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Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

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Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor, pst_143.002
in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein pst_143.003
Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge pst_143.004
so zu kennen, wie der Dichter, selber dem Volk verpflichtet, pst_143.005
sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch, pst_143.006
Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre pst_143.007
Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter pst_143.008
stiften, ist am deutlichsten sichtbar in den Göttern, pst_143.009
die zwar geboren werden, aber niemals sterben, in deren pst_143.010
Machtbereich nun alles, was kommt und geht, vernehmlich pst_143.011
wird.

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Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns pst_143.013
der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und pst_143.014
steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch pst_143.015
sichtbar sind. Sofern Überlieferung die Völker Europas pst_143.016
verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten. pst_143.017
Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet, pst_143.018
ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem pst_143.019
das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint. pst_143.020
Rein Episches ist später nicht mehr möglich, pst_143.021
aus dem einfachen Grund, weil "Ilias", "Odyssee" und pst_143.022
der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits pst_143.023
zum Stoff für eine neue geistige Tätigkeit werden. So pst_143.024
wenig der Mann wieder Kind werden kann, so wenig pst_143.025
kann die Menschheit in unabgerissener Tradition wieder pst_143.026
auf die Stufe des Epischen zurück und sich mit dem pst_143.027
bloßen Feststellen begnügen, nachdem das Beziehen pst_143.028
und Unterordnen der Teile einmal begonnen hat. Dies pst_143.029
aber setzt unvermeidlich ein, sobald ein gewisser Abschluß pst_143.030
erreicht ist und eine weitere parataktische Aufreihung pst_143.031
sich nicht mehr lohnt. Zumal die Erfindung

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Stiftung, und keine andere Dichtung ist möglich, bevor, pst_143.002
in mehr oder minder ausgeprägter Weise, ein pst_143.003
Grund gelegt ist, ein Volk sich episch einigt, die Dinge pst_143.004
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sie darstellt. Dasselbe meint Herodots Ausspruch, pst_143.006
Homer und Hesiod hätten den Griechen ihre pst_143.007
Götter geschaffen. Das Bleibende nämlich, das die Dichter pst_143.008
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  Wir kennen Homers Vorläufer nicht. Er ist für uns pst_143.013
der älteste Dichter im europäischen Sprachgebiet und pst_143.014
steht für alle, von denen Spuren in seinen Epen noch pst_143.015
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verbindet, darf Homer demnach als Vater Europas gelten. pst_143.017
Sofern Überlieferung die Völker Europas verbindet, pst_143.018
ist Homer aber auch der einzige Dichter, in dem pst_143.019
das Wesen des Epischen noch einigermaßen rein erscheint. pst_143.020
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der ganze epische Kyklos nun bekannt sind und ihrerseits pst_143.023
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Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 143. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/147>, abgerufen am 04.05.2024.