Jede Gesellschaftsordnung hat ihre drei Classen, die höhere, die mittlere und die niedere. Der Unterschied ist ein organischer, und jedes Streben das die Classenunterschiede aufheben will, ist ein Widerspruch mit dem Gesetze des Lebens, das sich nur durch Verschiedenheit ent- wickeln kann. In diesem Unterschiede der Classen erscheint nun die unendliche Bestimmung jeder Persönlichkeit in dem Satze, daß jeder die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der niederen Classe in die höhere hinaufzusteigen, während er anderer- seits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent- wicklung von der höheren auch zur niederen hinabsteigen kann. Dieser Proceß vollzieht sich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben. Wir nennen ihn die gesellschaftliche Classenbewegung. In ihr wird weder die gesellschaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört sie an sich bloß Einer dieser Ordnungen an. Es gibt eine Classenbewegung der Geschlechter-, der Stände- und der staatsbürgerlichen Ordnung. Sie ist aber mehr als eine bloße Thatsache. In ihr verwirklicht sich das Princip, daß das Leben der Person nicht durch die zufällig ihr gewor- dene gesellschaftliche Stellung dauernd bestimmt ist, sondern daß der Einzelne auch in der Gesellschaft die höchste Stufe durch seine That soll erringen können. Dieses Princip ist das der gesellschaftlichen Freiheit. Die gesellschaftliche Freiheit ist daher nicht die gesellschaft- liche Gleichheit, die nie gewesen ist und nie sein wird, sondern die rechtliche und thatsächliche Möglichkeit der aufsteigenden Classen- bewegung für jedes Mitglied der niederen Classe. Da, wo diese Möglichkeit genommen ist, steht das Leben der Gesellschaft still; da wo sie durch das von den höheren Classen gegebene Recht aufgehoben ist, wird sie unfrei. Der Kampf in der Gesellschaft ist daher seinem wahren Wesen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, sondern stets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den Gliedern der höheren Classe zu gelangen. Dieser Kampf hat nun eine sehr verschiedene Gestalt, je nachdem es sich um die Geschlechter-, die Stände- oder die staatsbürgerliche Ordnung handelt; aber seinem inner- sten Wesen nach ist er stets derselbe, und es zeigt sich dabei bei tieferem Eingehen auf diese Erscheinungen das Princip, daß die Gesellschafts- ordnungen überhaupt, und die gesellschaftlichen Zustände eines jeden Volkes um so besser und edler sind, je leichter und freier die organische Classenbewegung vor sich geht. In der That erscheint aber nur aus diesem Grunde die Ständeordnung höher stehend als die Geschlechterordnung, und die staatsbürgerliche Ordnung wieder höher stehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geistige oder
Jede Geſellſchaftsordnung hat ihre drei Claſſen, die höhere, die mittlere und die niedere. Der Unterſchied iſt ein organiſcher, und jedes Streben das die Claſſenunterſchiede aufheben will, iſt ein Widerſpruch mit dem Geſetze des Lebens, das ſich nur durch Verſchiedenheit ent- wickeln kann. In dieſem Unterſchiede der Claſſen erſcheint nun die unendliche Beſtimmung jeder Perſönlichkeit in dem Satze, daß jeder die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der niederen Claſſe in die höhere hinaufzuſteigen, während er anderer- ſeits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent- wicklung von der höheren auch zur niederen hinabſteigen kann. Dieſer Proceß vollzieht ſich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben. Wir nennen ihn die geſellſchaftliche Claſſenbewegung. In ihr wird weder die geſellſchaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört ſie an ſich bloß Einer dieſer Ordnungen an. Es gibt eine Claſſenbewegung der Geſchlechter-, der Stände- und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung. Sie iſt aber mehr als eine bloße Thatſache. In ihr verwirklicht ſich das Princip, daß das Leben der Perſon nicht durch die zufällig ihr gewor- dene geſellſchaftliche Stellung dauernd beſtimmt iſt, ſondern daß der Einzelne auch in der Geſellſchaft die höchſte Stufe durch ſeine That ſoll erringen können. Dieſes Princip iſt das der geſellſchaftlichen Freiheit. Die geſellſchaftliche Freiheit iſt daher nicht die geſellſchaft- liche Gleichheit, die nie geweſen iſt und nie ſein wird, ſondern die rechtliche und thatſächliche Möglichkeit der aufſteigenden Claſſen- bewegung für jedes Mitglied der niederen Claſſe. Da, wo dieſe Möglichkeit genommen iſt, ſteht das Leben der Geſellſchaft ſtill; da wo ſie durch das von den höheren Claſſen gegebene Recht aufgehoben iſt, wird ſie unfrei. Der Kampf in der Geſellſchaft iſt daher ſeinem wahren Weſen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, ſondern ſtets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den Gliedern der höheren Claſſe zu gelangen. Dieſer Kampf hat nun eine ſehr verſchiedene Geſtalt, je nachdem es ſich um die Geſchlechter-, die Stände- oder die ſtaatsbürgerliche Ordnung handelt; aber ſeinem inner- ſten Weſen nach iſt er ſtets derſelbe, und es zeigt ſich dabei bei tieferem Eingehen auf dieſe Erſcheinungen das Princip, daß die Geſellſchafts- ordnungen überhaupt, und die geſellſchaftlichen Zuſtände eines jeden Volkes um ſo beſſer und edler ſind, je leichter und freier die organiſche Claſſenbewegung vor ſich geht. In der That erſcheint aber nur aus dieſem Grunde die Ständeordnung höher ſtehend als die Geſchlechterordnung, und die ſtaatsbürgerliche Ordnung wieder höher ſtehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geiſtige oder
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Jede Geſellſchaftsordnung hat ihre drei Claſſen, die höhere, die
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Streben das die Claſſenunterſchiede aufheben will, iſt ein Widerſpruch
mit dem Geſetze des Lebens, das ſich nur durch Verſchiedenheit ent-
wickeln kann. In dieſem Unterſchiede der Claſſen erſcheint nun die
unendliche Beſtimmung jeder Perſönlichkeit in dem Satze, daß jeder
die Möglichkeit haben muß, durch eigene Kraft und Arbeit aus der
niederen Claſſe in die höhere hinaufzuſteigen, während er anderer-
ſeits auch theils durch eigene Schuld, theils durch die natürliche Ent-
wicklung von der höheren auch zur niederen hinabſteigen kann.
Dieſer Proceß vollzieht ſich in der ganzen Welt in jedem Einzelleben.
Wir nennen ihn die geſellſchaftliche Claſſenbewegung. In ihr
wird weder die geſellſchaftliche Ordnung aufgehoben, noch gehört ſie
an ſich bloß Einer dieſer Ordnungen an. Es gibt eine Claſſenbewegung
der Geſchlechter-, der Stände- und der ſtaatsbürgerlichen Ordnung.
Sie iſt aber mehr als eine bloße Thatſache. In ihr verwirklicht ſich das
Princip, daß das Leben der Perſon nicht durch die zufällig ihr gewor-
dene geſellſchaftliche Stellung dauernd beſtimmt iſt, ſondern daß der
Einzelne auch in der Geſellſchaft die höchſte Stufe durch ſeine That
ſoll erringen können. Dieſes Princip iſt das der geſellſchaftlichen
Freiheit. Die geſellſchaftliche Freiheit iſt daher nicht die geſellſchaft-
liche Gleichheit, die nie geweſen iſt und nie ſein wird, ſondern die
rechtliche und thatſächliche Möglichkeit der aufſteigenden Claſſen-
bewegung für jedes Mitglied der niederen Claſſe. Da, wo dieſe
Möglichkeit genommen iſt, ſteht das Leben der Geſellſchaft ſtill; da wo
ſie durch das von den höheren Claſſen gegebene Recht aufgehoben
iſt, wird ſie unfrei. Der Kampf in der Geſellſchaft iſt daher ſeinem
wahren Weſen nach nie ein Kampf gegen die Ungleichheit, ſondern
ſtets nur ein Kampf gegen eine Rechtsordnung, welche es der Arbeit
des Einzelnen principiell unmöglich macht, zur Gleichheit mit den
Gliedern der höheren Claſſe zu gelangen. Dieſer Kampf hat nun eine
ſehr verſchiedene Geſtalt, je nachdem es ſich um die Geſchlechter-, die
Stände- oder die ſtaatsbürgerliche Ordnung handelt; aber ſeinem inner-
ſten Weſen nach iſt er ſtets derſelbe, und es zeigt ſich dabei bei tieferem
Eingehen auf dieſe Erſcheinungen das Princip, daß die Geſellſchafts-
ordnungen überhaupt, und die geſellſchaftlichen Zuſtände eines jeden
Volkes um ſo beſſer und edler ſind, je leichter und freier
die organiſche Claſſenbewegung vor ſich geht. In der That
erſcheint aber nur aus dieſem Grunde die Ständeordnung höher ſtehend
als die Geſchlechterordnung, und die ſtaatsbürgerliche Ordnung wieder
höher ſtehend als die Ständeordnung. Denn nicht der geiſtige oder
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 399. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/423>, abgerufen am 22.11.2024.
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