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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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des städtischen Lebens auch die letzte Hoffnung auf die bessere Gestaltung
der ländlichen Verwaltung zu Grunde. Hier ist und bleibt die Herr-
schaft die Grundform. Die letzten Reste der Selbstverwaltung aus der
Epoche der Dorfschaften verschwinden, und man kann jetzt den Namen
einer Gemeinde auf das Land gar nicht mehr anwenden. Es gibt nur
noch städtische Gemeinden. Diese aber erheben sich namentlich in Deutsch-
land durch die klägliche Einheitslosigkeit und das Untergehen des Kaiser-
thums zu souveränen Reichsständen; die Städte selbst, namentlich nach
dem Vorbilde des ewig unorganischen Lebens Italiens, werden selbst
zu Herrschaften, und vernichten ihrerseits nicht minder wie die Grund-
herren jede Spur der freien Selbstverwaltung ihrer Territorien. Da-
her denn die Tradition, daß Stadt und Land in der Gemeindebildung
so wesentlich verschieden seien, eine Tradition, die sich übrigens nur
in Mitteleuropa erhalten hat. England kannte sie von jeher nicht, da
hier der Gegensatz zwischen Dorfschaft und Herrschaft nie zur Geltung
gelangte, und das Kirchspiel schon früh als Grundform der Gemeinde
auftritt, Stadt und Land ununterschieden umfassend, während Frank-
reich mit seiner Revolution den Unterschied gewaltsam in den des Ver-
waltungsbezirkes aufhob. Obwohl nun dieß erst dem Folgenden ange-
hört, so ist doch schon hier so viel klar, daß das Gemeindewesen in
jedem Lande eine eigenthümliche Gestalt bekommt; so verschieden in
Form und Princip, daß man wirklich Mühe hat, das Gleichartige fest-
zustellen. Und dieß wird nun im 18. Jahrhundert durch das Auftreten
der Staatsgewalt noch mehr gefördert.

6) Der Sieg des Königthums über die Landstände bezog sich aller-
dings zunächst nur auf das eingreifen desselben in die Reichsangelegen-
heiten, speziell auf diejenige Form dieses Eingreifens, welche durch die
Bewilligung der Steuer hervorgebracht ward. Die landesherrliche Ge-
walt nahm zuerst die Gesetzgebung an sich. Allein die raschere Ent-
wicklung des Gesammtlebens erzeugte neue, für alle Stände gültige
Verhältnisse und Interessen. Die Landschaften selbst waren, zum Theil
auch darum, weil jeder Stand noch immer ausschließlich an seinen In-
teressen festhielt, nicht fähig, jene neu entstehenden Interessen des Ganzen
zu beurtheilen, noch weniger sie zu verwalten. Die Landesverwaltung
als Ganzes fällt an den immer mächtiger werdenden Amtsorganismus.
Dieser Amtsorganismus läugnet nun zwar nicht das Recht der städti-
schen Gemeinden und Corporationen auf ihre Selbstverwaltung; allein
in dem Gefühle, für das Ganze zu sorgen, hält er dieß Recht nicht
für ein organisches, an sich nothwendiges, sondern für ein Vorrecht, ein
Privilegium. Daraus entsteht der Satz, daß diese Privilegien bestätigt
werden müssen; daraus der zweite, daß sie, wie jede Ausnahme von

des ſtädtiſchen Lebens auch die letzte Hoffnung auf die beſſere Geſtaltung
der ländlichen Verwaltung zu Grunde. Hier iſt und bleibt die Herr-
ſchaft die Grundform. Die letzten Reſte der Selbſtverwaltung aus der
Epoche der Dorfſchaften verſchwinden, und man kann jetzt den Namen
einer Gemeinde auf das Land gar nicht mehr anwenden. Es gibt nur
noch ſtädtiſche Gemeinden. Dieſe aber erheben ſich namentlich in Deutſch-
land durch die klägliche Einheitsloſigkeit und das Untergehen des Kaiſer-
thums zu ſouveränen Reichsſtänden; die Städte ſelbſt, namentlich nach
dem Vorbilde des ewig unorganiſchen Lebens Italiens, werden ſelbſt
zu Herrſchaften, und vernichten ihrerſeits nicht minder wie die Grund-
herren jede Spur der freien Selbſtverwaltung ihrer Territorien. Da-
her denn die Tradition, daß Stadt und Land in der Gemeindebildung
ſo weſentlich verſchieden ſeien, eine Tradition, die ſich übrigens nur
in Mitteleuropa erhalten hat. England kannte ſie von jeher nicht, da
hier der Gegenſatz zwiſchen Dorfſchaft und Herrſchaft nie zur Geltung
gelangte, und das Kirchſpiel ſchon früh als Grundform der Gemeinde
auftritt, Stadt und Land ununterſchieden umfaſſend, während Frank-
reich mit ſeiner Revolution den Unterſchied gewaltſam in den des Ver-
waltungsbezirkes aufhob. Obwohl nun dieß erſt dem Folgenden ange-
hört, ſo iſt doch ſchon hier ſo viel klar, daß das Gemeindeweſen in
jedem Lande eine eigenthümliche Geſtalt bekommt; ſo verſchieden in
Form und Princip, daß man wirklich Mühe hat, das Gleichartige feſt-
zuſtellen. Und dieß wird nun im 18. Jahrhundert durch das Auftreten
der Staatsgewalt noch mehr gefördert.

6) Der Sieg des Königthums über die Landſtände bezog ſich aller-
dings zunächſt nur auf das eingreifen deſſelben in die Reichsangelegen-
heiten, ſpeziell auf diejenige Form dieſes Eingreifens, welche durch die
Bewilligung der Steuer hervorgebracht ward. Die landesherrliche Ge-
walt nahm zuerſt die Geſetzgebung an ſich. Allein die raſchere Ent-
wicklung des Geſammtlebens erzeugte neue, für alle Stände gültige
Verhältniſſe und Intereſſen. Die Landſchaften ſelbſt waren, zum Theil
auch darum, weil jeder Stand noch immer ausſchließlich an ſeinen In-
tereſſen feſthielt, nicht fähig, jene neu entſtehenden Intereſſen des Ganzen
zu beurtheilen, noch weniger ſie zu verwalten. Die Landesverwaltung
als Ganzes fällt an den immer mächtiger werdenden Amtsorganismus.
Dieſer Amtsorganismus läugnet nun zwar nicht das Recht der ſtädti-
ſchen Gemeinden und Corporationen auf ihre Selbſtverwaltung; allein
in dem Gefühle, für das Ganze zu ſorgen, hält er dieß Recht nicht
für ein organiſches, an ſich nothwendiges, ſondern für ein Vorrecht, ein
Privilegium. Daraus entſteht der Satz, daß dieſe Privilegien beſtätigt
werden müſſen; daraus der zweite, daß ſie, wie jede Ausnahme von

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[457/0481] des ſtädtiſchen Lebens auch die letzte Hoffnung auf die beſſere Geſtaltung der ländlichen Verwaltung zu Grunde. Hier iſt und bleibt die Herr- ſchaft die Grundform. Die letzten Reſte der Selbſtverwaltung aus der Epoche der Dorfſchaften verſchwinden, und man kann jetzt den Namen einer Gemeinde auf das Land gar nicht mehr anwenden. Es gibt nur noch ſtädtiſche Gemeinden. Dieſe aber erheben ſich namentlich in Deutſch- land durch die klägliche Einheitsloſigkeit und das Untergehen des Kaiſer- thums zu ſouveränen Reichsſtänden; die Städte ſelbſt, namentlich nach dem Vorbilde des ewig unorganiſchen Lebens Italiens, werden ſelbſt zu Herrſchaften, und vernichten ihrerſeits nicht minder wie die Grund- herren jede Spur der freien Selbſtverwaltung ihrer Territorien. Da- her denn die Tradition, daß Stadt und Land in der Gemeindebildung ſo weſentlich verſchieden ſeien, eine Tradition, die ſich übrigens nur in Mitteleuropa erhalten hat. England kannte ſie von jeher nicht, da hier der Gegenſatz zwiſchen Dorfſchaft und Herrſchaft nie zur Geltung gelangte, und das Kirchſpiel ſchon früh als Grundform der Gemeinde auftritt, Stadt und Land ununterſchieden umfaſſend, während Frank- reich mit ſeiner Revolution den Unterſchied gewaltſam in den des Ver- waltungsbezirkes aufhob. Obwohl nun dieß erſt dem Folgenden ange- hört, ſo iſt doch ſchon hier ſo viel klar, daß das Gemeindeweſen in jedem Lande eine eigenthümliche Geſtalt bekommt; ſo verſchieden in Form und Princip, daß man wirklich Mühe hat, das Gleichartige feſt- zuſtellen. Und dieß wird nun im 18. Jahrhundert durch das Auftreten der Staatsgewalt noch mehr gefördert. 6) Der Sieg des Königthums über die Landſtände bezog ſich aller- dings zunächſt nur auf das eingreifen deſſelben in die Reichsangelegen- heiten, ſpeziell auf diejenige Form dieſes Eingreifens, welche durch die Bewilligung der Steuer hervorgebracht ward. Die landesherrliche Ge- walt nahm zuerſt die Geſetzgebung an ſich. Allein die raſchere Ent- wicklung des Geſammtlebens erzeugte neue, für alle Stände gültige Verhältniſſe und Intereſſen. Die Landſchaften ſelbſt waren, zum Theil auch darum, weil jeder Stand noch immer ausſchließlich an ſeinen In- tereſſen feſthielt, nicht fähig, jene neu entſtehenden Intereſſen des Ganzen zu beurtheilen, noch weniger ſie zu verwalten. Die Landesverwaltung als Ganzes fällt an den immer mächtiger werdenden Amtsorganismus. Dieſer Amtsorganismus läugnet nun zwar nicht das Recht der ſtädti- ſchen Gemeinden und Corporationen auf ihre Selbſtverwaltung; allein in dem Gefühle, für das Ganze zu ſorgen, hält er dieß Recht nicht für ein organiſches, an ſich nothwendiges, ſondern für ein Vorrecht, ein Privilegium. Daraus entſteht der Satz, daß dieſe Privilegien beſtätigt werden müſſen; daraus der zweite, daß ſie, wie jede Ausnahme von

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 457. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/481>, abgerufen am 06.05.2024.