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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Recht Geltung hat oder fordert, sehen wir auf allen Punkten ein
Streben, das englische Princip der Selbstverwaltung zur Geltung
zu bringen. Da wo die Forderungen dieses Rechts ihre Gränze finden,
tritt dagegen das französische Princip auf. Und so bildet die Selbst-
verwaltung Deutschlands eine äußere und innere Verschmelzung dieser
beiden großen Principien, welche am Ende die höchste und vollendetste
Gestalt des inneren Staatslebens erzeugen wird, wenn das deutsche
Individuum, staatlich noch sehr unfertig, dereinst sich vollständig ent-
wickelt haben wird.

Wir wollen mit kurzen Zügen diese Grundlage des deutschen
Charakters der Selbstverwaltung bezeichnen. Den Gang der Geschichte
setzen wir dabei als bekannt voraus.

Aus der allmähligen Auflösung des Kaiserthums ging Deutschland
als eine Unzahl von kleinen, höchst zerrissenen und verschieden gearteten
staatlichen Formationen hervor. Jeder dieser kleinen Körper hatte sich
während des Mittelalters allmählig zu einem selbständigen Ganzen
gebildet, und ein eigenes staatliches Leben mit einer Art von Ver-
fassung, Verwaltung und Oberhaupt entwickelt. Die ganz kleinen
unmittelbaren Reichsstände waren zwar in der That nur souveräne
Gemeinden, und die Besitzungen der reichsunmittelbaren Grafen und
Ritter waren nicht einmal Gemeinden, sondern schon zu Gutsherr-
schaften herabgesunken; allein das Princip der Selbständigkeit galt für
sie eben so unbezweifelt, wie für die großen Staaten.

Als nun mit dem Anfang dieses Jahrhunderts die neuen Staaten-
bildungen begannen, mußten sich diese kleinen Körper den großen unter-
werfen. Der Proceß der Aufhebung ihrer Selbständigkeit beruhte aber
nicht, wie in Frankreich die Vernichtung der provinziellen Selbständigkeit,
auf einer höheren Rechtsanschauung, welche mit oder ohne Grund für
sich die Berechtigung in Anspruch nahm, das bestehende Recht im Namen
einer höheren Idee zu vernichten, sondern sie war einfach eine äußere
Unterwerfung zum Zwecke der Machtbildung. Es war daher auch
ganz natürlich, daß man von dem gegebenen Rechte nur so viel
aufhob, als nöthig war, um diese Machtbildung zu verwirklichen.
Und da nun die Formen und der Inhalt der inneren Verwaltung
der letzteren nicht widersprachen, so erkannte man das historische Recht
auf die bisherigen Verwaltungsformen in allem Wesentlichen als fort-
bestehend an und nahm daher diese Körper zugleich mit dem Recht auf
die eigene Verwaltung in die neueren Staatenbildungen auf. Es war
das um so verständlicher, als derselbe Grundsatz eigentlich von jeher
in Deutschland bei den Staatenbildungen aller Jahrhunderte gegolten
hatte. Sie waren in den bei weiten meisten Fällen nur auf Erbrecht

Recht Geltung hat oder fordert, ſehen wir auf allen Punkten ein
Streben, das engliſche Princip der Selbſtverwaltung zur Geltung
zu bringen. Da wo die Forderungen dieſes Rechts ihre Gränze finden,
tritt dagegen das franzöſiſche Princip auf. Und ſo bildet die Selbſt-
verwaltung Deutſchlands eine äußere und innere Verſchmelzung dieſer
beiden großen Principien, welche am Ende die höchſte und vollendetſte
Geſtalt des inneren Staatslebens erzeugen wird, wenn das deutſche
Individuum, ſtaatlich noch ſehr unfertig, dereinſt ſich vollſtändig ent-
wickelt haben wird.

Wir wollen mit kurzen Zügen dieſe Grundlage des deutſchen
Charakters der Selbſtverwaltung bezeichnen. Den Gang der Geſchichte
ſetzen wir dabei als bekannt voraus.

Aus der allmähligen Auflöſung des Kaiſerthums ging Deutſchland
als eine Unzahl von kleinen, höchſt zerriſſenen und verſchieden gearteten
ſtaatlichen Formationen hervor. Jeder dieſer kleinen Körper hatte ſich
während des Mittelalters allmählig zu einem ſelbſtändigen Ganzen
gebildet, und ein eigenes ſtaatliches Leben mit einer Art von Ver-
faſſung, Verwaltung und Oberhaupt entwickelt. Die ganz kleinen
unmittelbaren Reichsſtände waren zwar in der That nur ſouveräne
Gemeinden, und die Beſitzungen der reichsunmittelbaren Grafen und
Ritter waren nicht einmal Gemeinden, ſondern ſchon zu Gutsherr-
ſchaften herabgeſunken; allein das Princip der Selbſtändigkeit galt für
ſie eben ſo unbezweifelt, wie für die großen Staaten.

Als nun mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts die neuen Staaten-
bildungen begannen, mußten ſich dieſe kleinen Körper den großen unter-
werfen. Der Proceß der Aufhebung ihrer Selbſtändigkeit beruhte aber
nicht, wie in Frankreich die Vernichtung der provinziellen Selbſtändigkeit,
auf einer höheren Rechtsanſchauung, welche mit oder ohne Grund für
ſich die Berechtigung in Anſpruch nahm, das beſtehende Recht im Namen
einer höheren Idee zu vernichten, ſondern ſie war einfach eine äußere
Unterwerfung zum Zwecke der Machtbildung. Es war daher auch
ganz natürlich, daß man von dem gegebenen Rechte nur ſo viel
aufhob, als nöthig war, um dieſe Machtbildung zu verwirklichen.
Und da nun die Formen und der Inhalt der inneren Verwaltung
der letzteren nicht widerſprachen, ſo erkannte man das hiſtoriſche Recht
auf die bisherigen Verwaltungsformen in allem Weſentlichen als fort-
beſtehend an und nahm daher dieſe Körper zugleich mit dem Recht auf
die eigene Verwaltung in die neueren Staatenbildungen auf. Es war
das um ſo verſtändlicher, als derſelbe Grundſatz eigentlich von jeher
in Deutſchland bei den Staatenbildungen aller Jahrhunderte gegolten
hatte. Sie waren in den bei weiten meiſten Fällen nur auf Erbrecht

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[400/0424] Recht Geltung hat oder fordert, ſehen wir auf allen Punkten ein Streben, das engliſche Princip der Selbſtverwaltung zur Geltung zu bringen. Da wo die Forderungen dieſes Rechts ihre Gränze finden, tritt dagegen das franzöſiſche Princip auf. Und ſo bildet die Selbſt- verwaltung Deutſchlands eine äußere und innere Verſchmelzung dieſer beiden großen Principien, welche am Ende die höchſte und vollendetſte Geſtalt des inneren Staatslebens erzeugen wird, wenn das deutſche Individuum, ſtaatlich noch ſehr unfertig, dereinſt ſich vollſtändig ent- wickelt haben wird. Wir wollen mit kurzen Zügen dieſe Grundlage des deutſchen Charakters der Selbſtverwaltung bezeichnen. Den Gang der Geſchichte ſetzen wir dabei als bekannt voraus. Aus der allmähligen Auflöſung des Kaiſerthums ging Deutſchland als eine Unzahl von kleinen, höchſt zerriſſenen und verſchieden gearteten ſtaatlichen Formationen hervor. Jeder dieſer kleinen Körper hatte ſich während des Mittelalters allmählig zu einem ſelbſtändigen Ganzen gebildet, und ein eigenes ſtaatliches Leben mit einer Art von Ver- faſſung, Verwaltung und Oberhaupt entwickelt. Die ganz kleinen unmittelbaren Reichsſtände waren zwar in der That nur ſouveräne Gemeinden, und die Beſitzungen der reichsunmittelbaren Grafen und Ritter waren nicht einmal Gemeinden, ſondern ſchon zu Gutsherr- ſchaften herabgeſunken; allein das Princip der Selbſtändigkeit galt für ſie eben ſo unbezweifelt, wie für die großen Staaten. Als nun mit dem Anfang dieſes Jahrhunderts die neuen Staaten- bildungen begannen, mußten ſich dieſe kleinen Körper den großen unter- werfen. Der Proceß der Aufhebung ihrer Selbſtändigkeit beruhte aber nicht, wie in Frankreich die Vernichtung der provinziellen Selbſtändigkeit, auf einer höheren Rechtsanſchauung, welche mit oder ohne Grund für ſich die Berechtigung in Anſpruch nahm, das beſtehende Recht im Namen einer höheren Idee zu vernichten, ſondern ſie war einfach eine äußere Unterwerfung zum Zwecke der Machtbildung. Es war daher auch ganz natürlich, daß man von dem gegebenen Rechte nur ſo viel aufhob, als nöthig war, um dieſe Machtbildung zu verwirklichen. Und da nun die Formen und der Inhalt der inneren Verwaltung der letzteren nicht widerſprachen, ſo erkannte man das hiſtoriſche Recht auf die bisherigen Verwaltungsformen in allem Weſentlichen als fort- beſtehend an und nahm daher dieſe Körper zugleich mit dem Recht auf die eigene Verwaltung in die neueren Staatenbildungen auf. Es war das um ſo verſtändlicher, als derſelbe Grundſatz eigentlich von jeher in Deutſchland bei den Staatenbildungen aller Jahrhunderte gegolten hatte. Sie waren in den bei weiten meiſten Fällen nur auf Erbrecht

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 400. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/424>, abgerufen am 25.11.2024.