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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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und das unbesoldete Friedensrichteramt bestehen, ist an einen Organismus mit
Ministerial- und Behördensystem nicht zu denken.

Frankreich. Der ganze Organismus Frankreichs ist seinerseits die höchst
einseitige, aber in ihrer Art gewaltige Consequenz des Satzes, daß die Ver-
waltung der Gesetzgebung zu gehorchen, und für diesen Gehorsam ihr Verant-
wortlichkeit zu leisten schuldig ist. Daraus ergeben sich zwei Grundsätze, welche
den ganzen französischen Organismus beherrschen, und die von den Bildungen im
ganzen übrigen Europa zum Theil als Muster angenommen sind. Der erste ist der,
daß die Verwaltung in all' ihren wirklichen Thätigkeiten in dem Willen einer
einzelnen Persönlichkeit zusammengefaßt sein muß, damit eine Verantwortlichkeit
möglich sei; das ist der Minister. Der zweite ist, daß, um diese Verant-
wortlichkeit nicht zu umgehen, alle andern Regierungsorgane demselben un-
bedingt gehorchen müssen; und so entsteht das streng gegliederte, rein auf die
Vollziehung berechnete Behördensystem in Frankreich, dessen Kategorien
Prefet, Sous-Prefet und Maire im ganzen Reich unbedingt gleichartig in Form
und Recht sind. Die Strenge des Gesetzes hat hier die Selbständigkeit aller
Objekte desselben definitiv aufgehoben; wie der Wille Eins ist, so ist auch die
That Eins; es gibt keine Macht neben beiden, und jede Autonomie ist ein un-
lösbarer Widerspruch mit der französischen Staatsidee. Allerdings haben dadurch
die französischen Minister, wie die Behörden, einen ganz andern Charakter,
als in England und Deutschland; sie sind eben nur Vollzugsorgane. Die
Folgen im Einzelnen werden sich zeigen, wenn wir zu denselben gelangen.

Deutschland mit seinen eigenthümlichen Lebensverhältnissen zeigt uns
ein ganz anderes, vielverwirrtes Bild; hier hat der Organismus der Regierung
nicht bloß im Ganzen, sondern in jedem Staate wieder seine eigene Geschichte.
Wir können hier nur dieselbe mit wenig Worten charakterisiren; vielleicht, daß
wir den Anstoß zu tiefer gehenden Studien damit geben.

Diese Geschichte wird nun auf allen Punkten beherrscht durch das Gesetz
des innigen Zusammenhanges zwischen Verfassung und Verwaltungsorganismus
einerseits, andererseits aber durch die neu entstehende Frage nach der Möglich-
keit und der Gestalt der Selbstverwaltung gegenüber der Staatsgewalt.

Aus dem ersten Elemente geht eine neue Reihe von Erscheinungen hervor,
die wir sehr kurz charakterisiren können. Allenthalben nämlich, wo Verfassungen
entstehen, entstehen auch eigentliche Ministerien; und zwar theils mit der Ver-
fassung als Theil derselben, theils neben ihr als Ausfluß der Organisations-
gewalt des Staatsoberhaupts. Diese Ministerien finden ihre Heimath zunächst
in den verfassungsfreundlichen Staaten des Südens, Bayern, Württemberg,
Baden, und treten endlich auch in Preußen, zuletzt definitiv seit 1848 in Oester-
reich auf. Allein hergenommen aus französischem Vorbild, begleitet den Namen
und das Institut desselben eine gewisse Atmosphäre der allgewaltigen Regie-
rungsgewalt, gegen welche sich die staatsbürgerliche Freiheit sträubt. Man will
allerdings einen verantwortlichen Minister, aber man will ihm doch nicht die
ganze Verwaltung in die Hände geben. Man fühlt, daß die französischen Ideen
eine völlige Unselbständigkeit aller öffentlich rechtlichen Besonderheiten erzeugen,
und kann sie dennoch weder entbehren, noch auch gegenüber dem historischen

und das unbeſoldete Friedensrichteramt beſtehen, iſt an einen Organismus mit
Miniſterial- und Behördenſyſtem nicht zu denken.

Frankreich. Der ganze Organismus Frankreichs iſt ſeinerſeits die höchſt
einſeitige, aber in ihrer Art gewaltige Conſequenz des Satzes, daß die Ver-
waltung der Geſetzgebung zu gehorchen, und für dieſen Gehorſam ihr Verant-
wortlichkeit zu leiſten ſchuldig iſt. Daraus ergeben ſich zwei Grundſätze, welche
den ganzen franzöſiſchen Organismus beherrſchen, und die von den Bildungen im
ganzen übrigen Europa zum Theil als Muſter angenommen ſind. Der erſte iſt der,
daß die Verwaltung in all’ ihren wirklichen Thätigkeiten in dem Willen einer
einzelnen Perſönlichkeit zuſammengefaßt ſein muß, damit eine Verantwortlichkeit
möglich ſei; das iſt der Miniſter. Der zweite iſt, daß, um dieſe Verant-
wortlichkeit nicht zu umgehen, alle andern Regierungsorgane demſelben un-
bedingt gehorchen müſſen; und ſo entſteht das ſtreng gegliederte, rein auf die
Vollziehung berechnete Behördenſyſtem in Frankreich, deſſen Kategorien
Préfet, Sous-Préfet und Maire im ganzen Reich unbedingt gleichartig in Form
und Recht ſind. Die Strenge des Geſetzes hat hier die Selbſtändigkeit aller
Objekte deſſelben definitiv aufgehoben; wie der Wille Eins iſt, ſo iſt auch die
That Eins; es gibt keine Macht neben beiden, und jede Autonomie iſt ein un-
lösbarer Widerſpruch mit der franzöſiſchen Staatsidee. Allerdings haben dadurch
die franzöſiſchen Miniſter, wie die Behörden, einen ganz andern Charakter,
als in England und Deutſchland; ſie ſind eben nur Vollzugsorgane. Die
Folgen im Einzelnen werden ſich zeigen, wenn wir zu denſelben gelangen.

Deutſchland mit ſeinen eigenthümlichen Lebensverhältniſſen zeigt uns
ein ganz anderes, vielverwirrtes Bild; hier hat der Organismus der Regierung
nicht bloß im Ganzen, ſondern in jedem Staate wieder ſeine eigene Geſchichte.
Wir können hier nur dieſelbe mit wenig Worten charakteriſiren; vielleicht, daß
wir den Anſtoß zu tiefer gehenden Studien damit geben.

Dieſe Geſchichte wird nun auf allen Punkten beherrſcht durch das Geſetz
des innigen Zuſammenhanges zwiſchen Verfaſſung und Verwaltungsorganismus
einerſeits, andererſeits aber durch die neu entſtehende Frage nach der Möglich-
keit und der Geſtalt der Selbſtverwaltung gegenüber der Staatsgewalt.

Aus dem erſten Elemente geht eine neue Reihe von Erſcheinungen hervor,
die wir ſehr kurz charakteriſiren können. Allenthalben nämlich, wo Verfaſſungen
entſtehen, entſtehen auch eigentliche Miniſterien; und zwar theils mit der Ver-
faſſung als Theil derſelben, theils neben ihr als Ausfluß der Organiſations-
gewalt des Staatsoberhaupts. Dieſe Miniſterien finden ihre Heimath zunächſt
in den verfaſſungsfreundlichen Staaten des Südens, Bayern, Württemberg,
Baden, und treten endlich auch in Preußen, zuletzt definitiv ſeit 1848 in Oeſter-
reich auf. Allein hergenommen aus franzöſiſchem Vorbild, begleitet den Namen
und das Inſtitut deſſelben eine gewiſſe Atmoſphäre der allgewaltigen Regie-
rungsgewalt, gegen welche ſich die ſtaatsbürgerliche Freiheit ſträubt. Man will
allerdings einen verantwortlichen Miniſter, aber man will ihm doch nicht die
ganze Verwaltung in die Hände geben. Man fühlt, daß die franzöſiſchen Ideen
eine völlige Unſelbſtändigkeit aller öffentlich rechtlichen Beſonderheiten erzeugen,
und kann ſie dennoch weder entbehren, noch auch gegenüber dem hiſtoriſchen

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[302/0326] und das unbeſoldete Friedensrichteramt beſtehen, iſt an einen Organismus mit Miniſterial- und Behördenſyſtem nicht zu denken. Frankreich. Der ganze Organismus Frankreichs iſt ſeinerſeits die höchſt einſeitige, aber in ihrer Art gewaltige Conſequenz des Satzes, daß die Ver- waltung der Geſetzgebung zu gehorchen, und für dieſen Gehorſam ihr Verant- wortlichkeit zu leiſten ſchuldig iſt. Daraus ergeben ſich zwei Grundſätze, welche den ganzen franzöſiſchen Organismus beherrſchen, und die von den Bildungen im ganzen übrigen Europa zum Theil als Muſter angenommen ſind. Der erſte iſt der, daß die Verwaltung in all’ ihren wirklichen Thätigkeiten in dem Willen einer einzelnen Perſönlichkeit zuſammengefaßt ſein muß, damit eine Verantwortlichkeit möglich ſei; das iſt der Miniſter. Der zweite iſt, daß, um dieſe Verant- wortlichkeit nicht zu umgehen, alle andern Regierungsorgane demſelben un- bedingt gehorchen müſſen; und ſo entſteht das ſtreng gegliederte, rein auf die Vollziehung berechnete Behördenſyſtem in Frankreich, deſſen Kategorien Préfet, Sous-Préfet und Maire im ganzen Reich unbedingt gleichartig in Form und Recht ſind. Die Strenge des Geſetzes hat hier die Selbſtändigkeit aller Objekte deſſelben definitiv aufgehoben; wie der Wille Eins iſt, ſo iſt auch die That Eins; es gibt keine Macht neben beiden, und jede Autonomie iſt ein un- lösbarer Widerſpruch mit der franzöſiſchen Staatsidee. Allerdings haben dadurch die franzöſiſchen Miniſter, wie die Behörden, einen ganz andern Charakter, als in England und Deutſchland; ſie ſind eben nur Vollzugsorgane. Die Folgen im Einzelnen werden ſich zeigen, wenn wir zu denſelben gelangen. Deutſchland mit ſeinen eigenthümlichen Lebensverhältniſſen zeigt uns ein ganz anderes, vielverwirrtes Bild; hier hat der Organismus der Regierung nicht bloß im Ganzen, ſondern in jedem Staate wieder ſeine eigene Geſchichte. Wir können hier nur dieſelbe mit wenig Worten charakteriſiren; vielleicht, daß wir den Anſtoß zu tiefer gehenden Studien damit geben. Dieſe Geſchichte wird nun auf allen Punkten beherrſcht durch das Geſetz des innigen Zuſammenhanges zwiſchen Verfaſſung und Verwaltungsorganismus einerſeits, andererſeits aber durch die neu entſtehende Frage nach der Möglich- keit und der Geſtalt der Selbſtverwaltung gegenüber der Staatsgewalt. Aus dem erſten Elemente geht eine neue Reihe von Erſcheinungen hervor, die wir ſehr kurz charakteriſiren können. Allenthalben nämlich, wo Verfaſſungen entſtehen, entſtehen auch eigentliche Miniſterien; und zwar theils mit der Ver- faſſung als Theil derſelben, theils neben ihr als Ausfluß der Organiſations- gewalt des Staatsoberhaupts. Dieſe Miniſterien finden ihre Heimath zunächſt in den verfaſſungsfreundlichen Staaten des Südens, Bayern, Württemberg, Baden, und treten endlich auch in Preußen, zuletzt definitiv ſeit 1848 in Oeſter- reich auf. Allein hergenommen aus franzöſiſchem Vorbild, begleitet den Namen und das Inſtitut deſſelben eine gewiſſe Atmoſphäre der allgewaltigen Regie- rungsgewalt, gegen welche ſich die ſtaatsbürgerliche Freiheit ſträubt. Man will allerdings einen verantwortlichen Miniſter, aber man will ihm doch nicht die ganze Verwaltung in die Hände geben. Man fühlt, daß die franzöſiſchen Ideen eine völlige Unſelbſtändigkeit aller öffentlich rechtlichen Beſonderheiten erzeugen, und kann ſie dennoch weder entbehren, noch auch gegenüber dem hiſtoriſchen

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 302. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/326>, abgerufen am 25.11.2024.