Das achtzehnte Jahrhundert ist der Wendepunkt in der Geschichte des Berufsbildungswesens von Europa. Sein Inhalt ist das Auftreten des wirthschaftlichen Berufes und seine Berufsbildung. Und gleich die erste Grundlage dieser neuen Berufsbildung zeigt ihre Eben- bürtigkeit. Sie beginnt einerseits mit der völligen Negation des Werthes der gelehrten Bildung, die von Frankreich ausgehend ihren geistreichen Vertreter in Rousseau und seinem Emile findet, gleichzeitig aber mit der positiven Gestaltung der Realschule in Deutschland. Sie findet sogar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Platz an den Universitäten in der Cameralwisssenschaft, dieser Mutter der Staatswissenschaft. Allein zu einer staatlichen Anerkennung bringt es die Idee des wirthschaftlichen Berufes in diesem Jahrhundert doch nicht, während die ersten Anfänge des künstlerischen Berufes mit seiner Bildung bereits sich an die Galerien und Theater anschließen. Erst das neunzehnte Jahrhundert bringt die Vollendung dessen, was das acht- zehnte begonnen hat. Seine allgemeine Bildung steht viel zu hoch, um den Werth der classischen Bildung zu verkennen; allein das große Princip der staatsbürgerlichen Gesellschaft hat gesiegt: es gibt auch im Begriffe wie im öffentlichen Rechte des Berufes kein Vorrecht mehr; jeder Beruf ist dem andern gleich; jeder Beruf hat seine Berufsbildung zu fordern; der Staat hat in gleicher Arbeit alle Gebiete des menschlichen Lebens mit seiner höchsten Bildungsaufgabe zu umfassen, und so entsteht das, was das neunzehnte Jahrhundert auch hier zur entscheidenden Epoche im geistigen Leben der Völker macht; das ist das Berufsbildungswesen unserer Zeit. Das was das Berufsbildungswesen umfaßt, gibt nun ein so reiches und mannigfaltiges Bild, daß nur eine strenge systema- tische Auffassung im Stande ist, die Summe seiner Erscheinungen zu beherrschen. Diese Elemente aber, die der Betrachtung alles Einzelnen zum Grunde liegen müssen, sind einfach. Das ganze Gebiet theilt sich in das System und das öffentliche Recht des Berufsbildungs- wesens, und die Darlegung der höchsten Principien beider wird zeigen, daß trotz des Mangels aller Codifikation und selbst aller systematischen wissenschaftlichen Behandlung, und trotz der tiefen Verschiedenheit der Berufsbildung bei den großen Culturvölkern dennoch Ein Geist das Gesammtleben Europa's auch hier beherrscht.
Der Charakter der Literatur über die Geschichte des Berufsbildungs- wesens ist einfach in ganz Europa die noch immer herrschende Trennung derselben von der Geschichte des Volksschulwesens einerseits, und das zum Theil gründliche Eingehen auf die Geschichte einzelner Erscheinungen, ohne die Einheit aufzufassen. -- Der Charakter der Gesetzgebung ist wesentlich ver- schieden in England, Frankreich und Deutschland. In England fehlt jede
Das achtzehnte Jahrhundert iſt der Wendepunkt in der Geſchichte des Berufsbildungsweſens von Europa. Sein Inhalt iſt das Auftreten des wirthſchaftlichen Berufes und ſeine Berufsbildung. Und gleich die erſte Grundlage dieſer neuen Berufsbildung zeigt ihre Eben- bürtigkeit. Sie beginnt einerſeits mit der völligen Negation des Werthes der gelehrten Bildung, die von Frankreich ausgehend ihren geiſtreichen Vertreter in Rouſſeau und ſeinem Emile findet, gleichzeitig aber mit der poſitiven Geſtaltung der Realſchule in Deutſchland. Sie findet ſogar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Platz an den Univerſitäten in der Cameralwiſſſenſchaft, dieſer Mutter der Staatswiſſenſchaft. Allein zu einer ſtaatlichen Anerkennung bringt es die Idee des wirthſchaftlichen Berufes in dieſem Jahrhundert doch nicht, während die erſten Anfänge des künſtleriſchen Berufes mit ſeiner Bildung bereits ſich an die Galerien und Theater anſchließen. Erſt das neunzehnte Jahrhundert bringt die Vollendung deſſen, was das acht- zehnte begonnen hat. Seine allgemeine Bildung ſteht viel zu hoch, um den Werth der claſſiſchen Bildung zu verkennen; allein das große Princip der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat geſiegt: es gibt auch im Begriffe wie im öffentlichen Rechte des Berufes kein Vorrecht mehr; jeder Beruf iſt dem andern gleich; jeder Beruf hat ſeine Berufsbildung zu fordern; der Staat hat in gleicher Arbeit alle Gebiete des menſchlichen Lebens mit ſeiner höchſten Bildungsaufgabe zu umfaſſen, und ſo entſteht das, was das neunzehnte Jahrhundert auch hier zur entſcheidenden Epoche im geiſtigen Leben der Völker macht; das iſt das Berufsbildungsweſen unſerer Zeit. Das was das Berufsbildungsweſen umfaßt, gibt nun ein ſo reiches und mannigfaltiges Bild, daß nur eine ſtrenge ſyſtema- tiſche Auffaſſung im Stande iſt, die Summe ſeiner Erſcheinungen zu beherrſchen. Dieſe Elemente aber, die der Betrachtung alles Einzelnen zum Grunde liegen müſſen, ſind einfach. Das ganze Gebiet theilt ſich in das Syſtem und das öffentliche Recht des Berufsbildungs- weſens, und die Darlegung der höchſten Principien beider wird zeigen, daß trotz des Mangels aller Codifikation und ſelbſt aller ſyſtematiſchen wiſſenſchaftlichen Behandlung, und trotz der tiefen Verſchiedenheit der Berufsbildung bei den großen Culturvölkern dennoch Ein Geiſt das Geſammtleben Europa’s auch hier beherrſcht.
Der Charakter der Literatur über die Geſchichte des Berufsbildungs- weſens iſt einfach in ganz Europa die noch immer herrſchende Trennung derſelben von der Geſchichte des Volksſchulweſens einerſeits, und das zum Theil gründliche Eingehen auf die Geſchichte einzelner Erſcheinungen, ohne die Einheit aufzufaſſen. — Der Charakter der Geſetzgebung iſt weſentlich ver- ſchieden in England, Frankreich und Deutſchland. In England fehlt jede
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Das achtzehnte Jahrhundert iſt der Wendepunkt in der Geſchichte
des Berufsbildungsweſens von Europa. Sein Inhalt iſt das Auftreten
des wirthſchaftlichen Berufes und ſeine Berufsbildung. Und
gleich die erſte Grundlage dieſer neuen Berufsbildung zeigt ihre Eben-
bürtigkeit. Sie beginnt einerſeits mit der völligen Negation des
Werthes der gelehrten Bildung, die von Frankreich ausgehend ihren
geiſtreichen Vertreter in Rouſſeau und ſeinem Emile findet, gleichzeitig
aber mit der poſitiven Geſtaltung der Realſchule in Deutſchland.
Sie findet ſogar in der Mitte des vorigen Jahrhunderts ihren Platz
an den Univerſitäten in der Cameralwiſſſenſchaft, dieſer Mutter
der Staatswiſſenſchaft. Allein zu einer ſtaatlichen Anerkennung bringt
es die Idee des wirthſchaftlichen Berufes in dieſem Jahrhundert doch
nicht, während die erſten Anfänge des künſtleriſchen Berufes mit ſeiner
Bildung bereits ſich an die Galerien und Theater anſchließen. Erſt das
neunzehnte Jahrhundert bringt die Vollendung deſſen, was das acht-
zehnte begonnen hat. Seine allgemeine Bildung ſteht viel zu hoch, um
den Werth der claſſiſchen Bildung zu verkennen; allein das große Princip
der ſtaatsbürgerlichen Geſellſchaft hat geſiegt: es gibt auch im Begriffe
wie im öffentlichen Rechte des Berufes kein Vorrecht mehr; jeder Beruf
iſt dem andern gleich; jeder Beruf hat ſeine Berufsbildung zu fordern;
der Staat hat in gleicher Arbeit alle Gebiete des menſchlichen Lebens
mit ſeiner höchſten Bildungsaufgabe zu umfaſſen, und ſo entſteht das,
was das neunzehnte Jahrhundert auch hier zur entſcheidenden Epoche
im geiſtigen Leben der Völker macht; das iſt das Berufsbildungsweſen
unſerer Zeit. Das was das Berufsbildungsweſen umfaßt, gibt nun
ein ſo reiches und mannigfaltiges Bild, daß nur eine ſtrenge ſyſtema-
tiſche Auffaſſung im Stande iſt, die Summe ſeiner Erſcheinungen zu
beherrſchen. Dieſe Elemente aber, die der Betrachtung alles Einzelnen
zum Grunde liegen müſſen, ſind einfach. Das ganze Gebiet theilt ſich
in das Syſtem und das öffentliche Recht des Berufsbildungs-
weſens, und die Darlegung der höchſten Principien beider wird zeigen,
daß trotz des Mangels aller Codifikation und ſelbſt aller ſyſtematiſchen
wiſſenſchaftlichen Behandlung, und trotz der tiefen Verſchiedenheit der
Berufsbildung bei den großen Culturvölkern dennoch Ein Geiſt das
Geſammtleben Europa’s auch hier beherrſcht.
Der Charakter der Literatur über die Geſchichte des Berufsbildungs-
weſens iſt einfach in ganz Europa die noch immer herrſchende Trennung
derſelben von der Geſchichte des Volksſchulweſens einerſeits, und das zum
Theil gründliche Eingehen auf die Geſchichte einzelner Erſcheinungen, ohne die
Einheit aufzufaſſen. — Der Charakter der Geſetzgebung iſt weſentlich ver-
ſchieden in England, Frankreich und Deutſchland. In England fehlt jede
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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/152>, abgerufen am 30.11.2024.
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