Zuerst nämlich steht dieses System auf allen Punkten neben dem ersten großen organischen System des Staats, dem Organismus der Regierung oder dem Amtsorganismus. Beide umfassen dasselbe Gebiet, beide haben dieselben Aufgaben; beide fordern mit Recht im Namen des Staats Antheil an allem, was für und durch den Staat geschehen soll. Dennoch beruhen beide auf zwei verschiedenen Principien, ver- treten zwei verschiedene Grunderscheinungen, und selbst verschieden ge- artet, funktioniren beide in wesentlich verschiedener Weise. Der Staats- organismus im engeren Sinne ist die Vertretung der einheitlichen per- sönlichen Idee im Staatsleben; er hat die Identität der Interessen desselben zu verwirklichen, und den einheitlichen Willen des persönlichen Staats durch die Verschiedenheiten seines Lebens durchzuführen. Der Organismus der Selbstverwaltung ist dagegen das Organ der besondern Lebensverhältnisse und ihrer Interessen. Beide Organismen können nicht getrennt sein, so wenig wie das Allgemeine und das Besondere; beide werden aber nie ganz identisch werden. Sie werden daher stets in inniger Verbindung, und dennoch stets von verschiedenem Stand- punkt aus wirken. Es ist fast unvermeidlich, daß dabei sich nicht ein Gegensatz beider entwickle, der um so schärfer wird, je persönlicher die Beziehungen werden. Es ist eben so sehr in der Natur der Sache gelegen, daß der Staatsorganismus zuletzt stets als der herrschende Theil auftritt, als sich aus der durch ihn vollzogenen Unterwerfung der Sonderinteressen unter die allgemeinen eine gewisse Abneigung von Seiten der Selbstverwaltung gegen die Staatsverwaltung bildet, die, so oft sie im Einzelnen berechtigt sein mag, im Ganzen immer in dem Grade mehr unberechtigt ist, je kräftiger überhaupt das Verfassungs- leben entwickelt ist. In jedem Falle aber leuchtet ein, daß somit jenes System der Selbstverwaltung zunächst ohne seine äußeren, formellen Beziehungen zum amtlichen Organismus der Behörden nicht gedacht werden kann. Sie greifen nicht bloß in ihren Thätigkeiten, sondern auch in ihren Organen so tief in einander hinein, daß man, wie wir denn auch bei dem Behördensystem bereits bemerkten, den örtlichen Verwaltungsorganismus stets zugleich als einen behördlichen und als einen Selbstverwaltungsorganismus betrachten muß.
Gerade in dieser Beziehung nun, in der Ordnung des Organis- mus, der sich für die Verwaltung durch das Ineinandergreifen von staatlicher und Selbstverwaltung ergibt, sind die Staaten Europas wesentlich verschieden. Wir wollen versuchen, diese Verschiedenheiten auf bestimmte Kategorien zurückzuführen.
a) Verhältniß zur Staatsverwaltung.
Zuerſt nämlich ſteht dieſes Syſtem auf allen Punkten neben dem erſten großen organiſchen Syſtem des Staats, dem Organismus der Regierung oder dem Amtsorganismus. Beide umfaſſen daſſelbe Gebiet, beide haben dieſelben Aufgaben; beide fordern mit Recht im Namen des Staats Antheil an allem, was für und durch den Staat geſchehen ſoll. Dennoch beruhen beide auf zwei verſchiedenen Principien, ver- treten zwei verſchiedene Grunderſcheinungen, und ſelbſt verſchieden ge- artet, funktioniren beide in weſentlich verſchiedener Weiſe. Der Staats- organismus im engeren Sinne iſt die Vertretung der einheitlichen per- ſönlichen Idee im Staatsleben; er hat die Identität der Intereſſen deſſelben zu verwirklichen, und den einheitlichen Willen des perſönlichen Staats durch die Verſchiedenheiten ſeines Lebens durchzuführen. Der Organismus der Selbſtverwaltung iſt dagegen das Organ der beſondern Lebensverhältniſſe und ihrer Intereſſen. Beide Organismen können nicht getrennt ſein, ſo wenig wie das Allgemeine und das Beſondere; beide werden aber nie ganz identiſch werden. Sie werden daher ſtets in inniger Verbindung, und dennoch ſtets von verſchiedenem Stand- punkt aus wirken. Es iſt faſt unvermeidlich, daß dabei ſich nicht ein Gegenſatz beider entwickle, der um ſo ſchärfer wird, je perſönlicher die Beziehungen werden. Es iſt eben ſo ſehr in der Natur der Sache gelegen, daß der Staatsorganismus zuletzt ſtets als der herrſchende Theil auftritt, als ſich aus der durch ihn vollzogenen Unterwerfung der Sonderintereſſen unter die allgemeinen eine gewiſſe Abneigung von Seiten der Selbſtverwaltung gegen die Staatsverwaltung bildet, die, ſo oft ſie im Einzelnen berechtigt ſein mag, im Ganzen immer in dem Grade mehr unberechtigt iſt, je kräftiger überhaupt das Verfaſſungs- leben entwickelt iſt. In jedem Falle aber leuchtet ein, daß ſomit jenes Syſtem der Selbſtverwaltung zunächſt ohne ſeine äußeren, formellen Beziehungen zum amtlichen Organismus der Behörden nicht gedacht werden kann. Sie greifen nicht bloß in ihren Thätigkeiten, ſondern auch in ihren Organen ſo tief in einander hinein, daß man, wie wir denn auch bei dem Behördenſyſtem bereits bemerkten, den örtlichen Verwaltungsorganismus ſtets zugleich als einen behördlichen und als einen Selbſtverwaltungsorganismus betrachten muß.
Gerade in dieſer Beziehung nun, in der Ordnung des Organis- mus, der ſich für die Verwaltung durch das Ineinandergreifen von ſtaatlicher und Selbſtverwaltung ergibt, ſind die Staaten Europas weſentlich verſchieden. Wir wollen verſuchen, dieſe Verſchiedenheiten auf beſtimmte Kategorien zurückzuführen.
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[438/0462]
a) Verhältniß zur Staatsverwaltung.
Zuerſt nämlich ſteht dieſes Syſtem auf allen Punkten neben dem
erſten großen organiſchen Syſtem des Staats, dem Organismus der
Regierung oder dem Amtsorganismus. Beide umfaſſen daſſelbe Gebiet,
beide haben dieſelben Aufgaben; beide fordern mit Recht im Namen
des Staats Antheil an allem, was für und durch den Staat geſchehen
ſoll. Dennoch beruhen beide auf zwei verſchiedenen Principien, ver-
treten zwei verſchiedene Grunderſcheinungen, und ſelbſt verſchieden ge-
artet, funktioniren beide in weſentlich verſchiedener Weiſe. Der Staats-
organismus im engeren Sinne iſt die Vertretung der einheitlichen per-
ſönlichen Idee im Staatsleben; er hat die Identität der Intereſſen
deſſelben zu verwirklichen, und den einheitlichen Willen des perſönlichen
Staats durch die Verſchiedenheiten ſeines Lebens durchzuführen. Der
Organismus der Selbſtverwaltung iſt dagegen das Organ der beſondern
Lebensverhältniſſe und ihrer Intereſſen. Beide Organismen können
nicht getrennt ſein, ſo wenig wie das Allgemeine und das Beſondere;
beide werden aber nie ganz identiſch werden. Sie werden daher ſtets
in inniger Verbindung, und dennoch ſtets von verſchiedenem Stand-
punkt aus wirken. Es iſt faſt unvermeidlich, daß dabei ſich nicht ein
Gegenſatz beider entwickle, der um ſo ſchärfer wird, je perſönlicher die
Beziehungen werden. Es iſt eben ſo ſehr in der Natur der Sache
gelegen, daß der Staatsorganismus zuletzt ſtets als der herrſchende
Theil auftritt, als ſich aus der durch ihn vollzogenen Unterwerfung
der Sonderintereſſen unter die allgemeinen eine gewiſſe Abneigung von
Seiten der Selbſtverwaltung gegen die Staatsverwaltung bildet, die,
ſo oft ſie im Einzelnen berechtigt ſein mag, im Ganzen immer in dem
Grade mehr unberechtigt iſt, je kräftiger überhaupt das Verfaſſungs-
leben entwickelt iſt. In jedem Falle aber leuchtet ein, daß ſomit jenes
Syſtem der Selbſtverwaltung zunächſt ohne ſeine äußeren, formellen
Beziehungen zum amtlichen Organismus der Behörden nicht gedacht
werden kann. Sie greifen nicht bloß in ihren Thätigkeiten, ſondern
auch in ihren Organen ſo tief in einander hinein, daß man, wie wir
denn auch bei dem Behördenſyſtem bereits bemerkten, den örtlichen
Verwaltungsorganismus ſtets zugleich als einen behördlichen und als
einen Selbſtverwaltungsorganismus betrachten muß.
Gerade in dieſer Beziehung nun, in der Ordnung des Organis-
mus, der ſich für die Verwaltung durch das Ineinandergreifen von
ſtaatlicher und Selbſtverwaltung ergibt, ſind die Staaten Europas
weſentlich verſchieden. Wir wollen verſuchen, dieſe Verſchiedenheiten
auf beſtimmte Kategorien zurückzuführen.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/462>, abgerufen am 22.11.2024.
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