesetzgebung und Verwaltung getrennt sein
sollten, sondern sie bedeutete, daß das Recht des Königthums in voll-
kommen gleichem Maße über den beiden Gewalten stehe.

Das zweite wichtigere Moment aber bestand darin, daß das Recht
des Körpers der Volksvertretung, in der Gesetzbildung mitzuwirken,
theils nicht klar gedacht, theils sehr verschieden begränzt, theils für ganze
Jahrzehnte in manchen Staaten gar nicht anerkannt ward. Es gab
daher Staaten, namentlich die drei süddeutschen, welche den Begriff
und das Recht des Gesetzes vollständig ausgebildet hatten; es gab andere,
in denen das Recht der Theilnahme der Vertretung an der Bildung
des Staatswillens auf gewisse allgemeine Gränzen (z. B. Gesetze über
Freiheit und Eigenthum) beschränkt war; es gab andere, in denen die
Vertretung nur das Recht der Berathung, und zwar in ganz unbe-
stimmter Ausdehnung besaß; es gab andere, wie gesagt, in denen es
gar keine Vertretung gab. Deutschlands öffentliches Recht bot daher
alle Variationen des Verhältnisses von Gesetz und Verordnung dar,
Länder mit ausgebildetem, mit unklarem Verordnungsrecht, und Länder
in denen Gesetz und Verordnung wie im achtzehnten Jahrhundert voll-
kommen identisch waren. In dieser Verwirrung des Rechts und der
Begriffe lebte nun das Gefühl, und zum Theil auch das klare Bewußt-

Stein, die Verwaltungslehre. I. 5

Die — wir müſſen ſagen ziemlich unklare Vorſtellung von dieſem
Recht wird nun ſchon ſeit der Herrſchaft Napoleons auf die deutſchen
Verfaſſungsbildungen übertragen, und hätte hier vielleicht gleich anfangs,
ſeine volle wiſſenſchaftliche Entwicklung empfangend, die Baſis des öffent-
lichen Rechts gebildet, wenn nicht zwei Gegengewichte vorhanden ge-
weſen wären.

Das erſte beſtand darin, daß man in der Aufſtellung des offen
anerkannten Rechts der ſelbſtändigen, in der Volksvertretung repräſen-
tirten geſetzgebenden Gewalt dasjenige geſehen hatte, was man die
Theilung der Gewalten nannte. Man ging bei dieſer Vorſtellung
auf den revolutionären Begriff der geſetzgebenden Gewalt zurück, und
verſtand unter der Forderung nach einer Geſetzgebung im conſtitutio-
nellen Sinne ein Verhältniß, in welchem Königthum und Executive
identiſch, und das erſtere daher nicht nur ſeiner Stellung als freies
Oberhaupt beraubt, ſondern direkt und rechtlich zu demjenigen Gehor-
ſam gegen die Geſetzgebung verpflichtet wurde, der überhaupt der bloßen
Vollziehung gegenüber dem Willen zukommt. Die höhere Natur des
Königthums, geſtützt auf die Erfahrungen der Revolution, bekämpfte
dieſe Auffaſſung und mit vollem Recht, und ſo entſtand das, was man
in jener Zeit als das monarchiſche Princip in Verfaſſung und Verwal-
tung bezeichnete: die Negation „der Trennung der Gewalten.“ Sie
bedeutete nicht, daß nicht Geſetzgebung und Verwaltung getrennt ſein
ſollten, ſondern ſie bedeutete, daß das Recht des Königthums in voll-
kommen gleichem Maße über den beiden Gewalten ſtehe.

Das zweite wichtigere Moment aber beſtand darin, daß das Recht
des Körpers der Volksvertretung, in der Geſetzbildung mitzuwirken,
theils nicht klar gedacht, theils ſehr verſchieden begränzt, theils für ganze
Jahrzehnte in manchen Staaten gar nicht anerkannt ward. Es gab
daher Staaten, namentlich die drei ſüddeutſchen, welche den Begriff
und das Recht des Geſetzes vollſtändig ausgebildet hatten; es gab andere,
in denen das Recht der Theilnahme der Vertretung an der Bildung
des Staatswillens auf gewiſſe allgemeine Gränzen (z. B. Geſetze über
Freiheit und Eigenthum) beſchränkt war; es gab andere, in denen die
Vertretung nur das Recht der Berathung, und zwar in ganz unbe-
ſtimmter Ausdehnung beſaß; es gab andere, wie geſagt, in denen es
gar keine Vertretung gab. Deutſchlands öffentliches Recht bot daher
alle Variationen des Verhältniſſes von Geſetz und Verordnung dar,
Länder mit ausgebildetem, mit unklarem Verordnungsrecht, und Länder
in denen Geſetz und Verordnung wie im achtzehnten Jahrhundert voll-
kommen identiſch waren. In dieſer Verwirrung des Rechts und der
Begriffe lebte nun das Gefühl, und zum Theil auch das klare Bewußt-

Stein, die Verwaltungslehre. I. 5
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[65/0089] Die — wir müſſen ſagen ziemlich unklare Vorſtellung von dieſem Recht wird nun ſchon ſeit der Herrſchaft Napoleons auf die deutſchen Verfaſſungsbildungen übertragen, und hätte hier vielleicht gleich anfangs, ſeine volle wiſſenſchaftliche Entwicklung empfangend, die Baſis des öffent- lichen Rechts gebildet, wenn nicht zwei Gegengewichte vorhanden ge- weſen wären. Das erſte beſtand darin, daß man in der Aufſtellung des offen anerkannten Rechts der ſelbſtändigen, in der Volksvertretung repräſen- tirten geſetzgebenden Gewalt dasjenige geſehen hatte, was man die Theilung der Gewalten nannte. Man ging bei dieſer Vorſtellung auf den revolutionären Begriff der geſetzgebenden Gewalt zurück, und verſtand unter der Forderung nach einer Geſetzgebung im conſtitutio- nellen Sinne ein Verhältniß, in welchem Königthum und Executive identiſch, und das erſtere daher nicht nur ſeiner Stellung als freies Oberhaupt beraubt, ſondern direkt und rechtlich zu demjenigen Gehor- ſam gegen die Geſetzgebung verpflichtet wurde, der überhaupt der bloßen Vollziehung gegenüber dem Willen zukommt. Die höhere Natur des Königthums, geſtützt auf die Erfahrungen der Revolution, bekämpfte dieſe Auffaſſung und mit vollem Recht, und ſo entſtand das, was man in jener Zeit als das monarchiſche Princip in Verfaſſung und Verwal- tung bezeichnete: die Negation „der Trennung der Gewalten.“ Sie bedeutete nicht, daß nicht Geſetzgebung und Verwaltung getrennt ſein ſollten, ſondern ſie bedeutete, daß das Recht des Königthums in voll- kommen gleichem Maße über den beiden Gewalten ſtehe. Das zweite wichtigere Moment aber beſtand darin, daß das Recht des Körpers der Volksvertretung, in der Geſetzbildung mitzuwirken, theils nicht klar gedacht, theils ſehr verſchieden begränzt, theils für ganze Jahrzehnte in manchen Staaten gar nicht anerkannt ward. Es gab daher Staaten, namentlich die drei ſüddeutſchen, welche den Begriff und das Recht des Geſetzes vollſtändig ausgebildet hatten; es gab andere, in denen das Recht der Theilnahme der Vertretung an der Bildung des Staatswillens auf gewiſſe allgemeine Gränzen (z. B. Geſetze über Freiheit und Eigenthum) beſchränkt war; es gab andere, in denen die Vertretung nur das Recht der Berathung, und zwar in ganz unbe- ſtimmter Ausdehnung beſaß; es gab andere, wie geſagt, in denen es gar keine Vertretung gab. Deutſchlands öffentliches Recht bot daher alle Variationen des Verhältniſſes von Geſetz und Verordnung dar, Länder mit ausgebildetem, mit unklarem Verordnungsrecht, und Länder in denen Geſetz und Verordnung wie im achtzehnten Jahrhundert voll- kommen identiſch waren. In dieſer Verwirrung des Rechts und der Begriffe lebte nun das Gefühl, und zum Theil auch das klare Bewußt- Stein, die Verwaltungslehre. I. 5

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 65. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/89>, abgerufen am 27.11.2024.