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Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865.

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Geist der gesetzgebenden zu wirken. Dazu aber kommt allerdings ein zweites,
höchst bedeutsames Element, das man meistens übersieht. Das lebendige
Princip der Selbstverwaltung hat der vollziehenden und verwaltenden Gewalt
des Staats den größten Theil der Objekte ihrer selbständigen Thätigkeit ge-
nommen, und sie demselben Kreise von Organen übertragen, welche das Gesetz
machen.

Während dadurch auf der einen Seite die Verordnungen niemals zu einem
ausgebildeten System und mithin auch nicht zu einem Gegensatz zur Gesetz-
gebung gelangen konnten, war die Selbstverwaltung derjenige Organismus,
der die örtliche Verwaltung des Staats von selbst in Harmonie mit der aus
ihr selber ja hervorgehenden Gesetzgebung erhielt. Ein Gegensatz beider, welcher
die formelle Entwicklung des verfassungsmäßigen Verwaltungsrechts zum Inhalt
gehabt hätte, konnte sich deßhalb gar nicht recht ausbilden; und hier ist der
Punkt, wo eigentlich die Selbstverwaltung ihren so mächtigen Einfluß ausgeübt
hat. Während im übrigen Europa die Gesetze, hat in England die Selbstver-
waltung die unerschütterliche Grundlage der Harmonie zwischen beiden Funk-
tionen abgegeben.

Demgemäß finden wir nur eine sehr geringe Entwicklung des Verord-
nungsrechts, und entsprechend eine sehr geringe formelle Ausbildung des ver-
fassungsmäßigen Verwaltungsrechts, während dem Inhalt nach England gerade
in letzter Beziehung mit Recht allen Völkern als Muster vorschwebte, so lange
dieselben noch an dem harten Gegensatze zwischen Gesetzgebung und Vollziehung
zu leiden hatten. Eben darauf beruht auch das praktische Princip jenes Rechts;
es besteht in dem Rechte der Klage der Einzelnen gegen die vollziehende Ge-
walt, durch welche jede einzelne Aktion der letzteren auf das geltende Recht
zurückgeführt wird. In der strengen Ausbildung und Gültigkeit dieses Grund-
satzes liegt der Charakter des englischen öffentlichen Verwaltungsrechts im wei-
tern Sinne (s. unter Klagrecht).

In Frankreich sehen wir eine wesentlich verschiedene Ordnung der Dinge.
Hier hat das Königthum schon seit Ludwig IX. gearbeitet, um jeden Akt der
Verwaltung der vollziehenden Gewalt zu unterwerfen. Die Selbstverwaltung er-
scheint dem centralen Königthum als ein Feind der innersten Natur der fran-
zösischen Staatsbildung. Die vollziehende Gewalt und mit und in ihr die
Verordnung ist das eigentlich schöpferische Element dieses in seiner Art so eigen-
thümlichen Staats; sie ist allgegenwärtig, allenthalben gleichartig, stark, thätig,
tüchtig; sie fühlt sich als den eigentlichen Träger des französischen Gesammt-
lebens. Sie ist daher schon Jahrhunderte vor der französischen Revolution nicht
bloß vorhanden, sondern tritt auch als ein starker und vom Königthum und
Volk gleich sehr anerkannter Organismus auf; es fällt beiden gar nicht ein,
an ihm und seiner Funktion ernsthaft zu rütteln; beide sind vielmehr von dem
Bewußtseyn durchdrungen, daß auf ihm die staatliche Individualität, die äußere
Kraft und der Glanz Frankreichs beruhe. Niemand hat das besser verstanden,
als Toqueyille; sein "Regime" ist eben die vollziehende, thätige Staatsgewalt in
ihrer Selbstständigkeit gegenüber der Gesetzgebung. Dieser Grundsatz hat sich
nun als ein ganz unbezweifelter erhalten und zwar mitten unter allen Phasen,

Geiſt der geſetzgebenden zu wirken. Dazu aber kommt allerdings ein zweites,
höchſt bedeutſames Element, das man meiſtens überſieht. Das lebendige
Princip der Selbſtverwaltung hat der vollziehenden und verwaltenden Gewalt
des Staats den größten Theil der Objekte ihrer ſelbſtändigen Thätigkeit ge-
nommen, und ſie demſelben Kreiſe von Organen übertragen, welche das Geſetz
machen.

Während dadurch auf der einen Seite die Verordnungen niemals zu einem
ausgebildeten Syſtem und mithin auch nicht zu einem Gegenſatz zur Geſetz-
gebung gelangen konnten, war die Selbſtverwaltung derjenige Organismus,
der die örtliche Verwaltung des Staats von ſelbſt in Harmonie mit der aus
ihr ſelber ja hervorgehenden Geſetzgebung erhielt. Ein Gegenſatz beider, welcher
die formelle Entwicklung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts zum Inhalt
gehabt hätte, konnte ſich deßhalb gar nicht recht ausbilden; und hier iſt der
Punkt, wo eigentlich die Selbſtverwaltung ihren ſo mächtigen Einfluß ausgeübt
hat. Während im übrigen Europa die Geſetze, hat in England die Selbſtver-
waltung die unerſchütterliche Grundlage der Harmonie zwiſchen beiden Funk-
tionen abgegeben.

Demgemäß finden wir nur eine ſehr geringe Entwicklung des Verord-
nungsrechts, und entſprechend eine ſehr geringe formelle Ausbildung des ver-
faſſungsmäßigen Verwaltungsrechts, während dem Inhalt nach England gerade
in letzter Beziehung mit Recht allen Völkern als Muſter vorſchwebte, ſo lange
dieſelben noch an dem harten Gegenſatze zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung
zu leiden hatten. Eben darauf beruht auch das praktiſche Princip jenes Rechts;
es beſteht in dem Rechte der Klage der Einzelnen gegen die vollziehende Ge-
walt, durch welche jede einzelne Aktion der letzteren auf das geltende Recht
zurückgeführt wird. In der ſtrengen Ausbildung und Gültigkeit dieſes Grund-
ſatzes liegt der Charakter des engliſchen öffentlichen Verwaltungsrechts im wei-
tern Sinne (ſ. unter Klagrecht).

In Frankreich ſehen wir eine weſentlich verſchiedene Ordnung der Dinge.
Hier hat das Königthum ſchon ſeit Ludwig IX. gearbeitet, um jeden Akt der
Verwaltung der vollziehenden Gewalt zu unterwerfen. Die Selbſtverwaltung er-
ſcheint dem centralen Königthum als ein Feind der innerſten Natur der fran-
zöſiſchen Staatsbildung. Die vollziehende Gewalt und mit und in ihr die
Verordnung iſt das eigentlich ſchöpferiſche Element dieſes in ſeiner Art ſo eigen-
thümlichen Staats; ſie iſt allgegenwärtig, allenthalben gleichartig, ſtark, thätig,
tüchtig; ſie fühlt ſich als den eigentlichen Träger des franzöſiſchen Geſammt-
lebens. Sie iſt daher ſchon Jahrhunderte vor der franzöſiſchen Revolution nicht
bloß vorhanden, ſondern tritt auch als ein ſtarker und vom Königthum und
Volk gleich ſehr anerkannter Organismus auf; es fällt beiden gar nicht ein,
an ihm und ſeiner Funktion ernſthaft zu rütteln; beide ſind vielmehr von dem
Bewußtſeyn durchdrungen, daß auf ihm die ſtaatliche Individualität, die äußere
Kraft und der Glanz Frankreichs beruhe. Niemand hat das beſſer verſtanden,
als Toqueyille; ſein „Regime“ iſt eben die vollziehende, thätige Staatsgewalt in
ihrer Selbſtſtändigkeit gegenüber der Geſetzgebung. Dieſer Grundſatz hat ſich
nun als ein ganz unbezweifelter erhalten und zwar mitten unter allen Phaſen,

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[82/0106] Geiſt der geſetzgebenden zu wirken. Dazu aber kommt allerdings ein zweites, höchſt bedeutſames Element, das man meiſtens überſieht. Das lebendige Princip der Selbſtverwaltung hat der vollziehenden und verwaltenden Gewalt des Staats den größten Theil der Objekte ihrer ſelbſtändigen Thätigkeit ge- nommen, und ſie demſelben Kreiſe von Organen übertragen, welche das Geſetz machen. Während dadurch auf der einen Seite die Verordnungen niemals zu einem ausgebildeten Syſtem und mithin auch nicht zu einem Gegenſatz zur Geſetz- gebung gelangen konnten, war die Selbſtverwaltung derjenige Organismus, der die örtliche Verwaltung des Staats von ſelbſt in Harmonie mit der aus ihr ſelber ja hervorgehenden Geſetzgebung erhielt. Ein Gegenſatz beider, welcher die formelle Entwicklung des verfaſſungsmäßigen Verwaltungsrechts zum Inhalt gehabt hätte, konnte ſich deßhalb gar nicht recht ausbilden; und hier iſt der Punkt, wo eigentlich die Selbſtverwaltung ihren ſo mächtigen Einfluß ausgeübt hat. Während im übrigen Europa die Geſetze, hat in England die Selbſtver- waltung die unerſchütterliche Grundlage der Harmonie zwiſchen beiden Funk- tionen abgegeben. Demgemäß finden wir nur eine ſehr geringe Entwicklung des Verord- nungsrechts, und entſprechend eine ſehr geringe formelle Ausbildung des ver- faſſungsmäßigen Verwaltungsrechts, während dem Inhalt nach England gerade in letzter Beziehung mit Recht allen Völkern als Muſter vorſchwebte, ſo lange dieſelben noch an dem harten Gegenſatze zwiſchen Geſetzgebung und Vollziehung zu leiden hatten. Eben darauf beruht auch das praktiſche Princip jenes Rechts; es beſteht in dem Rechte der Klage der Einzelnen gegen die vollziehende Ge- walt, durch welche jede einzelne Aktion der letzteren auf das geltende Recht zurückgeführt wird. In der ſtrengen Ausbildung und Gültigkeit dieſes Grund- ſatzes liegt der Charakter des engliſchen öffentlichen Verwaltungsrechts im wei- tern Sinne (ſ. unter Klagrecht). In Frankreich ſehen wir eine weſentlich verſchiedene Ordnung der Dinge. Hier hat das Königthum ſchon ſeit Ludwig IX. gearbeitet, um jeden Akt der Verwaltung der vollziehenden Gewalt zu unterwerfen. Die Selbſtverwaltung er- ſcheint dem centralen Königthum als ein Feind der innerſten Natur der fran- zöſiſchen Staatsbildung. Die vollziehende Gewalt und mit und in ihr die Verordnung iſt das eigentlich ſchöpferiſche Element dieſes in ſeiner Art ſo eigen- thümlichen Staats; ſie iſt allgegenwärtig, allenthalben gleichartig, ſtark, thätig, tüchtig; ſie fühlt ſich als den eigentlichen Träger des franzöſiſchen Geſammt- lebens. Sie iſt daher ſchon Jahrhunderte vor der franzöſiſchen Revolution nicht bloß vorhanden, ſondern tritt auch als ein ſtarker und vom Königthum und Volk gleich ſehr anerkannter Organismus auf; es fällt beiden gar nicht ein, an ihm und ſeiner Funktion ernſthaft zu rütteln; beide ſind vielmehr von dem Bewußtſeyn durchdrungen, daß auf ihm die ſtaatliche Individualität, die äußere Kraft und der Glanz Frankreichs beruhe. Niemand hat das beſſer verſtanden, als Toqueyille; ſein „Regime“ iſt eben die vollziehende, thätige Staatsgewalt in ihrer Selbſtſtändigkeit gegenüber der Geſetzgebung. Dieſer Grundſatz hat ſich nun als ein ganz unbezweifelter erhalten und zwar mitten unter allen Phaſen,

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Die Verwaltungslehre. Bd. 1. Stuttgart, 1865, S. 82. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_verwaltungslehre01_1865/106>, abgerufen am 27.11.2024.