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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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beginnt in Frankreich die Lehre vom Conflit de competence; darnach
gibt es, im geraden Gegensatze zu England, keinen Competenz con-
flikt
, sondern nur einen Competenzstreit; die Klage ist definitiv aus-
geschlossen, und nur die Beschwerde zulässig.

So wenig nun wie in England die Verschmelzung beider in das
einseitige Klagrecht sich strenge erhalten konnte, so wenig konnte sich
natürlich in Frankreich jene Verschmelzung in das einseitige Beschwerde-
recht auf die Dauer durchführen lassen. Schon im selben Jahre, wo
das Gesetz vom 16--24. August erlassen ward, sehen wir den Compe-
tenzstreit zwischen Justiz und Administration entstehen; und schon das
Gesetz vom 7--14. Oktober 1790 entschied: des reclamations d'incom-
petence a l'egard des corps administratifs ne sont, en aucun cas,
du ressort des tribunaux; elles seront portees au Roi, chef de
l'administration generale, et dans le cas ou l'on pretendrait que
les Ministres de Sa Majeste auraient fait rendre une decision con-
traire aux lois,
les plaintes seront adressees au corps legislatif."

Hier ist also bereits der Conflikt neben der reclamation als plainte,
Klage, hingestellt; aber auch hier bleibt derselbe den Gerichten entzogen,
und ist zum Gegenstand der gesetzgeberischen Thätigkeit gemacht. Einen
eigentlichen Conflikt gibt es daher nicht, denn es gibt noch keine Klage
vor Gericht. Dieser Zustand erhielt sich unter dem Kaiserreich. Die
neue Gewalt des Kaiserthums kann die Frage, ob ein Verwaltungsakt
gegen ein Gesetz laufe, den Gerichten nicht überlassen; es hält sie fest
für seine Verwaltungsbehörden. Zugleich aber werden nun die Codes
erlassen. Es ist kein Zweifel, daß diese ein gesetzliches Recht enthalten.
Kann die Verwaltungsbehörde auch das Recht der Codes angreifen
und darüber außerhalb der Gerichte entscheiden, so sind die bürgerlichen
Rechte fast direkt illusorisch. Dennoch ist eine beständige Berührung
der Verwaltung mit dem Rechte der Codes unvermeidlich. Die Unter-
werfung der Verwaltungsakte unter die jurisdiction des tribunaux will
man trotzdem nicht zugeben; die Unabhängigkeit der Gerichte darf man
nicht angreifen. Der Widerspruch zwischen beiden Principien ist klar;
das französische Recht muß ihn lösen, soll es nicht das eine Rechts-
gebiet direkt dem andern opfern. Aus diesen Elementen nun entspringt
das eigenthümliche System des französischen Rechts, das man so selten
richtig beurtheilt hat, und in welchem selbst die Franzosen nicht ganz
klar sehen. Dasselbe beruht auf der Aufstellung dreier Gruppen von
Verhältnissen, von denen die zweite in den gewöhnlichen französischen
Darstellungen nicht zur Erscheinung kommt: die jurisprudence du
contentieux administratif,
der jurisprudence de la competence, und
der jurisprudence du conflit.


beginnt in Frankreich die Lehre vom Conflit de compétence; darnach
gibt es, im geraden Gegenſatze zu England, keinen Competenz con-
flikt
, ſondern nur einen Competenzſtreit; die Klage iſt definitiv aus-
geſchloſſen, und nur die Beſchwerde zuläſſig.

So wenig nun wie in England die Verſchmelzung beider in das
einſeitige Klagrecht ſich ſtrenge erhalten konnte, ſo wenig konnte ſich
natürlich in Frankreich jene Verſchmelzung in das einſeitige Beſchwerde-
recht auf die Dauer durchführen laſſen. Schon im ſelben Jahre, wo
das Geſetz vom 16—24. Auguſt erlaſſen ward, ſehen wir den Compe-
tenzſtreit zwiſchen Juſtiz und Adminiſtration entſtehen; und ſchon das
Geſetz vom 7—14. Oktober 1790 entſchied: des réclamations d’incom-
pétence à l’égard des corps administratifs ne sont, en aucun cas,
du ressort des tribunaux; elles seront portées au Roi, chef de
l’administration générale, et dans le cas où l’on prétendrait que
les Ministres de Sa Majesté auraient fait rendre une décision con-
traire aux lois,
les plaintes seront adressées au corps législatif.

Hier iſt alſo bereits der Conflikt neben der réclamation als plainte,
Klage, hingeſtellt; aber auch hier bleibt derſelbe den Gerichten entzogen,
und iſt zum Gegenſtand der geſetzgeberiſchen Thätigkeit gemacht. Einen
eigentlichen Conflikt gibt es daher nicht, denn es gibt noch keine Klage
vor Gericht. Dieſer Zuſtand erhielt ſich unter dem Kaiſerreich. Die
neue Gewalt des Kaiſerthums kann die Frage, ob ein Verwaltungsakt
gegen ein Geſetz laufe, den Gerichten nicht überlaſſen; es hält ſie feſt
für ſeine Verwaltungsbehörden. Zugleich aber werden nun die Codes
erlaſſen. Es iſt kein Zweifel, daß dieſe ein geſetzliches Recht enthalten.
Kann die Verwaltungsbehörde auch das Recht der Codes angreifen
und darüber außerhalb der Gerichte entſcheiden, ſo ſind die bürgerlichen
Rechte faſt direkt illuſoriſch. Dennoch iſt eine beſtändige Berührung
der Verwaltung mit dem Rechte der Codes unvermeidlich. Die Unter-
werfung der Verwaltungsakte unter die jurisdiction des tribunaux will
man trotzdem nicht zugeben; die Unabhängigkeit der Gerichte darf man
nicht angreifen. Der Widerſpruch zwiſchen beiden Principien iſt klar;
das franzöſiſche Recht muß ihn löſen, ſoll es nicht das eine Rechts-
gebiet direkt dem andern opfern. Aus dieſen Elementen nun entſpringt
das eigenthümliche Syſtem des franzöſiſchen Rechts, das man ſo ſelten
richtig beurtheilt hat, und in welchem ſelbſt die Franzoſen nicht ganz
klar ſehen. Daſſelbe beruht auf der Aufſtellung dreier Gruppen von
Verhältniſſen, von denen die zweite in den gewöhnlichen franzöſiſchen
Darſtellungen nicht zur Erſcheinung kommt: die jurisprudence du
contentieux administratif,
der jurisprudence de la compétence, und
der jurisprudence du conflit.


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[175/0199] beginnt in Frankreich die Lehre vom Conflit de compétence; darnach gibt es, im geraden Gegenſatze zu England, keinen Competenz con- flikt, ſondern nur einen Competenzſtreit; die Klage iſt definitiv aus- geſchloſſen, und nur die Beſchwerde zuläſſig. So wenig nun wie in England die Verſchmelzung beider in das einſeitige Klagrecht ſich ſtrenge erhalten konnte, ſo wenig konnte ſich natürlich in Frankreich jene Verſchmelzung in das einſeitige Beſchwerde- recht auf die Dauer durchführen laſſen. Schon im ſelben Jahre, wo das Geſetz vom 16—24. Auguſt erlaſſen ward, ſehen wir den Compe- tenzſtreit zwiſchen Juſtiz und Adminiſtration entſtehen; und ſchon das Geſetz vom 7—14. Oktober 1790 entſchied: des réclamations d’incom- pétence à l’égard des corps administratifs ne sont, en aucun cas, du ressort des tribunaux; elles seront portées au Roi, chef de l’administration générale, et dans le cas où l’on prétendrait que les Ministres de Sa Majesté auraient fait rendre une décision con- traire aux lois, les plaintes seront adressées au corps législatif.“ Hier iſt alſo bereits der Conflikt neben der réclamation als plainte, Klage, hingeſtellt; aber auch hier bleibt derſelbe den Gerichten entzogen, und iſt zum Gegenſtand der geſetzgeberiſchen Thätigkeit gemacht. Einen eigentlichen Conflikt gibt es daher nicht, denn es gibt noch keine Klage vor Gericht. Dieſer Zuſtand erhielt ſich unter dem Kaiſerreich. Die neue Gewalt des Kaiſerthums kann die Frage, ob ein Verwaltungsakt gegen ein Geſetz laufe, den Gerichten nicht überlaſſen; es hält ſie feſt für ſeine Verwaltungsbehörden. Zugleich aber werden nun die Codes erlaſſen. Es iſt kein Zweifel, daß dieſe ein geſetzliches Recht enthalten. Kann die Verwaltungsbehörde auch das Recht der Codes angreifen und darüber außerhalb der Gerichte entſcheiden, ſo ſind die bürgerlichen Rechte faſt direkt illuſoriſch. Dennoch iſt eine beſtändige Berührung der Verwaltung mit dem Rechte der Codes unvermeidlich. Die Unter- werfung der Verwaltungsakte unter die jurisdiction des tribunaux will man trotzdem nicht zugeben; die Unabhängigkeit der Gerichte darf man nicht angreifen. Der Widerſpruch zwiſchen beiden Principien iſt klar; das franzöſiſche Recht muß ihn löſen, ſoll es nicht das eine Rechts- gebiet direkt dem andern opfern. Aus dieſen Elementen nun entſpringt das eigenthümliche Syſtem des franzöſiſchen Rechts, das man ſo ſelten richtig beurtheilt hat, und in welchem ſelbſt die Franzoſen nicht ganz klar ſehen. Daſſelbe beruht auf der Aufſtellung dreier Gruppen von Verhältniſſen, von denen die zweite in den gewöhnlichen franzöſiſchen Darſtellungen nicht zur Erſcheinung kommt: die jurisprudence du contentieux administratif, der jurisprudence de la compétence, und der jurisprudence du conflit.

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 175. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/199>, abgerufen am 18.04.2024.