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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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hat das volle Recht, nicht bloß die allgemeine Verordnung durch ein-
zelne Verordnungen, die einzelnen Verordnungen durch Verfügungen
und Instruktionen jeden Augenblick zu ändern; sie hat auch das Recht,
den Willen und einzelne Handlung ihrer einzelnen Organe als ihren
Willen anzuerkennen, ohne Rücksicht darauf, ob die letztere mit der
Verordnung im offensten Widerspruche stehen. Es ist kein Zweifel, daß
der gesetzgebenden Gewalt dasselbe Recht in Beziehung auf das gesetzliche
Recht zusteht; es kann und soll aber auch kein Zweifel sein, daß der
vollziehenden Gewalt für ihre Verordnungen, Verfügungen und ein-
zelnen Aktionen genau dasselbe Recht zugesprochen werden muß. Und
zwar ist diese Forderung nicht etwa die Heiligung der Willkür. Sie
ist vielmehr ein organisches, und darum unbedingt nothwendiges Prin-
cip des Staatslebens. Denn die Vollziehung soll das Gesetz nicht
etwa in abstracto verwirklichen, sondern sie soll es in den unendlichen
Wechsel und die Vielgestaltigkeit des Lebens einführen. Sie soll nicht
starr die Lebendigkeit dieser äußern Welt brechen, sondern das Princip
des Gesetzes mit den gegebenen Thatsachen und Lebensverhältnissen zur
Harmonie bringen. Sie muß daher fähig sein, wie dieses Leben selbst,
das niemals still steht und sich nirgends vollkommen gleich ist, in un-
endlich vielen und verschiedenen Gestalten aufzutreten, zu wechseln und
zu modificiren, wo sie es für nöthig hält, und dadurch die Grundlage
allen Erfolges, die innere Gleichartigkeit der handelnden Kraft mit der
äußern lebendigen Welt ihrer Objekte hervorzubringen. Jene Rechte
der vollziehenden Gewalt sind daher durch das Wesen des Staatslebens
selbst bedingt; es ist unmöglich, sowohl sie ihr zu nehmen als sie zu
beschränken; daß die Vollziehung mitten in diesem Wechsel den einheit-
lichen Gedanken der Gesetzgebung festhalte, dafür sorgt das Princip der
Verantwortlichkeit; so lange aber kein positives Gesetz jener lebendigen
Thätigkeit entgegentritt, ist die Verordnungsgewalt absolut frei und
selbstbestimmt
für alles, was als eine Aeußerung ihrer selbst be-
trachtet werden muß.

Daraus nun folgt der oberste Grundsatz für das ganze Be-
schwerderecht. Kein ausgesprochener Wille der Regierung, keine Ver-
ordnung
, gibt einem Einzelnen ein Recht darauf, daß die Regierung
diese Verordnung ihm gegenüber als wirklichen Inhalt
ihres Willens anerkenne
. Wenn daher eine Differenz zwischen
Verordnung, Verfügung und Handlung ihrer Organe besteht, so kann
sie nach eigenem Ermessen, gleich der gesetzgebenden Gewalt, die Ab-
weichung der letztern von der erstern unbedingt zu ihrem eigenen Willen
machen. Es kann daher von einem, durch eine Verordnung erwor-
benen Rechte des Einzelnen auf eine bestimmte Gestalt

hat das volle Recht, nicht bloß die allgemeine Verordnung durch ein-
zelne Verordnungen, die einzelnen Verordnungen durch Verfügungen
und Inſtruktionen jeden Augenblick zu ändern; ſie hat auch das Recht,
den Willen und einzelne Handlung ihrer einzelnen Organe als ihren
Willen anzuerkennen, ohne Rückſicht darauf, ob die letztere mit der
Verordnung im offenſten Widerſpruche ſtehen. Es iſt kein Zweifel, daß
der geſetzgebenden Gewalt daſſelbe Recht in Beziehung auf das geſetzliche
Recht zuſteht; es kann und ſoll aber auch kein Zweifel ſein, daß der
vollziehenden Gewalt für ihre Verordnungen, Verfügungen und ein-
zelnen Aktionen genau daſſelbe Recht zugeſprochen werden muß. Und
zwar iſt dieſe Forderung nicht etwa die Heiligung der Willkür. Sie
iſt vielmehr ein organiſches, und darum unbedingt nothwendiges Prin-
cip des Staatslebens. Denn die Vollziehung ſoll das Geſetz nicht
etwa in abstracto verwirklichen, ſondern ſie ſoll es in den unendlichen
Wechſel und die Vielgeſtaltigkeit des Lebens einführen. Sie ſoll nicht
ſtarr die Lebendigkeit dieſer äußern Welt brechen, ſondern das Princip
des Geſetzes mit den gegebenen Thatſachen und Lebensverhältniſſen zur
Harmonie bringen. Sie muß daher fähig ſein, wie dieſes Leben ſelbſt,
das niemals ſtill ſteht und ſich nirgends vollkommen gleich iſt, in un-
endlich vielen und verſchiedenen Geſtalten aufzutreten, zu wechſeln und
zu modificiren, wo ſie es für nöthig hält, und dadurch die Grundlage
allen Erfolges, die innere Gleichartigkeit der handelnden Kraft mit der
äußern lebendigen Welt ihrer Objekte hervorzubringen. Jene Rechte
der vollziehenden Gewalt ſind daher durch das Weſen des Staatslebens
ſelbſt bedingt; es iſt unmöglich, ſowohl ſie ihr zu nehmen als ſie zu
beſchränken; daß die Vollziehung mitten in dieſem Wechſel den einheit-
lichen Gedanken der Geſetzgebung feſthalte, dafür ſorgt das Princip der
Verantwortlichkeit; ſo lange aber kein poſitives Geſetz jener lebendigen
Thätigkeit entgegentritt, iſt die Verordnungsgewalt abſolut frei und
ſelbſtbeſtimmt
für alles, was als eine Aeußerung ihrer ſelbſt be-
trachtet werden muß.

Daraus nun folgt der oberſte Grundſatz für das ganze Be-
ſchwerderecht. Kein ausgeſprochener Wille der Regierung, keine Ver-
ordnung
, gibt einem Einzelnen ein Recht darauf, daß die Regierung
dieſe Verordnung ihm gegenüber als wirklichen Inhalt
ihres Willens anerkenne
. Wenn daher eine Differenz zwiſchen
Verordnung, Verfügung und Handlung ihrer Organe beſteht, ſo kann
ſie nach eigenem Ermeſſen, gleich der geſetzgebenden Gewalt, die Ab-
weichung der letztern von der erſtern unbedingt zu ihrem eigenen Willen
machen. Es kann daher von einem, durch eine Verordnung erwor-
benen Rechte des Einzelnen auf eine beſtimmte Geſtalt

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[123/0147] hat das volle Recht, nicht bloß die allgemeine Verordnung durch ein- zelne Verordnungen, die einzelnen Verordnungen durch Verfügungen und Inſtruktionen jeden Augenblick zu ändern; ſie hat auch das Recht, den Willen und einzelne Handlung ihrer einzelnen Organe als ihren Willen anzuerkennen, ohne Rückſicht darauf, ob die letztere mit der Verordnung im offenſten Widerſpruche ſtehen. Es iſt kein Zweifel, daß der geſetzgebenden Gewalt daſſelbe Recht in Beziehung auf das geſetzliche Recht zuſteht; es kann und ſoll aber auch kein Zweifel ſein, daß der vollziehenden Gewalt für ihre Verordnungen, Verfügungen und ein- zelnen Aktionen genau daſſelbe Recht zugeſprochen werden muß. Und zwar iſt dieſe Forderung nicht etwa die Heiligung der Willkür. Sie iſt vielmehr ein organiſches, und darum unbedingt nothwendiges Prin- cip des Staatslebens. Denn die Vollziehung ſoll das Geſetz nicht etwa in abstracto verwirklichen, ſondern ſie ſoll es in den unendlichen Wechſel und die Vielgeſtaltigkeit des Lebens einführen. Sie ſoll nicht ſtarr die Lebendigkeit dieſer äußern Welt brechen, ſondern das Princip des Geſetzes mit den gegebenen Thatſachen und Lebensverhältniſſen zur Harmonie bringen. Sie muß daher fähig ſein, wie dieſes Leben ſelbſt, das niemals ſtill ſteht und ſich nirgends vollkommen gleich iſt, in un- endlich vielen und verſchiedenen Geſtalten aufzutreten, zu wechſeln und zu modificiren, wo ſie es für nöthig hält, und dadurch die Grundlage allen Erfolges, die innere Gleichartigkeit der handelnden Kraft mit der äußern lebendigen Welt ihrer Objekte hervorzubringen. Jene Rechte der vollziehenden Gewalt ſind daher durch das Weſen des Staatslebens ſelbſt bedingt; es iſt unmöglich, ſowohl ſie ihr zu nehmen als ſie zu beſchränken; daß die Vollziehung mitten in dieſem Wechſel den einheit- lichen Gedanken der Geſetzgebung feſthalte, dafür ſorgt das Princip der Verantwortlichkeit; ſo lange aber kein poſitives Geſetz jener lebendigen Thätigkeit entgegentritt, iſt die Verordnungsgewalt abſolut frei und ſelbſtbeſtimmt für alles, was als eine Aeußerung ihrer ſelbſt be- trachtet werden muß. Daraus nun folgt der oberſte Grundſatz für das ganze Be- ſchwerderecht. Kein ausgeſprochener Wille der Regierung, keine Ver- ordnung, gibt einem Einzelnen ein Recht darauf, daß die Regierung dieſe Verordnung ihm gegenüber als wirklichen Inhalt ihres Willens anerkenne. Wenn daher eine Differenz zwiſchen Verordnung, Verfügung und Handlung ihrer Organe beſteht, ſo kann ſie nach eigenem Ermeſſen, gleich der geſetzgebenden Gewalt, die Ab- weichung der letztern von der erſtern unbedingt zu ihrem eigenen Willen machen. Es kann daher von einem, durch eine Verordnung erwor- benen Rechte des Einzelnen auf eine beſtimmte Geſtalt

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 123. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/147>, abgerufen am 23.11.2024.