seiner Form nach die höchste Vollendung der Ideen der Verantwortlichkeit. In Wahrheit ist sie dagegen untergegangen in der Herrschaft der, die formelle Majorität besitzenden Partei, und ist dadurch zu einem Scheinleben geworden, zu einer Formel, die für die höheren Ideen des Staats nur einen sehr zweifel- haften Werth hat. Denn da die Häupter der Vollziehung die Häupter ihrer eigenen gesetzgebenden Partei sind, so ist damit der Fall eines Widerspruchs zwischen ihrer Regierungsthätigkeit und der Auffassung derselben von Seiten des Parlaments grundsätzlich beseitigt. Es ist damit im Gegentheil der Grundsatz zum formellen Princip der Verantwortlichkeit erhoben, daß jeder Minister nur für das verantwortlich ist, was er ohnehin gar nicht thun kann -- für einen Akt, der gegen das Interesse seiner Partei und seiner selbst geht. So lange er im Interesse der Majorität handelt, kann dieselbe Majorität ihn ja nicht dafür zur Verantwortung ziehen; thut er es nicht, so würde ihn, da die Majorität ja das Gesetz macht, dieselbe unbedingt verantwortlich machen. Dar- aus folgt, daß selbst formell die Vollziehung ihre Selbständigkeit verloren hat; sie ist in ihrem innersten Wesen die Dienerin der herrschenden Partei. Es ist vielleicht das größte Verdienst von Gneist, uns diesen Charakter des englischen Verfassungslebens zuerst klar dargelegt, und die traditionelle un- bedingte Verehrung vor diesem Zustande erschüttert zu haben. Denn in der That kann hier nur dasjenige durch die Verwaltung im Namen der Ideen des Staats geschehen, was den Interessen der herrschenden Partei entspricht, wenn jene nicht "verantwortlich" werden -- d. i. gegen ihr eigenes Interesse handeln will. Das ist ein Zustand, in welchem der Geist des Staates untergehen muß, wenn er nicht in dem einzelnen Staatsorgan lebendig bleibt. Denn Parlament und Minister können ihn nicht mehr lebendig erhalten. Uebrigens hat es lange gedauert, bis England so weit gekommen ist. Mohl, Ministerverant- wortlichkeit (1837), hat alle bekannten Fälle der Anklage gegen englische Minister zusammengestellt (S. 597--696). Man sieht deutlich, wie diese Anklagen noch im Anfange des 18. Jahrhunderts auf politischer und juristischer Verantwort- lichkeit beruhen; die Anklagen des 18. Jahrhunderts dagegen sind eigentlich nur noch strafrechtliches Verfahren ohne Beziehung auf die Verfassung, und gehören daher schon nicht mehr dem Principe der Verantwortlichkeit an. Ihre gegenwärtige Gestalt empfängt die letztere erst mit der französischen Revolution. Die Verfassung von 1791 bestimmt sie einfach und richtig (Chap. II. S. IV.):
Art. 5. Les Ministres sont responsables de tous les delits par eux commis contre la saurete nationale et la constitution; de tout attentat a la propriete et la liberte individuelle; de toute dissipation des deniers destines aux depenses de leur departement.
Art. 6. En aucun cas, l'ordre du Roi, verbal ou par ecrit, ne peut soustraire un ministre a la responsabilite.
Es war natürlich, daß diese Sätze unter Napoleon verschwanden; sowie aber das verfassungsmäßige Königthum wiederkehrt, kehrt auch die Verantwort lichkeit zurück, und wenn auch die Charte von 1814, sowie die von 1830 sich auf das einfache Princip derselben beschränken, so ist es doch gewiß, daß Frank- reich die Sache selbst mit tiefem Verständniß auffaßte.
ſeiner Form nach die höchſte Vollendung der Ideen der Verantwortlichkeit. In Wahrheit iſt ſie dagegen untergegangen in der Herrſchaft der, die formelle Majorität beſitzenden Partei, und iſt dadurch zu einem Scheinleben geworden, zu einer Formel, die für die höheren Ideen des Staats nur einen ſehr zweifel- haften Werth hat. Denn da die Häupter der Vollziehung die Häupter ihrer eigenen geſetzgebenden Partei ſind, ſo iſt damit der Fall eines Widerſpruchs zwiſchen ihrer Regierungsthätigkeit und der Auffaſſung derſelben von Seiten des Parlaments grundſätzlich beſeitigt. Es iſt damit im Gegentheil der Grundſatz zum formellen Princip der Verantwortlichkeit erhoben, daß jeder Miniſter nur für das verantwortlich iſt, was er ohnehin gar nicht thun kann — für einen Akt, der gegen das Intereſſe ſeiner Partei und ſeiner ſelbſt geht. So lange er im Intereſſe der Majorität handelt, kann dieſelbe Majorität ihn ja nicht dafür zur Verantwortung ziehen; thut er es nicht, ſo würde ihn, da die Majorität ja das Geſetz macht, dieſelbe unbedingt verantwortlich machen. Dar- aus folgt, daß ſelbſt formell die Vollziehung ihre Selbſtändigkeit verloren hat; ſie iſt in ihrem innerſten Weſen die Dienerin der herrſchenden Partei. Es iſt vielleicht das größte Verdienſt von Gneiſt, uns dieſen Charakter des engliſchen Verfaſſungslebens zuerſt klar dargelegt, und die traditionelle un- bedingte Verehrung vor dieſem Zuſtande erſchüttert zu haben. Denn in der That kann hier nur dasjenige durch die Verwaltung im Namen der Ideen des Staats geſchehen, was den Intereſſen der herrſchenden Partei entſpricht, wenn jene nicht „verantwortlich“ werden — d. i. gegen ihr eigenes Intereſſe handeln will. Das iſt ein Zuſtand, in welchem der Geiſt des Staates untergehen muß, wenn er nicht in dem einzelnen Staatsorgan lebendig bleibt. Denn Parlament und Miniſter können ihn nicht mehr lebendig erhalten. Uebrigens hat es lange gedauert, bis England ſo weit gekommen iſt. Mohl, Miniſterverant- wortlichkeit (1837), hat alle bekannten Fälle der Anklage gegen engliſche Miniſter zuſammengeſtellt (S. 597—696). Man ſieht deutlich, wie dieſe Anklagen noch im Anfange des 18. Jahrhunderts auf politiſcher und juriſtiſcher Verantwort- lichkeit beruhen; die Anklagen des 18. Jahrhunderts dagegen ſind eigentlich nur noch ſtrafrechtliches Verfahren ohne Beziehung auf die Verfaſſung, und gehören daher ſchon nicht mehr dem Principe der Verantwortlichkeit an. Ihre gegenwärtige Geſtalt empfängt die letztere erſt mit der franzöſiſchen Revolution. Die Verfaſſung von 1791 beſtimmt ſie einfach und richtig (Chap. II. S. IV.):
Art. 5. Les Ministres sont responsables de tous les délits par eux commis contre la sûreté nationale et la constitution; de tout attentat à la propriété et la liberté individuelle; de toute dissipation des déniers destinés aux dépenses de leur département.
Art. 6. En aucun cas, l’ordre du Roi, verbal ou par écrit, ne peut soustraire un ministre à la responsabilité.
Es war natürlich, daß dieſe Sätze unter Napoleon verſchwanden; ſowie aber das verfaſſungsmäßige Königthum wiederkehrt, kehrt auch die Verantwort lichkeit zurück, und wenn auch die Charte von 1814, ſowie die von 1830 ſich auf das einfache Princip derſelben beſchränken, ſo iſt es doch gewiß, daß Frank- reich die Sache ſelbſt mit tiefem Verſtändniß auffaßte.
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Majorität beſitzenden Partei, und iſt dadurch zu einem Scheinleben geworden,
zu einer Formel, die für die höheren Ideen des Staats nur einen ſehr zweifel-
haften Werth hat. Denn da die Häupter der Vollziehung die Häupter ihrer
eigenen geſetzgebenden Partei ſind, ſo iſt damit der Fall eines Widerſpruchs
zwiſchen ihrer Regierungsthätigkeit und der Auffaſſung derſelben von Seiten
des Parlaments grundſätzlich beſeitigt. Es iſt damit im Gegentheil der Grundſatz
zum formellen Princip der Verantwortlichkeit erhoben, daß jeder Miniſter nur
für das verantwortlich iſt, was er ohnehin gar nicht thun kann — für einen
Akt, der gegen das Intereſſe ſeiner Partei und ſeiner ſelbſt geht. So lange
er im Intereſſe der Majorität handelt, kann dieſelbe Majorität ihn ja nicht
dafür zur Verantwortung ziehen; thut er es nicht, ſo würde ihn, da die
Majorität ja das Geſetz macht, dieſelbe unbedingt verantwortlich machen. Dar-
aus folgt, daß ſelbſt formell die Vollziehung ihre Selbſtändigkeit verloren
hat; ſie iſt in ihrem innerſten Weſen die Dienerin der herrſchenden Partei. Es
iſt vielleicht das größte Verdienſt von Gneiſt, uns dieſen Charakter des
engliſchen Verfaſſungslebens zuerſt klar dargelegt, und die traditionelle un-
bedingte Verehrung vor dieſem Zuſtande erſchüttert zu haben. Denn in der
That kann hier nur dasjenige durch die Verwaltung im Namen der Ideen des
Staats geſchehen, was den Intereſſen der herrſchenden Partei entſpricht, wenn
jene nicht „verantwortlich“ werden — d. i. gegen ihr eigenes Intereſſe handeln
will. Das iſt ein Zuſtand, in welchem der Geiſt des Staates untergehen muß,
wenn er nicht in dem einzelnen Staatsorgan lebendig bleibt. Denn Parlament
und Miniſter können ihn nicht mehr lebendig erhalten. Uebrigens hat es
lange gedauert, bis England ſo weit gekommen iſt. Mohl, Miniſterverant-
wortlichkeit (1837), hat alle bekannten Fälle der Anklage gegen engliſche Miniſter
zuſammengeſtellt (S. 597—696). Man ſieht deutlich, wie dieſe Anklagen noch
im Anfange des 18. Jahrhunderts auf politiſcher und juriſtiſcher Verantwort-
lichkeit beruhen; die Anklagen des 18. Jahrhunderts dagegen ſind eigentlich
nur noch ſtrafrechtliches Verfahren ohne Beziehung auf die Verfaſſung, und
gehören daher ſchon nicht mehr dem Principe der Verantwortlichkeit an. Ihre
gegenwärtige Geſtalt empfängt die letztere erſt mit der franzöſiſchen Revolution.
Die Verfaſſung von 1791 beſtimmt ſie einfach und richtig (Chap. II. S. IV.):
Art. 5. Les Ministres sont responsables de tous les délits par eux
commis contre la sûreté nationale et la constitution; de tout attentat à
la propriété et la liberté individuelle; de toute dissipation des déniers
destinés aux dépenses de leur département.
Art. 6. En aucun cas, l’ordre du Roi, verbal ou par écrit, ne
peut soustraire un ministre à la responsabilité.
Es war natürlich, daß dieſe Sätze unter Napoleon verſchwanden; ſowie
aber das verfaſſungsmäßige Königthum wiederkehrt, kehrt auch die Verantwort
lichkeit zurück, und wenn auch die Charte von 1814, ſowie die von 1830 ſich
auf das einfache Princip derſelben beſchränken, ſo iſt es doch gewiß, daß Frank-
reich die Sache ſelbſt mit tiefem Verſtändniß auffaßte.
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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 101. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/125>, abgerufen am 24.11.2024.
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