Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

Bild:
<< vorherige Seite

sein Mangel auf dem Mangel der selbständigen Funktion der Regierung
beruht. Dieselbe aber ist ein organisches Element, und kann daher
auf die Dauer nicht ohne Nachtheil unterdrückt werden. Die Zukunft
Englands liegt in der Beschränkung der Herrschaft, welche die Gesetz-
gebung über die Verwaltung ausübt, formell in der Herstellung eines
Beamtenstandes, nicht über, sondern neben der Gesetzgebung und
Selbstverwaltung. Und das was wir in Gneists Werk am höchsten
schätzen, ist das richtige Verständniß dieses Punktes in Englands staat-
licher Individualität.

Frankreich zeigt uns dagegen ein ganz anderes Bild. In
Frankreich ist die Thatsache und das Verständniß der ständischen Gesell-
schaftsordnung vollkommen unterdrückt; es leidet daran, daß die Reste
dieser Ordnung grundsätzlich rechtlos sind. Die staatsbürgerliche Gesell-
schaftsordnung herrscht allein; sie muß daher auch das Princip, von
welchem sie ausgeht, zum alleinherrschenden nicht bloß für die Gesell-
schaft, sondern auch für den Organismus des Staats machen. Dieß
Princip nun ist die Gleichheit. Die Gleichheit aber ist eine Abstraktion;
das wirkliche Leben erscheint vielmehr in beständig ungleichen Bildungen,
gesellschaftlich und wirthschaftlich. Der Staat und seine Regierung, als
Vertreter der Gleichheit, haben daher die erste und große, niemals
ruhende Funktion, diese Gleichheit auf allen Punkten zu erhalten und
herzustellen. Der Organismus des Staats, als Ausdruck dieser Funktion,
wird dadurch von zwei großen Grundsätzen in seiner ganzen Gestaltung
beherrscht. Er darf keine wahre Selbstverwaltung zulassen, denn sie
würde nicht bloß die Besonderheit in allen Gebieten des Lebens er-
zeugen und consolidiren, sondern das Recht der Selbstverwaltung wäre
eben der Rechtstitel der Verschiedenheiten; mit ihr würde die letztere
ein anerkanntes Element des öffentlichen Rechts sein; an sie würden
sich die gesellschaftlichen Unterschiede wieder zur Selbstthätigkeit heraus-
arbeiten; sie wäre die Grundlage einer zweiten Welt in der französischen;
sie ist, wie einmal der Charakter des französischen Staats ist, in Frank-
reich unmöglich. Die Folge für den Organismus ist die ausschließende
Herrschaft des Amtswesens im Ganzen wie im Einzelnen der Regierung;
die Funktion der letzteren ist hier im Gegensatz zu England nicht bloß
selbständig, sondern auch ganz allgemein; sie ist allein die Trägerin des
öffentlichen Interesses; sie ist die Verwaltung. Daher kann sie sich auch
in diesen Aktionen nicht dem Gerichte unterwerfen; sie läugnet dem
Gerichte sein Recht, ihre Aktion selbst dann zu beurtheilen, wenn sie
gegen das Gesetz verstößt; sie unterwirft sich zwar dem Gesetze, aber
sie interpretirt es allein für sich selbst. Frankreichs ganzer Orga-
nismus ist daher ein Organismus des Amtswesens; aber in diesem

ſein Mangel auf dem Mangel der ſelbſtändigen Funktion der Regierung
beruht. Dieſelbe aber iſt ein organiſches Element, und kann daher
auf die Dauer nicht ohne Nachtheil unterdrückt werden. Die Zukunft
Englands liegt in der Beſchränkung der Herrſchaft, welche die Geſetz-
gebung über die Verwaltung ausübt, formell in der Herſtellung eines
Beamtenſtandes, nicht über, ſondern neben der Geſetzgebung und
Selbſtverwaltung. Und das was wir in Gneiſts Werk am höchſten
ſchätzen, iſt das richtige Verſtändniß dieſes Punktes in Englands ſtaat-
licher Individualität.

Frankreich zeigt uns dagegen ein ganz anderes Bild. In
Frankreich iſt die Thatſache und das Verſtändniß der ſtändiſchen Geſell-
ſchaftsordnung vollkommen unterdrückt; es leidet daran, daß die Reſte
dieſer Ordnung grundſätzlich rechtlos ſind. Die ſtaatsbürgerliche Geſell-
ſchaftsordnung herrſcht allein; ſie muß daher auch das Princip, von
welchem ſie ausgeht, zum alleinherrſchenden nicht bloß für die Geſell-
ſchaft, ſondern auch für den Organismus des Staats machen. Dieß
Princip nun iſt die Gleichheit. Die Gleichheit aber iſt eine Abſtraktion;
das wirkliche Leben erſcheint vielmehr in beſtändig ungleichen Bildungen,
geſellſchaftlich und wirthſchaftlich. Der Staat und ſeine Regierung, als
Vertreter der Gleichheit, haben daher die erſte und große, niemals
ruhende Funktion, dieſe Gleichheit auf allen Punkten zu erhalten und
herzuſtellen. Der Organismus des Staats, als Ausdruck dieſer Funktion,
wird dadurch von zwei großen Grundſätzen in ſeiner ganzen Geſtaltung
beherrſcht. Er darf keine wahre Selbſtverwaltung zulaſſen, denn ſie
würde nicht bloß die Beſonderheit in allen Gebieten des Lebens er-
zeugen und conſolidiren, ſondern das Recht der Selbſtverwaltung wäre
eben der Rechtstitel der Verſchiedenheiten; mit ihr würde die letztere
ein anerkanntes Element des öffentlichen Rechts ſein; an ſie würden
ſich die geſellſchaftlichen Unterſchiede wieder zur Selbſtthätigkeit heraus-
arbeiten; ſie wäre die Grundlage einer zweiten Welt in der franzöſiſchen;
ſie iſt, wie einmal der Charakter des franzöſiſchen Staats iſt, in Frank-
reich unmöglich. Die Folge für den Organismus iſt die ausſchließende
Herrſchaft des Amtsweſens im Ganzen wie im Einzelnen der Regierung;
die Funktion der letzteren iſt hier im Gegenſatz zu England nicht bloß
ſelbſtändig, ſondern auch ganz allgemein; ſie iſt allein die Trägerin des
öffentlichen Intereſſes; ſie iſt die Verwaltung. Daher kann ſie ſich auch
in dieſen Aktionen nicht dem Gerichte unterwerfen; ſie läugnet dem
Gerichte ſein Recht, ihre Aktion ſelbſt dann zu beurtheilen, wenn ſie
gegen das Geſetz verſtößt; ſie unterwirft ſich zwar dem Geſetze, aber
ſie interpretirt es allein für ſich ſelbſt. Frankreichs ganzer Orga-
nismus iſt daher ein Organismus des Amtsweſens; aber in dieſem

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <p><pb facs="#f0279" n="255"/>
&#x017F;ein Mangel auf dem Mangel der &#x017F;elb&#x017F;tändigen Funktion der Regierung<lb/>
beruht. Die&#x017F;elbe aber i&#x017F;t ein organi&#x017F;ches Element, und kann daher<lb/>
auf die Dauer nicht ohne Nachtheil unterdrückt werden. Die Zukunft<lb/>
Englands liegt in der Be&#x017F;chränkung der Herr&#x017F;chaft, welche die Ge&#x017F;etz-<lb/>
gebung über die Verwaltung ausübt, formell in der Her&#x017F;tellung eines<lb/>
Beamten&#x017F;tandes, nicht <hi rendition="#g">über</hi>, &#x017F;ondern neben der Ge&#x017F;etzgebung und<lb/>
Selb&#x017F;tverwaltung. Und das was wir in Gnei&#x017F;ts Werk am höch&#x017F;ten<lb/>
&#x017F;chätzen, i&#x017F;t das richtige Ver&#x017F;tändniß die&#x017F;es Punktes in Englands &#x017F;taat-<lb/>
licher Individualität.</p><lb/>
            <p><hi rendition="#g">Frankreich</hi> zeigt uns dagegen ein ganz anderes Bild. In<lb/>
Frankreich i&#x017F;t die That&#x017F;ache und das Ver&#x017F;tändniß der &#x017F;tändi&#x017F;chen Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftsordnung vollkommen unterdrückt; es leidet daran, daß die Re&#x017F;te<lb/>
die&#x017F;er Ordnung grund&#x017F;ätzlich rechtlos &#x017F;ind. Die &#x017F;taatsbürgerliche Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaftsordnung herr&#x017F;cht allein; &#x017F;ie muß daher auch das Princip, von<lb/>
welchem &#x017F;ie ausgeht, zum alleinherr&#x017F;chenden nicht bloß für die Ge&#x017F;ell-<lb/>
&#x017F;chaft, &#x017F;ondern auch für den Organismus des Staats machen. Dieß<lb/>
Princip nun i&#x017F;t die <hi rendition="#g">Gleichheit</hi>. Die Gleichheit aber i&#x017F;t eine Ab&#x017F;traktion;<lb/>
das wirkliche Leben er&#x017F;cheint vielmehr in be&#x017F;tändig ungleichen Bildungen,<lb/>
ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlich und wirth&#x017F;chaftlich. Der Staat und &#x017F;eine Regierung, als<lb/>
Vertreter der Gleichheit, haben daher die er&#x017F;te und große, niemals<lb/>
ruhende Funktion, die&#x017F;e Gleichheit auf <hi rendition="#g">allen</hi> Punkten zu erhalten und<lb/>
herzu&#x017F;tellen. Der Organismus des Staats, als Ausdruck die&#x017F;er Funktion,<lb/>
wird dadurch von zwei großen Grund&#x017F;ätzen in &#x017F;einer ganzen Ge&#x017F;taltung<lb/>
beherr&#x017F;cht. Er darf keine wahre Selb&#x017F;tverwaltung zula&#x017F;&#x017F;en, denn &#x017F;ie<lb/>
würde nicht bloß die Be&#x017F;onderheit in allen Gebieten des Lebens er-<lb/>
zeugen und con&#x017F;olidiren, &#x017F;ondern das Recht der Selb&#x017F;tverwaltung wäre<lb/>
eben der Rechtstitel der Ver&#x017F;chiedenheiten; mit ihr würde die letztere<lb/>
ein anerkanntes Element des öffentlichen Rechts &#x017F;ein; an &#x017F;ie würden<lb/>
&#x017F;ich die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Unter&#x017F;chiede wieder zur Selb&#x017F;tthätigkeit heraus-<lb/>
arbeiten; &#x017F;ie wäre die Grundlage einer zweiten Welt in der franzö&#x017F;i&#x017F;chen;<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t, wie einmal der Charakter des franzö&#x017F;i&#x017F;chen Staats i&#x017F;t, in Frank-<lb/>
reich unmöglich. Die Folge für den Organismus i&#x017F;t die aus&#x017F;chließende<lb/>
Herr&#x017F;chaft des Amtswe&#x017F;ens im Ganzen wie im Einzelnen der Regierung;<lb/>
die Funktion der letzteren i&#x017F;t hier im Gegen&#x017F;atz zu England nicht bloß<lb/>
&#x017F;elb&#x017F;tändig, &#x017F;ondern auch ganz allgemein; &#x017F;ie i&#x017F;t allein die Trägerin des<lb/>
öffentlichen Intere&#x017F;&#x017F;es; &#x017F;ie i&#x017F;t die Verwaltung. Daher kann &#x017F;ie &#x017F;ich auch<lb/>
in die&#x017F;en Aktionen nicht dem Gerichte unterwerfen; &#x017F;ie läugnet dem<lb/>
Gerichte &#x017F;ein Recht, ihre Aktion &#x017F;elb&#x017F;t dann zu beurtheilen, wenn &#x017F;ie<lb/>
gegen das Ge&#x017F;etz ver&#x017F;tößt; &#x017F;ie unterwirft &#x017F;ich zwar dem Ge&#x017F;etze, aber<lb/>
&#x017F;ie interpretirt <hi rendition="#g">es allein für &#x017F;ich &#x017F;elb&#x017F;t</hi>. Frankreichs ganzer Orga-<lb/>
nismus i&#x017F;t daher ein Organismus des Amtswe&#x017F;ens; aber in die&#x017F;em<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[255/0279] ſein Mangel auf dem Mangel der ſelbſtändigen Funktion der Regierung beruht. Dieſelbe aber iſt ein organiſches Element, und kann daher auf die Dauer nicht ohne Nachtheil unterdrückt werden. Die Zukunft Englands liegt in der Beſchränkung der Herrſchaft, welche die Geſetz- gebung über die Verwaltung ausübt, formell in der Herſtellung eines Beamtenſtandes, nicht über, ſondern neben der Geſetzgebung und Selbſtverwaltung. Und das was wir in Gneiſts Werk am höchſten ſchätzen, iſt das richtige Verſtändniß dieſes Punktes in Englands ſtaat- licher Individualität. Frankreich zeigt uns dagegen ein ganz anderes Bild. In Frankreich iſt die Thatſache und das Verſtändniß der ſtändiſchen Geſell- ſchaftsordnung vollkommen unterdrückt; es leidet daran, daß die Reſte dieſer Ordnung grundſätzlich rechtlos ſind. Die ſtaatsbürgerliche Geſell- ſchaftsordnung herrſcht allein; ſie muß daher auch das Princip, von welchem ſie ausgeht, zum alleinherrſchenden nicht bloß für die Geſell- ſchaft, ſondern auch für den Organismus des Staats machen. Dieß Princip nun iſt die Gleichheit. Die Gleichheit aber iſt eine Abſtraktion; das wirkliche Leben erſcheint vielmehr in beſtändig ungleichen Bildungen, geſellſchaftlich und wirthſchaftlich. Der Staat und ſeine Regierung, als Vertreter der Gleichheit, haben daher die erſte und große, niemals ruhende Funktion, dieſe Gleichheit auf allen Punkten zu erhalten und herzuſtellen. Der Organismus des Staats, als Ausdruck dieſer Funktion, wird dadurch von zwei großen Grundſätzen in ſeiner ganzen Geſtaltung beherrſcht. Er darf keine wahre Selbſtverwaltung zulaſſen, denn ſie würde nicht bloß die Beſonderheit in allen Gebieten des Lebens er- zeugen und conſolidiren, ſondern das Recht der Selbſtverwaltung wäre eben der Rechtstitel der Verſchiedenheiten; mit ihr würde die letztere ein anerkanntes Element des öffentlichen Rechts ſein; an ſie würden ſich die geſellſchaftlichen Unterſchiede wieder zur Selbſtthätigkeit heraus- arbeiten; ſie wäre die Grundlage einer zweiten Welt in der franzöſiſchen; ſie iſt, wie einmal der Charakter des franzöſiſchen Staats iſt, in Frank- reich unmöglich. Die Folge für den Organismus iſt die ausſchließende Herrſchaft des Amtsweſens im Ganzen wie im Einzelnen der Regierung; die Funktion der letzteren iſt hier im Gegenſatz zu England nicht bloß ſelbſtändig, ſondern auch ganz allgemein; ſie iſt allein die Trägerin des öffentlichen Intereſſes; ſie iſt die Verwaltung. Daher kann ſie ſich auch in dieſen Aktionen nicht dem Gerichte unterwerfen; ſie läugnet dem Gerichte ſein Recht, ihre Aktion ſelbſt dann zu beurtheilen, wenn ſie gegen das Geſetz verſtößt; ſie unterwirft ſich zwar dem Geſetze, aber ſie interpretirt es allein für ſich ſelbſt. Frankreichs ganzer Orga- nismus iſt daher ein Organismus des Amtsweſens; aber in dieſem

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/279
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 255. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/279>, abgerufen am 14.08.2024.