thatsächlich vollständig getrennt, und sich selbst überlassen ist. Um daher zu dem letzteren zu gelangen, haben die Capitallosen sich unter ein- ander Versicherungen, die natürlich nur auf Gegenseitigkeit beruhen können, selbst gegründet und verwalten sie selbst; und diese eng- lischen Versicherungsvereine des Nichtbesitzers sind die friendly societies. Ihr Princip ist eben deßhalb viel besser als ihre Verwaltung.
Frankreich hat auch hier die Idee des gesellschaftlichen Versiche- rungswesens als Association mutuelle und Prevoyance lebhaft aufge- griffen, allein eben deßhalb dieselbe nur auf die kleinen Capitalien und ihre Gegenseitigkeit beschränkt, ohne jedoch wie in England dem Vereinswesen vollkommen freie Bahn zu lassen. Die Folge von diesem Widerspruch zwischen abstraktem Princip und formalem Recht ist eine schöne Literatur, aber fast völliger Mangel an wirklichen kleinen, selb- ständigen Versicherungsgesellschaften, so daß auch hier die Regierung hat einschreiten und das gesellschaftliche Versicherungswesen der nicht- besitzenden Classe als Caisse des retrait hat organisiren müssen.
Nur in Deutschland hat man von Anfang an richtig erkannt, daß das Versicherungswesen der Nichtbesitzer nur in Verbindung mit dem des Capitals gedeihen könne. Deutschland hat daher in seinem Versicherungswesen den Fehler Englands in der Ausscheidung der kleinen Beträge, und den Fehler Frankreichs in der gouvernementalen Versiche- rung vermieden. Es hat ferner in sein Versicherungswesen neben den kleinsten Summen zugleich alle Eventualitäten der Nothfälle auf- genommen, und die geschäftlich richtige Berechnung des Prämiensystemes so streng durchgeführt, daß das deutsche Versicherungswesen als das beste der Welt auch in seiner gesellschaftlichen Beziehung unzweifel- haft anerkannt werden muß. Erst durch dieß ausgezeichnete System ist es endlich möglich, den Begriff und Inhalt der Selbsthülfe von dem des Hülfskassenwesens, der in England und Frankreich beständig damit verschmolzen ist, zu scheiden, und selbständig darzustellen. Das deutsche Versicherungswesen aber zeigt auf diese Weise in einem der wichtigsten Gebiete, wie die Harmonie der Interessen zwischen Besitz und Nichtbesitz sich bei wohlverstandener Entwicklung des gesell- schaftlichen Lebens von selbst vollzieht.
Literatur: Zuerst bei GerandoIII. 57 mit Vergleichung (societes de prevoyance, jedoch ohne Verständniß des Versicherungswesens). -- Für England zuerst Eden, State of the poor (1797) I. ch. 3.; vergl. Hobbard, de l'organisation des societes de prevoyance 1852, und Em. Laurent a. a. O. ch. IV; societes de secours mutuels (1865), beide die nichtbesitzende Classe für sich betrachtend. Diesen Elementen entspricht auch der Charakter der Gesetzgebung in diesen Ländern.
thatſächlich vollſtändig getrennt, und ſich ſelbſt überlaſſen iſt. Um daher zu dem letzteren zu gelangen, haben die Capitalloſen ſich unter ein- ander Verſicherungen, die natürlich nur auf Gegenſeitigkeit beruhen können, ſelbſt gegründet und verwalten ſie ſelbſt; und dieſe eng- liſchen Verſicherungsvereine des Nichtbeſitzers ſind die friendly societies. Ihr Princip iſt eben deßhalb viel beſſer als ihre Verwaltung.
Frankreich hat auch hier die Idee des geſellſchaftlichen Verſiche- rungsweſens als Association mutuelle und Prévoyance lebhaft aufge- griffen, allein eben deßhalb dieſelbe nur auf die kleinen Capitalien und ihre Gegenſeitigkeit beſchränkt, ohne jedoch wie in England dem Vereinsweſen vollkommen freie Bahn zu laſſen. Die Folge von dieſem Widerſpruch zwiſchen abſtraktem Princip und formalem Recht iſt eine ſchöne Literatur, aber faſt völliger Mangel an wirklichen kleinen, ſelb- ſtändigen Verſicherungsgeſellſchaften, ſo daß auch hier die Regierung hat einſchreiten und das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen der nicht- beſitzenden Claſſe als Caisse des retrait hat organiſiren müſſen.
Nur in Deutſchland hat man von Anfang an richtig erkannt, daß das Verſicherungsweſen der Nichtbeſitzer nur in Verbindung mit dem des Capitals gedeihen könne. Deutſchland hat daher in ſeinem Verſicherungsweſen den Fehler Englands in der Ausſcheidung der kleinen Beträge, und den Fehler Frankreichs in der gouvernementalen Verſiche- rung vermieden. Es hat ferner in ſein Verſicherungsweſen neben den kleinſten Summen zugleich alle Eventualitäten der Nothfälle auf- genommen, und die geſchäftlich richtige Berechnung des Prämienſyſtemes ſo ſtreng durchgeführt, daß das deutſche Verſicherungsweſen als das beſte der Welt auch in ſeiner geſellſchaftlichen Beziehung unzweifel- haft anerkannt werden muß. Erſt durch dieß ausgezeichnete Syſtem iſt es endlich möglich, den Begriff und Inhalt der Selbſthülfe von dem des Hülfskaſſenweſens, der in England und Frankreich beſtändig damit verſchmolzen iſt, zu ſcheiden, und ſelbſtändig darzuſtellen. Das deutſche Verſicherungsweſen aber zeigt auf dieſe Weiſe in einem der wichtigſten Gebiete, wie die Harmonie der Intereſſen zwiſchen Beſitz und Nichtbeſitz ſich bei wohlverſtandener Entwicklung des geſell- ſchaftlichen Lebens von ſelbſt vollzieht.
Literatur: Zuerſt bei GerandoIII. 57 mit Vergleichung (sociétés de prévoyance, jedoch ohne Verſtändniß des Verſicherungsweſens). — Für England zuerſt Eden, State of the poor (1797) I. ch. 3.; vergl. Hobbard, de l’organisation des sociétés de prévoyance 1852, und Em. Laurent a. a. O. ch. IV; sociétés de secours mutuels (1865), beide die nichtbeſitzende Claſſe für ſich betrachtend. Dieſen Elementen entſpricht auch der Charakter der Geſetzgebung in dieſen Ländern.
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[451/0475]
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können, ſelbſt gegründet und verwalten ſie ſelbſt; und dieſe eng-
liſchen Verſicherungsvereine des Nichtbeſitzers ſind die friendly societies.
Ihr Princip iſt eben deßhalb viel beſſer als ihre Verwaltung.
Frankreich hat auch hier die Idee des geſellſchaftlichen Verſiche-
rungsweſens als Association mutuelle und Prévoyance lebhaft aufge-
griffen, allein eben deßhalb dieſelbe nur auf die kleinen Capitalien
und ihre Gegenſeitigkeit beſchränkt, ohne jedoch wie in England dem
Vereinsweſen vollkommen freie Bahn zu laſſen. Die Folge von dieſem
Widerſpruch zwiſchen abſtraktem Princip und formalem Recht iſt eine
ſchöne Literatur, aber faſt völliger Mangel an wirklichen kleinen, ſelb-
ſtändigen Verſicherungsgeſellſchaften, ſo daß auch hier die Regierung
hat einſchreiten und das geſellſchaftliche Verſicherungsweſen der nicht-
beſitzenden Claſſe als Caisse des retrait hat organiſiren müſſen.
Nur in Deutſchland hat man von Anfang an richtig erkannt,
daß das Verſicherungsweſen der Nichtbeſitzer nur in Verbindung mit
dem des Capitals gedeihen könne. Deutſchland hat daher in ſeinem
Verſicherungsweſen den Fehler Englands in der Ausſcheidung der kleinen
Beträge, und den Fehler Frankreichs in der gouvernementalen Verſiche-
rung vermieden. Es hat ferner in ſein Verſicherungsweſen neben den
kleinſten Summen zugleich alle Eventualitäten der Nothfälle auf-
genommen, und die geſchäftlich richtige Berechnung des Prämienſyſtemes
ſo ſtreng durchgeführt, daß das deutſche Verſicherungsweſen als das
beſte der Welt auch in ſeiner geſellſchaftlichen Beziehung unzweifel-
haft anerkannt werden muß. Erſt durch dieß ausgezeichnete Syſtem iſt
es endlich möglich, den Begriff und Inhalt der Selbſthülfe von
dem des Hülfskaſſenweſens, der in England und Frankreich beſtändig
damit verſchmolzen iſt, zu ſcheiden, und ſelbſtändig darzuſtellen. Das
deutſche Verſicherungsweſen aber zeigt auf dieſe Weiſe in einem der
wichtigſten Gebiete, wie die Harmonie der Intereſſen zwiſchen
Beſitz und Nichtbeſitz ſich bei wohlverſtandener Entwicklung des geſell-
ſchaftlichen Lebens von ſelbſt vollzieht.
Literatur: Zuerſt bei Gerando III. 57 mit Vergleichung (sociétés
de prévoyance, jedoch ohne Verſtändniß des Verſicherungsweſens). — Für
England zuerſt Eden, State of the poor (1797) I. ch. 3.; vergl. Hobbard,
de l’organisation des sociétés de prévoyance 1852, und Em. Laurent
a. a. O. ch. IV; sociétés de secours mutuels (1865), beide die nichtbeſitzende
Claſſe für ſich betrachtend. Dieſen Elementen entſpricht auch der Charakter
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/475>, abgerufen am 16.07.2024.
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