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Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870.

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heit durch die Seuchen, dann sich nach und nach im Einzelnen ent-
wickelt zum Schutze gegen einzelne Gefährdungen, und sich erst zuletzt
und langsam zur organischen Arbeit der menschlichen Gemeinschaft für
Herstellung der öffentlichen Bedingungen allgemeiner Gesundheit
erhebt. Aus dem ersten Element entspringt die Seuchenpolizei, aus dem
zweiten die Gesundheitspolizei, aus dem dritten die Gesundheitspflege.

a) Die Seuchenpolizei.

Die Seuchenpolizei, der alten Geschichte unbekannt, schließt sich
an das Eindringen ansteckender Krankheiten aus dem Orient in Europa
und erscheint daher als das im Princip einfache, in der Ausführung
vielfach verschiedene System der örtlichen Absperrung des Verkehrs,
welche durch ihre für den Seeverkehr (aus dem Orient) geltenden Regeln
die Quarantaine heißt. Princip und System der Quarantaine gelten
noch, hauptsächlich für das Mittelmeer, erscheinen jedoch als Ausnah-
men; das System der Absperrung zu Lande (des Landcordons) ist wohl
ziemlich aufgegeben. Erst durch die Entdeckung der Schutzblattern ent-
steht bei der Blatternseuche das System der Impfung als organisirter,
positiver Kampf mit einer Epidemie; die Impfung ward in Deutschland
fast gleich bei ihrer Entdeckung zwangsweise eingeführt; in Frankreich
begnügen sich Gesetzgebung und Verwaltung mit den Maßregeln zur
Beförderung der Impfung; England hat das Zwangssystem erst in
neuester Zeit angenommen; für die übrigen Staaten besteht noch immer
die Impffreiheit. In Beziehung auf die übrigen Epidemien zeigten
Erfahrung und Wissenschaft bald, daß weder die Absperrung, wie bei
der Pest, noch ein einzelnes Heilmittel, wie bei den Blattern, das
wahre Mittel zur Bekämpfung der Seuche sei, sondern daß die wahre
Aufgabe des Seuchenwesens vielmehr theils in der Organisirung des
Heilwesens, theils aber und vorzüglich in der Entwicklung der Gesund-
heitspflege liege. Die Cholera namentlich hat schließlich die Ueber-
zeugung festgestellt, daß man die Seuchen viel besser in ihren Ursachen,
den gesundheitsverderblichen öffentlichen Verhältnissen, namentlich von
Wohnung und Nahrung, als in ihren Erscheinungen, der wirklichen
Seuche, bekämpft werden. Das Auftreten der Cholera bezeichnet daher
den Wendepunkt in der ganzen Geschichte des Seuchenwesens, wo das-
selbe von seiner negativen, polizeilichen Aufgabe zur positiven der Ge-
sundheitspflege übergeht, auf dessen Anerkennung die gesammte Zukunft
des Gesundheitswesens beruht.

Jeder Theil dieses Seuchenwesens hat nun seine Gesetzgebung, seine Lite-
ratur und so auch seine Geschichte; das Mangelnde ist die Auffassung des

heit durch die Seuchen, dann ſich nach und nach im Einzelnen ent-
wickelt zum Schutze gegen einzelne Gefährdungen, und ſich erſt zuletzt
und langſam zur organiſchen Arbeit der menſchlichen Gemeinſchaft für
Herſtellung der öffentlichen Bedingungen allgemeiner Geſundheit
erhebt. Aus dem erſten Element entſpringt die Seuchenpolizei, aus dem
zweiten die Geſundheitspolizei, aus dem dritten die Geſundheitspflege.

a) Die Seuchenpolizei.

Die Seuchenpolizei, der alten Geſchichte unbekannt, ſchließt ſich
an das Eindringen anſteckender Krankheiten aus dem Orient in Europa
und erſcheint daher als das im Princip einfache, in der Ausführung
vielfach verſchiedene Syſtem der örtlichen Abſperrung des Verkehrs,
welche durch ihre für den Seeverkehr (aus dem Orient) geltenden Regeln
die Quarantaine heißt. Princip und Syſtem der Quarantaine gelten
noch, hauptſächlich für das Mittelmeer, erſcheinen jedoch als Ausnah-
men; das Syſtem der Abſperrung zu Lande (des Landcordons) iſt wohl
ziemlich aufgegeben. Erſt durch die Entdeckung der Schutzblattern ent-
ſteht bei der Blatternſeuche das Syſtem der Impfung als organiſirter,
poſitiver Kampf mit einer Epidemie; die Impfung ward in Deutſchland
faſt gleich bei ihrer Entdeckung zwangsweiſe eingeführt; in Frankreich
begnügen ſich Geſetzgebung und Verwaltung mit den Maßregeln zur
Beförderung der Impfung; England hat das Zwangsſyſtem erſt in
neueſter Zeit angenommen; für die übrigen Staaten beſteht noch immer
die Impffreiheit. In Beziehung auf die übrigen Epidemien zeigten
Erfahrung und Wiſſenſchaft bald, daß weder die Abſperrung, wie bei
der Peſt, noch ein einzelnes Heilmittel, wie bei den Blattern, das
wahre Mittel zur Bekämpfung der Seuche ſei, ſondern daß die wahre
Aufgabe des Seuchenweſens vielmehr theils in der Organiſirung des
Heilweſens, theils aber und vorzüglich in der Entwicklung der Geſund-
heitspflege liege. Die Cholera namentlich hat ſchließlich die Ueber-
zeugung feſtgeſtellt, daß man die Seuchen viel beſſer in ihren Urſachen,
den geſundheitsverderblichen öffentlichen Verhältniſſen, namentlich von
Wohnung und Nahrung, als in ihren Erſcheinungen, der wirklichen
Seuche, bekämpft werden. Das Auftreten der Cholera bezeichnet daher
den Wendepunkt in der ganzen Geſchichte des Seuchenweſens, wo das-
ſelbe von ſeiner negativen, polizeilichen Aufgabe zur poſitiven der Ge-
ſundheitspflege übergeht, auf deſſen Anerkennung die geſammte Zukunft
des Geſundheitsweſens beruht.

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ratur und ſo auch ſeine Geſchichte; das Mangelnde iſt die Auffaſſung des

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[86/0110] heit durch die Seuchen, dann ſich nach und nach im Einzelnen ent- wickelt zum Schutze gegen einzelne Gefährdungen, und ſich erſt zuletzt und langſam zur organiſchen Arbeit der menſchlichen Gemeinſchaft für Herſtellung der öffentlichen Bedingungen allgemeiner Geſundheit erhebt. Aus dem erſten Element entſpringt die Seuchenpolizei, aus dem zweiten die Geſundheitspolizei, aus dem dritten die Geſundheitspflege. a) Die Seuchenpolizei. Die Seuchenpolizei, der alten Geſchichte unbekannt, ſchließt ſich an das Eindringen anſteckender Krankheiten aus dem Orient in Europa und erſcheint daher als das im Princip einfache, in der Ausführung vielfach verſchiedene Syſtem der örtlichen Abſperrung des Verkehrs, welche durch ihre für den Seeverkehr (aus dem Orient) geltenden Regeln die Quarantaine heißt. Princip und Syſtem der Quarantaine gelten noch, hauptſächlich für das Mittelmeer, erſcheinen jedoch als Ausnah- men; das Syſtem der Abſperrung zu Lande (des Landcordons) iſt wohl ziemlich aufgegeben. Erſt durch die Entdeckung der Schutzblattern ent- ſteht bei der Blatternſeuche das Syſtem der Impfung als organiſirter, poſitiver Kampf mit einer Epidemie; die Impfung ward in Deutſchland faſt gleich bei ihrer Entdeckung zwangsweiſe eingeführt; in Frankreich begnügen ſich Geſetzgebung und Verwaltung mit den Maßregeln zur Beförderung der Impfung; England hat das Zwangsſyſtem erſt in neueſter Zeit angenommen; für die übrigen Staaten beſteht noch immer die Impffreiheit. In Beziehung auf die übrigen Epidemien zeigten Erfahrung und Wiſſenſchaft bald, daß weder die Abſperrung, wie bei der Peſt, noch ein einzelnes Heilmittel, wie bei den Blattern, das wahre Mittel zur Bekämpfung der Seuche ſei, ſondern daß die wahre Aufgabe des Seuchenweſens vielmehr theils in der Organiſirung des Heilweſens, theils aber und vorzüglich in der Entwicklung der Geſund- heitspflege liege. Die Cholera namentlich hat ſchließlich die Ueber- zeugung feſtgeſtellt, daß man die Seuchen viel beſſer in ihren Urſachen, den geſundheitsverderblichen öffentlichen Verhältniſſen, namentlich von Wohnung und Nahrung, als in ihren Erſcheinungen, der wirklichen Seuche, bekämpft werden. Das Auftreten der Cholera bezeichnet daher den Wendepunkt in der ganzen Geſchichte des Seuchenweſens, wo das- ſelbe von ſeiner negativen, polizeilichen Aufgabe zur poſitiven der Ge- ſundheitspflege übergeht, auf deſſen Anerkennung die geſammte Zukunft des Geſundheitsweſens beruht. Jeder Theil dieſes Seuchenweſens hat nun ſeine Geſetzgebung, ſeine Lite- ratur und ſo auch ſeine Geſchichte; das Mangelnde iſt die Auffaſſung des

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Zitationshilfe: Stein, Lorenz von: Handbuch der Verwaltungslehre und des Verwaltungsrechts: mit Vergleichung der Literatur und Gesetzgebung von Frankreich, England und Deutschland; als Grundlage für Vorlesungen. Stuttgart, 1870, S. 86. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/stein_handbuch_1870/110>, abgerufen am 26.11.2024.