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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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ist, wo sie jede einzelne Erscheinung in ihre tiefer wirkenden Ursachen
aufgelöst hat. In diesem Sinne reden wir von der Wissenschaft des
Staats als von der Wissenschaft seines organischen Lebens. Sie ist
die höchste Form der Wissenschaft des Lebendigen, und umfaßt das
ganze, in der äußern Welt thätige Dasein der Persönlichkeit. Sie hat
zu ihrer Voraussetzung die Kunde, und in ihrem höhern Stadium die
Wissenschaft des natürlichen Daseins, zu ihrem Inhalt die Wissenschaft
des Processes, mit welchem der Staat sich das erstere unterwirft. Ihr
gehört alles Folgende an. Aber eben um dieser ihrer Natur willen
muß -- und die weitere Darstellung wird zeigen, daß das auch seine große
unmittelbar praktische Bedeutung hat -- der besondere Theil über sein
organisches Verhalten zum Ganzen klar sein. Und wir sind daher ge-
zwungen, die Gebiete der Wissenschaft vom Staate darzulegen, um die-
jenigen beiden großen Gebiete desselben, die unsere eigentliche Aufgabe
bilden, die Vollziehung und die Verwaltung, in ihrem Wesen und selbst
in ihrem Rechte hinreichend bestimmen zu können.

Die organischen Elemente der Persönlichkeit des Staats.

Die erste Aufgabe der Wissenschaft des Staats besteht demnach
darin, den Begriff des Staats als jener höchsten Form der Persönlichkeit
in die Elemente aufzulösen, deren Zusammenwirken das Leben des
Staats erzeugt und ordnet.

Es ist kein Zweifel, daß diese Elemente, da wir den Staat als
die vollendete Form der Persönlichkeit, wenn auch als eine werdende
setzen, im Wesen der Persönlichkeit überhaupt gegeben seyn müssen, die
im Staate nur eine höhere Gestaltung empfangen.

Diese Elemente nun sind die folgenden:

Jede Persönlichkeit ist zuerst ein selbstbedingtes Wesen, das seiner
Natur nach alles auf sich bezieht und zum Inhalt seiner selbst macht.
Wir nennen diese Funktion, die im innersten Wesen der Persönlichkeit vor
sich geht, die Selbstbestimmung, und zwar in sofern jene Funktion
überhaupt Objekte aus der äußern Welt hat. In sofern aber diese
Gegenständlichkeit hinweggedacht wird, erscheint das reine Sich auf Sich
beziehen, das reine durch und in sich selbst seyn, oder wie man es sonst
bezeichnen will; und dieß reine für sich seyn ist das Ich der Persön-
lichkeit. Im einzelnen Menschen verschwindet dasselbe; es hat keine
eigene selbständige Erscheinung. Im Staate dagegen erscheint es
selbständig als das Staatsoberhaupt, das im Königthum seine
vollendetste Form empfängt.

Diese, mit dem Begriff des Ich gegebene, und das eigentliche

iſt, wo ſie jede einzelne Erſcheinung in ihre tiefer wirkenden Urſachen
aufgelöst hat. In dieſem Sinne reden wir von der Wiſſenſchaft des
Staats als von der Wiſſenſchaft ſeines organiſchen Lebens. Sie iſt
die höchſte Form der Wiſſenſchaft des Lebendigen, und umfaßt das
ganze, in der äußern Welt thätige Daſein der Perſönlichkeit. Sie hat
zu ihrer Vorausſetzung die Kunde, und in ihrem höhern Stadium die
Wiſſenſchaft des natürlichen Daſeins, zu ihrem Inhalt die Wiſſenſchaft
des Proceſſes, mit welchem der Staat ſich das erſtere unterwirft. Ihr
gehört alles Folgende an. Aber eben um dieſer ihrer Natur willen
muß — und die weitere Darſtellung wird zeigen, daß das auch ſeine große
unmittelbar praktiſche Bedeutung hat — der beſondere Theil über ſein
organiſches Verhalten zum Ganzen klar ſein. Und wir ſind daher ge-
zwungen, die Gebiete der Wiſſenſchaft vom Staate darzulegen, um die-
jenigen beiden großen Gebiete deſſelben, die unſere eigentliche Aufgabe
bilden, die Vollziehung und die Verwaltung, in ihrem Weſen und ſelbſt
in ihrem Rechte hinreichend beſtimmen zu können.

Die organiſchen Elemente der Perſönlichkeit des Staats.

Die erſte Aufgabe der Wiſſenſchaft des Staats beſteht demnach
darin, den Begriff des Staats als jener höchſten Form der Perſönlichkeit
in die Elemente aufzulöſen, deren Zuſammenwirken das Leben des
Staats erzeugt und ordnet.

Es iſt kein Zweifel, daß dieſe Elemente, da wir den Staat als
die vollendete Form der Perſönlichkeit, wenn auch als eine werdende
ſetzen, im Weſen der Perſönlichkeit überhaupt gegeben ſeyn müſſen, die
im Staate nur eine höhere Geſtaltung empfangen.

Dieſe Elemente nun ſind die folgenden:

Jede Perſönlichkeit iſt zuerſt ein ſelbſtbedingtes Weſen, das ſeiner
Natur nach alles auf ſich bezieht und zum Inhalt ſeiner ſelbſt macht.
Wir nennen dieſe Funktion, die im innerſten Weſen der Perſönlichkeit vor
ſich geht, die Selbſtbeſtimmung, und zwar in ſofern jene Funktion
überhaupt Objekte aus der äußern Welt hat. In ſofern aber dieſe
Gegenſtändlichkeit hinweggedacht wird, erſcheint das reine Sich auf Sich
beziehen, das reine durch und in ſich ſelbſt ſeyn, oder wie man es ſonſt
bezeichnen will; und dieß reine für ſich ſeyn iſt das Ich der Perſön-
lichkeit. Im einzelnen Menſchen verſchwindet daſſelbe; es hat keine
eigene ſelbſtändige Erſcheinung. Im Staate dagegen erſcheint es
ſelbſtändig als das Staatsoberhaupt, das im Königthum ſeine
vollendetſte Form empfängt.

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[4/0028] iſt, wo ſie jede einzelne Erſcheinung in ihre tiefer wirkenden Urſachen aufgelöst hat. In dieſem Sinne reden wir von der Wiſſenſchaft des Staats als von der Wiſſenſchaft ſeines organiſchen Lebens. Sie iſt die höchſte Form der Wiſſenſchaft des Lebendigen, und umfaßt das ganze, in der äußern Welt thätige Daſein der Perſönlichkeit. Sie hat zu ihrer Vorausſetzung die Kunde, und in ihrem höhern Stadium die Wiſſenſchaft des natürlichen Daſeins, zu ihrem Inhalt die Wiſſenſchaft des Proceſſes, mit welchem der Staat ſich das erſtere unterwirft. Ihr gehört alles Folgende an. Aber eben um dieſer ihrer Natur willen muß — und die weitere Darſtellung wird zeigen, daß das auch ſeine große unmittelbar praktiſche Bedeutung hat — der beſondere Theil über ſein organiſches Verhalten zum Ganzen klar ſein. Und wir ſind daher ge- zwungen, die Gebiete der Wiſſenſchaft vom Staate darzulegen, um die- jenigen beiden großen Gebiete deſſelben, die unſere eigentliche Aufgabe bilden, die Vollziehung und die Verwaltung, in ihrem Weſen und ſelbſt in ihrem Rechte hinreichend beſtimmen zu können. Die organiſchen Elemente der Perſönlichkeit des Staats. Die erſte Aufgabe der Wiſſenſchaft des Staats beſteht demnach darin, den Begriff des Staats als jener höchſten Form der Perſönlichkeit in die Elemente aufzulöſen, deren Zuſammenwirken das Leben des Staats erzeugt und ordnet. Es iſt kein Zweifel, daß dieſe Elemente, da wir den Staat als die vollendete Form der Perſönlichkeit, wenn auch als eine werdende ſetzen, im Weſen der Perſönlichkeit überhaupt gegeben ſeyn müſſen, die im Staate nur eine höhere Geſtaltung empfangen. Dieſe Elemente nun ſind die folgenden: Jede Perſönlichkeit iſt zuerſt ein ſelbſtbedingtes Weſen, das ſeiner Natur nach alles auf ſich bezieht und zum Inhalt ſeiner ſelbſt macht. Wir nennen dieſe Funktion, die im innerſten Weſen der Perſönlichkeit vor ſich geht, die Selbſtbeſtimmung, und zwar in ſofern jene Funktion überhaupt Objekte aus der äußern Welt hat. In ſofern aber dieſe Gegenſtändlichkeit hinweggedacht wird, erſcheint das reine Sich auf Sich beziehen, das reine durch und in ſich ſelbſt ſeyn, oder wie man es ſonſt bezeichnen will; und dieß reine für ſich ſeyn iſt das Ich der Perſön- lichkeit. Im einzelnen Menſchen verſchwindet daſſelbe; es hat keine eigene ſelbſtändige Erſcheinung. Im Staate dagegen erſcheint es ſelbſtändig als das Staatsoberhaupt, das im Königthum ſeine vollendetſte Form empfängt. Dieſe, mit dem Begriff des Ich gegebene, und das eigentliche

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 4. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/28>, abgerufen am 28.03.2024.