Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

Bild:
<< vorherige Seite

Jede Gesellschaftsordnung hat ihre drei Classen, die höhere, die
mittlere und die niedere. Der Unterschied ist ein organischer, und jedes
Streben das die Classenunterschiede aufheben will, ist ein Widerspruch
mit dem Gesetze des Lebens, das sich nur durch Verschiedenheit ent-
wickeln kann. In diesem Unterschiede der Classen erscheint nun die
unendliche Bestimmung jeder Persönlichkeit in dem Satze, daß jeder
die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der
niederen Classe in die höhere hinaufzusteigen, während er anderer-
seits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent-
wicklung von der höheren auch zur niederen hinabsteigen kann.
Dieser Proceß vollzieht sich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben.
Wir nennen ihn die gesellschaftliche Classenbewegung. In ihr
wird weder die gesellschaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört sie
an sich bloß Einer dieser Ordnungen an. Es gibt eine Classenbewegung
der Geschlechter-, der Stände- und der staatsbürgerlichen Ordnung.
Sie ist aber mehr als eine bloße Thatsache. In ihr verwirklicht sich das
Princip, daß das Leben der Person nicht durch die zufällig ihr gewor-
dene gesellschaftliche Stellung dauernd bestimmt ist, sondern daß der
Einzelne auch in der Gesellschaft die höchste Stufe durch seine That
soll erringen können. Dieses Princip ist das der gesellschaftlichen
Freiheit
. Die gesellschaftliche Freiheit ist daher nicht die gesellschaft-
liche Gleichheit, die nie gewesen ist und nie sein wird, sondern die
rechtliche und thatsächliche Möglichkeit der aufsteigenden Classen-
bewegung für jedes Mitglied der niederen Classe. Da, wo diese
Möglichkeit genommen ist, steht das Leben der Gesellschaft still; da wo
sie durch das von den höheren Classen gegebene Recht aufgehoben
ist, wird sie unfrei. Der Kampf in der Gesellschaft ist daher seinem
wahren Wesen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, sondern
stets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit
des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den
Gliedern der höheren Classe zu gelangen. Dieser Kampf hat nun eine
sehr verschiedene Gestalt, je nachdem es sich um die Geschlechter-, die
Stände- oder die staatsbürgerliche Ordnung handelt; aber seinem inner-
sten Wesen nach ist er stets derselbe, und es zeigt sich dabei bei tieferem
Eingehen auf diese Erscheinungen das Princip, daß die Gesellschafts-
ordnungen überhaupt, und die gesellschaftlichen Zustände eines jeden
Volkes um so besser und edler sind, je leichter und freier
die organische Classenbewegung vor sich geht
. In der That
erscheint aber nur aus diesem Grunde die Ständeordnung höher stehend
als die Geschlechterordnung, und die staatsbürgerliche Ordnung wieder
höher stehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geistige oder

Jede Geſellſchaftsordnung hat ihre drei Claſſen, die höhere, die
mittlere und die niedere. Der Unterſchied iſt ein organiſcher, und jedes
Streben das die Claſſenunterſchiede aufheben will, iſt ein Widerſpruch
mit dem Geſetze des Lebens, das ſich nur durch Verſchiedenheit ent-
wickeln kann. In dieſem Unterſchiede der Claſſen erſcheint nun die
unendliche Beſtimmung jeder Perſönlichkeit in dem Satze, daß jeder
die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der
niederen Claſſe in die höhere hinaufzuſteigen, während er anderer-
ſeits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent-
wicklung von der höheren auch zur niederen hinabſteigen kann.
Dieſer Proceß vollzieht ſich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben.
Wir nennen ihn die geſellſchaftliche Claſſenbewegung. In ihr
wird weder die geſellſchaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört ſie
an ſich bloß Einer dieſer Ordnungen an. Es gibt eine Claſſenbewegung
der Geſchlechter-, der Stände- und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung.
Sie iſt aber mehr als eine bloße Thatſache. In ihr verwirklicht ſich das
Princip, daß das Leben der Perſon nicht durch die zufällig ihr gewor-
dene geſellſchaftliche Stellung dauernd beſtimmt iſt, ſondern daß der
Einzelne auch in der Geſellſchaft die höchſte Stufe durch ſeine That
ſoll erringen können. Dieſes Princip iſt das der geſellſchaftlichen
Freiheit
. Die geſellſchaftliche Freiheit iſt daher nicht die geſellſchaft-
liche Gleichheit, die nie geweſen iſt und nie ſein wird, ſondern die
rechtliche und thatſächliche Möglichkeit der aufſteigenden Claſſen-
bewegung für jedes Mitglied der niederen Claſſe. Da, wo dieſe
Möglichkeit genommen iſt, ſteht das Leben der Geſellſchaft ſtill; da wo
ſie durch das von den höheren Claſſen gegebene Recht aufgehoben
iſt, wird ſie unfrei. Der Kampf in der Geſellſchaft iſt daher ſeinem
wahren Weſen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, ſondern
ſtets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit
des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den
Gliedern der höheren Claſſe zu gelangen. Dieſer Kampf hat nun eine
ſehr verſchiedene Geſtalt, je nachdem es ſich um die Geſchlechter-, die
Stände- oder die ſtaatsbürgerliche Ordnung handelt; aber ſeinem inner-
ſten Weſen nach iſt er ſtets derſelbe, und es zeigt ſich dabei bei tieferem
Eingehen auf dieſe Erſcheinungen das Princip, daß die Geſellſchafts-
ordnungen überhaupt, und die geſellſchaftlichen Zuſtände eines jeden
Volkes um ſo beſſer und edler ſind, je leichter und freier
die organiſche Claſſenbewegung vor ſich geht
. In der That
erſcheint aber nur aus dieſem Grunde die Ständeordnung höher ſtehend
als die Geſchlechterordnung, und die ſtaatsbürgerliche Ordnung wieder
höher ſtehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geiſtige oder

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <pb facs="#f0423" n="399"/>
            <p><hi rendition="#g">Jede</hi> Ge&#x017F;ell&#x017F;chaftsordnung hat ihre drei Cla&#x017F;&#x017F;en, die höhere, die<lb/>
mittlere und die niedere. Der Unter&#x017F;chied i&#x017F;t ein organi&#x017F;cher, und jedes<lb/>
Streben das die Cla&#x017F;&#x017F;enunter&#x017F;chiede aufheben will, i&#x017F;t ein Wider&#x017F;pruch<lb/>
mit dem Ge&#x017F;etze des Lebens, das &#x017F;ich nur durch Ver&#x017F;chiedenheit ent-<lb/>
wickeln kann. In die&#x017F;em Unter&#x017F;chiede der Cla&#x017F;&#x017F;en er&#x017F;cheint nun die<lb/>
unendliche Be&#x017F;timmung <hi rendition="#g">jeder</hi> Per&#x017F;önlichkeit in dem Satze, daß jeder<lb/>
die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der<lb/>
niederen Cla&#x017F;&#x017F;e in die höhere <hi rendition="#g">hinaufzu&#x017F;teigen</hi>, während er anderer-<lb/>
&#x017F;eits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent-<lb/>
wicklung von der höheren auch zur niederen <hi rendition="#g">hinab&#x017F;teigen</hi> kann.<lb/>
Die&#x017F;er Proceß vollzieht &#x017F;ich in der ganzen Welt in <hi rendition="#g">jedem</hi> Einzelleben.<lb/>
Wir nennen ihn die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche <hi rendition="#g">Cla&#x017F;&#x017F;enbewegung</hi>. In ihr<lb/>
wird weder die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört &#x017F;ie<lb/>
an &#x017F;ich bloß Einer die&#x017F;er Ordnungen an. Es gibt eine Cla&#x017F;&#x017F;enbewegung<lb/>
der Ge&#x017F;chlechter-, der Stände- und der &#x017F;taatsbürgerlichen Ordnung.<lb/>
Sie i&#x017F;t aber mehr als eine bloße That&#x017F;ache. In ihr verwirklicht &#x017F;ich das<lb/>
Princip, daß das Leben der Per&#x017F;on nicht durch die zufällig ihr gewor-<lb/>
dene ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Stellung dauernd be&#x017F;timmt i&#x017F;t, &#x017F;ondern daß der<lb/><hi rendition="#g">Einzelne</hi> auch in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft die höch&#x017F;te Stufe durch &#x017F;eine That<lb/>
&#x017F;oll erringen können. Die&#x017F;es Princip i&#x017F;t das der <hi rendition="#g">ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen<lb/>
Freiheit</hi>. Die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftliche Freiheit i&#x017F;t daher <hi rendition="#g">nicht</hi> die ge&#x017F;ell&#x017F;chaft-<lb/>
liche <hi rendition="#g">Gleichheit</hi>, die nie gewe&#x017F;en i&#x017F;t und nie &#x017F;ein wird, &#x017F;ondern die<lb/>
rechtliche und that&#x017F;ächliche <hi rendition="#g">Möglichkeit</hi> der auf&#x017F;teigenden Cla&#x017F;&#x017F;en-<lb/>
bewegung für <hi rendition="#g">jedes</hi> Mitglied der niederen Cla&#x017F;&#x017F;e. Da, wo die&#x017F;e<lb/>
Möglichkeit genommen i&#x017F;t, &#x017F;teht das Leben der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft &#x017F;till; da wo<lb/>
&#x017F;ie durch das von den höheren Cla&#x017F;&#x017F;en gegebene Recht <hi rendition="#g">aufgehoben</hi><lb/>
i&#x017F;t, wird &#x017F;ie unfrei. Der Kampf in der Ge&#x017F;ell&#x017F;chaft i&#x017F;t daher &#x017F;einem<lb/>
wahren We&#x017F;en nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, &#x017F;ondern<lb/>
&#x017F;tets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit<lb/>
des Einzelnen <hi rendition="#g">principiell unmöglich</hi> macht, zur Gleichheit mit den<lb/>
Gliedern der höheren Cla&#x017F;&#x017F;e zu gelangen. Die&#x017F;er Kampf hat nun eine<lb/>
&#x017F;ehr ver&#x017F;chiedene Ge&#x017F;talt, je nachdem es &#x017F;ich um die Ge&#x017F;chlechter-, die<lb/>
Stände- oder die &#x017F;taatsbürgerliche Ordnung handelt; aber &#x017F;einem inner-<lb/>
&#x017F;ten We&#x017F;en nach i&#x017F;t er &#x017F;tets der&#x017F;elbe, und es zeigt &#x017F;ich dabei bei tieferem<lb/>
Eingehen auf die&#x017F;e Er&#x017F;cheinungen das Princip, daß die Ge&#x017F;ell&#x017F;chafts-<lb/>
ordnungen überhaupt, und die ge&#x017F;ell&#x017F;chaftlichen Zu&#x017F;tände eines jeden<lb/>
Volkes um <hi rendition="#g">&#x017F;o be&#x017F;&#x017F;er und edler &#x017F;ind, je leichter und freier<lb/>
die organi&#x017F;che Cla&#x017F;&#x017F;enbewegung vor &#x017F;ich geht</hi>. In der That<lb/>
er&#x017F;cheint aber nur aus <hi rendition="#g">die&#x017F;em</hi> Grunde die Ständeordnung höher &#x017F;tehend<lb/>
als die Ge&#x017F;chlechterordnung, und die &#x017F;taatsbürgerliche Ordnung wieder<lb/>
höher &#x017F;tehend als die Ständeordnung. Denn nicht der gei&#x017F;tige oder<lb/></p>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[399/0423] Jede Geſellſchaftsordnung hat ihre drei Claſſen, die höhere, die mittlere und die niedere. Der Unterſchied iſt ein organiſcher, und jedes Streben das die Claſſenunterſchiede aufheben will, iſt ein Widerſpruch mit dem Geſetze des Lebens, das ſich nur durch Verſchiedenheit ent- wickeln kann. In dieſem Unterſchiede der Claſſen erſcheint nun die unendliche Beſtimmung jeder Perſönlichkeit in dem Satze, daß jeder die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der niederen Claſſe in die höhere hinaufzuſteigen, während er anderer- ſeits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent- wicklung von der höheren auch zur niederen hinabſteigen kann. Dieſer Proceß vollzieht ſich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben. Wir nennen ihn die geſellſchaftliche Claſſenbewegung. In ihr wird weder die geſellſchaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört ſie an ſich bloß Einer dieſer Ordnungen an. Es gibt eine Claſſenbewegung der Geſchlechter-, der Stände- und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung. Sie iſt aber mehr als eine bloße Thatſache. In ihr verwirklicht ſich das Princip, daß das Leben der Perſon nicht durch die zufällig ihr gewor- dene geſellſchaftliche Stellung dauernd beſtimmt iſt, ſondern daß der Einzelne auch in der Geſellſchaft die höchſte Stufe durch ſeine That ſoll erringen können. Dieſes Princip iſt das der geſellſchaftlichen Freiheit. Die geſellſchaftliche Freiheit iſt daher nicht die geſellſchaft- liche Gleichheit, die nie geweſen iſt und nie ſein wird, ſondern die rechtliche und thatſächliche Möglichkeit der aufſteigenden Claſſen- bewegung für jedes Mitglied der niederen Claſſe. Da, wo dieſe Möglichkeit genommen iſt, ſteht das Leben der Geſellſchaft ſtill; da wo ſie durch das von den höheren Claſſen gegebene Recht aufgehoben iſt, wird ſie unfrei. Der Kampf in der Geſellſchaft iſt daher ſeinem wahren Weſen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, ſondern ſtets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den Gliedern der höheren Claſſe zu gelangen. Dieſer Kampf hat nun eine ſehr verſchiedene Geſtalt, je nachdem es ſich um die Geſchlechter-, die Stände- oder die ſtaatsbürgerliche Ordnung handelt; aber ſeinem inner- ſten Weſen nach iſt er ſtets derſelbe, und es zeigt ſich dabei bei tieferem Eingehen auf dieſe Erſcheinungen das Princip, daß die Geſellſchafts- ordnungen überhaupt, und die geſellſchaftlichen Zuſtände eines jeden Volkes um ſo beſſer und edler ſind, je leichter und freier die organiſche Claſſenbewegung vor ſich geht. In der That erſcheint aber nur aus dieſem Grunde die Ständeordnung höher ſtehend als die Geſchlechterordnung, und die ſtaatsbürgerliche Ordnung wieder höher ſtehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geiſtige oder

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/423
Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/423>, abgerufen am 22.11.2024.