um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzustände als domi- nirendes Element der Gesellschaft ist daher ihrem Wesen nach, und demgemäß auch thatsächlich stets eine der großen Angelegenheiten der Gemeinschaft gewesen. Die Abhülfe der Noth ist demnach eine der großen Aufgaben der Verwaltung. Das ist so und ist gewesen, so lange es eine Gemeinschaft gegeben hat.
Aber so wie das der Fall ist, verlieren auch Begriff und Gränzen der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerseits die Hülfe durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen; es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlassen werden, ein- seitig und für sich das Dasein einer Noth zu erklären und somit die Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich diese Hülfe des Ganzen nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit stehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt, und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, so wie sich also eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, so bedarf es für dieselbe eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfassenden Princips, es bedarf eines die einzelnen Verhältnisse je nach ihrer Besonderheit ver- stehenden und behandelnden Systems, und es bedarf endlich eines eigenen und selbstthätigen Organismus. Und die organische Dar- stellung dieses Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der gesellschaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen- wesen nennen.
Offenbar nun ist, so wie sich das Ganze zu einem solchen organi- schen System verschiedener Aufgaben ausbildet, zuerst nothwendig, die Einheit der letzteren in dem gemeinsamen Princip für alle ihre Zweige aufzustellen. Dieß Princip ist die einfache Anwendung des höchsten Princips aller Verwaltung auf die Nothzustände des Einzelnen wie des Ganzen.
Auch in der Noth bleibt die freie Persönlichkeit. Ihr innerstes Wesen ist vernichtet, wenn man ihr gibt, was sie selbst erwerben kann. Alle Hülfe soll daher erst da beginnen, wo die Unmöglichkeit für den Einzelnen vorliegt, sich durch eigene Kraft zu helfen; sie soll nur so weit gehen, als diese Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig- keit zur Selbsthülfe aufhalten. Ob aber eine solche Unfähigkeit in der Persönlichkeit selbst liegt, und wie weit sie geht, das kann, wo es sich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, sondern nur die Verwaltung selbst. Um aber andererseits zu wissen, was sie gegen- über dieser Noth zu thun hat, muß sie selbst die Besonderheiten in dem allgemeinen Begriff der Noth selbständig betrachten. Dem System
um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi- nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der großen Aufgaben der Verwaltung. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat.
Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen; es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein- ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt, und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden Princips, es bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver- ſtehenden und behandelnden Syſtems, und es bedarf endlich eines eigenen und ſelbſtthätigen Organismus. Und die organiſche Dar- ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen- weſen nennen.
Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi- ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die Einheit der letzteren in dem gemeinſamen Princip für alle ihre Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen wie des Ganzen.
Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann. Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die Unmöglichkeit für den Einzelnen vorliegt, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll nur ſo weit gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig- keit zur Selbſthülfe aufhalten. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und wie weit ſie geht, das kann, wo es ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen- über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><divn="3"><divn="4"><p><pbfacs="#f0436"n="412"/>
um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi-<lb/>
nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und<lb/>
demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der<lb/>
Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der<lb/>
großen Aufgaben der <hirendition="#g">Verwaltung</hi>. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo<lb/>
lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat.</p><lb/><p>Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen<lb/>
der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe<lb/>
durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen;<lb/>
es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein-<lb/>ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die<lb/>
Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen<lb/>
nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit<lb/>ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt,<lb/>
und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich<lb/>
alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe<lb/>
eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden <hirendition="#g">Princips</hi>, es<lb/>
bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver-<lb/>ſtehenden und behandelnden <hirendition="#g">Syſtems</hi>, und es bedarf endlich eines<lb/>
eigenen und ſelbſtthätigen <hirendition="#g">Organismus</hi>. Und die organiſche Dar-<lb/>ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der<lb/>
geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das <hirendition="#g">Armen-<lb/>
weſen</hi> nennen.</p><lb/><p>Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi-<lb/>ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die<lb/>
Einheit der letzteren in dem gemeinſamen <hirendition="#g">Princip</hi> für alle ihre<lb/>
Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des<lb/>
höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen<lb/>
wie des Ganzen.</p><lb/><p>Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes<lb/>
Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann.<lb/>
Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die <hirendition="#g">Unmöglichkeit für<lb/>
den Einzelnen vorliegt</hi>, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll<lb/>
nur <hirendition="#g">ſo weit</hi> gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig-<lb/>
keit zur Selbſthülfe <hirendition="#g">aufhalten</hi>. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in<lb/>
der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und <hirendition="#g">wie</hi> weit ſie geht, das kann, wo es<lb/>ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das<lb/>
Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die<lb/>
Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen-<lb/>
über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in<lb/>
dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem<lb/></p></div></div></div></div></body></text></TEI>
[412/0436]
um der Noth abzuhelfen. Die Hülfe gegen die Nothzuſtände als domi-
nirendes Element der Geſellſchaft iſt daher ihrem Weſen nach, und
demgemäß auch thatſächlich ſtets eine der großen Angelegenheiten der
Gemeinſchaft geweſen. Die Abhülfe der Noth iſt demnach eine der
großen Aufgaben der Verwaltung. Das iſt ſo und iſt geweſen, ſo
lange es eine Gemeinſchaft gegeben hat.
Aber ſo wie das der Fall iſt, verlieren auch Begriff und Gränzen
der Noth ihren individuellen Charakter. Es kann einerſeits die Hülfe
durch den Einzelnen für Einzelne überhaupt nicht viel mehr helfen;
es kann zweitens nicht mehr dem Einzelnen überlaſſen werden, ein-
ſeitig und für ſich das Daſein einer Noth zu erklären und ſomit die
Hülfe des Ganzen aufzurufen; es kann endlich dieſe Hülfe des Ganzen
nicht mehr bei dem allgemeinen Gedanken einer helfenden Thätigkeit
ſtehen bleiben. So wie die Verwaltung als helfende Macht eintritt,
und die Hülfe gegen die Noth als ihre Pflicht erkennt, ſo wie ſich
alſo eine Verwaltungsthätigkeit entwickelt, ſo bedarf es für dieſelbe
eines alle Fälle der Noth gleichmäßig umfaſſenden Princips, es
bedarf eines die einzelnen Verhältniſſe je nach ihrer Beſonderheit ver-
ſtehenden und behandelnden Syſtems, und es bedarf endlich eines
eigenen und ſelbſtthätigen Organismus. Und die organiſche Dar-
ſtellung dieſes Ganzen bildet dann die Lehre von der Verwaltung der
geſellſchaftlichen Noth, die wir auch nach ihrem Haupttheile das Armen-
weſen nennen.
Offenbar nun iſt, ſo wie ſich das Ganze zu einem ſolchen organi-
ſchen Syſtem verſchiedener Aufgaben ausbildet, zuerſt nothwendig, die
Einheit der letzteren in dem gemeinſamen Princip für alle ihre
Zweige aufzuſtellen. Dieß Princip iſt die einfache Anwendung des
höchſten Princips aller Verwaltung auf die Nothzuſtände des Einzelnen
wie des Ganzen.
Auch in der Noth bleibt die freie Perſönlichkeit. Ihr innerſtes
Weſen iſt vernichtet, wenn man ihr gibt, was ſie ſelbſt erwerben kann.
Alle Hülfe ſoll daher erſt da beginnen, wo die Unmöglichkeit für
den Einzelnen vorliegt, ſich durch eigene Kraft zu helfen; ſie ſoll
nur ſo weit gehen, als dieſe Unmöglichkeit geht, und mit der Fähig-
keit zur Selbſthülfe aufhalten. Ob aber eine ſolche Unfähigkeit in
der Perſönlichkeit ſelbſt liegt, und wie weit ſie geht, das kann, wo es
ſich um die Aufgabe der Verwaltung handelt, auch nicht mehr das
Gefühl über die Meinung des Einzelnen beurtheilen, ſondern nur die
Verwaltung ſelbſt. Um aber andererſeits zu wiſſen, was ſie gegen-
über dieſer Noth zu thun hat, muß ſie ſelbſt die Beſonderheiten in
dem allgemeinen Begriff der Noth ſelbſtändig betrachten. Dem Syſtem
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 412. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/436>, abgerufen am 22.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.