Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946.

Bild:
<< vorherige Seite

pst_135.001
aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen, pst_135.002
wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift pst_135.003
bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes pst_135.004
umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit pst_135.005
der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem pst_135.006
Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man pst_135.007
hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der pst_135.008
Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten pst_135.009
Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert. pst_135.010
Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so pst_135.011
und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein pst_135.012
Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen.

pst_135.013

Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon pst_135.014
Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade pst_135.015
die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig pst_135.016
man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den pst_135.017
Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem pst_135.018
Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des pst_135.019
Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht.

pst_135.020

Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise, pst_135.021
die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn pst_135.022
ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die pst_135.023
Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden pst_135.024
muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So pst_135.025
erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch pst_135.026
nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet pst_135.027
uns doch, das Viele zusammenzuziehen und pst_135.028
Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum pst_135.029
Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für pst_135.030
den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht pst_135.031
kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee

pst_135.001
aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen, pst_135.002
wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift pst_135.003
bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes pst_135.004
umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit pst_135.005
der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem pst_135.006
Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man pst_135.007
hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der pst_135.008
Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten pst_135.009
Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert. pst_135.010
Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so pst_135.011
und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein pst_135.012
Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen.

pst_135.013

  Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon pst_135.014
Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade pst_135.015
die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig pst_135.016
man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den pst_135.017
Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem pst_135.018
Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des pst_135.019
Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht.

pst_135.020

  Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise, pst_135.021
die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn pst_135.022
ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die pst_135.023
Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden pst_135.024
muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So pst_135.025
erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch pst_135.026
nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet pst_135.027
uns doch, das Viele zusammenzuziehen und pst_135.028
Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum pst_135.029
Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für pst_135.030
den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht pst_135.031
kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0139" n="135"/><lb n="pst_135.001"/>
aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen, <lb n="pst_135.002"/>
wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift <lb n="pst_135.003"/>
bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes <lb n="pst_135.004"/>
umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit <lb n="pst_135.005"/>
der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem <lb n="pst_135.006"/>
Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man <lb n="pst_135.007"/>
hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der <lb n="pst_135.008"/>
Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten <lb n="pst_135.009"/>
Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert. <lb n="pst_135.010"/>
Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so <lb n="pst_135.011"/>
und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein <lb n="pst_135.012"/>
Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen.</p>
          <lb n="pst_135.013"/>
          <p>  Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon <lb n="pst_135.014"/>
Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade <lb n="pst_135.015"/>
die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig <lb n="pst_135.016"/>
man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den <lb n="pst_135.017"/>
Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem <lb n="pst_135.018"/>
Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des <lb n="pst_135.019"/>
Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht.</p>
          <lb n="pst_135.020"/>
          <p>  Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise, <lb n="pst_135.021"/>
die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn <lb n="pst_135.022"/>
ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die <lb n="pst_135.023"/>
Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden <lb n="pst_135.024"/>
muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So <lb n="pst_135.025"/>
erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch <lb n="pst_135.026"/>
nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet <lb n="pst_135.027"/>
uns doch, das Viele zusammenzuziehen und <lb n="pst_135.028"/>
Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum <lb n="pst_135.029"/>
Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für <lb n="pst_135.030"/>
den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht <lb n="pst_135.031"/>
kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee
</p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[135/0139] pst_135.001 aufgestellt und bleiben nun unverrückbar stehen, pst_135.002 wer immer auch kommen und gehen mag. Die Schrift pst_135.003 bewahrt hier ein Allgemeines, das alle Glieder des Volkes pst_135.004 umgreift, das jedes in Abhängigkeit versetzt. Mit pst_135.005 der epischen Selbstherrlichkeit ist es aus. So auch in jedem pst_135.006 Vertrag, der schriftlich abgeschlossen wird. Man pst_135.007 hat von dem Vertragspartner nun ein Stück in der pst_135.008 Hand. Er hat sich durch die Unterschrift der unbekümmerten pst_135.009 Freiheit seiner jeweiligen Erscheinung entäußert. pst_135.010 Es ist ihm nicht mehr restlos möglich, jetzt so pst_135.011 und dann wieder anders zu sein. Schriftlich ist ein pst_135.012 Früheres auf ein Späteres seines Daseins bezogen. pst_135.013   Nun gibt es zwar auch in der Welt Homers schon pst_135.014 Sanktionen, zum Beispiel den Eid. Indes beweist gerade pst_135.015 die ungeheure Feierlichkeit des Schwurs, wie wenig pst_135.016 man dieser Sache noch traut, wie schwer es hält, den pst_135.017 Menschen zu verpflichten und zur Konsequenz in seinem pst_135.018 Handeln zu bewegen, so, daß er spätere Tage des pst_135.019 Lebens auf diese ernsteste Stunde bezieht. pst_135.020   Die Schrift bewahrt vor dem Vergessen in einer Weise, pst_135.021 die bereits das epische Gedenken hinter sich läßt. Wenn pst_135.022 ich an einer Beratung teilnehme, so zeichne ich mir die pst_135.023 Hauptpunkte auf, um zuletzt, wenn ich entscheiden pst_135.024 muß, alles vergleichen und überprüfen zu können. So pst_135.025 erstaunlich auch das Gedächtnis der Menschen, die noch pst_135.026 nicht schrieben, gewesen sein mag, erst die Schrift gestattet pst_135.027 uns doch, das Viele zusammenzuziehen und pst_135.028 Weitverzweigtes als Ganzes zu übersehen. Sie wird zum pst_135.029 Instrument des Denkens, eines synthetischen Akts, für pst_135.030 den die epische Parataxe nur noch als Material in Betracht pst_135.031 kommen kann. Die Gesamtkomposition der Odyssee

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
TCF (tokenisiert, serialisiert, lemmatisiert, normalisiert)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Technische Universität Darmstadt, Universität Stuttgart: Bereitstellung der Scan-Digitalisate und der Texttranskription. (2015-09-30T09:54:39Z) Bitte beachten Sie, dass die aktuelle Transkription (und Textauszeichnung) mittlerweile nicht mehr dem Stand zum Zeitpunkt der Übernahme des Werkes in das DTA entsprechen muss.
TextGrid/DARIAH-DE: Langfristige Bereitstellung der TextGrid/DARIAH-DE-Repository-Ausgabe
Stefan Alscher: Bearbeitung der digitalen Edition - Annotation des Metaphernbegriffs
Hans-Werner Bartz: Bearbeitung der digitalen Edition - Tustep-Unterstützung
Michael Bender: Bearbeitung der digitalen Edition - Koordination, Konzeption (Korpusaufbau, Annotationsschema, Workflow, Publikationsformen), Annotation des Metaphernbegriffs, XML-Auszeichnung)
Leonie Blumenschein: Bearbeitung der digitalen Edition - XML-Auszeichnung
David Glück: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung, Annotation des Metaphernbegriffs, XSL+JavaScript
Constanze Hahn: Bearbeitung der digitalen Edition - Korpusaufbau, XML-Auszeichnung
Philipp Hegel: Bearbeitung der digitalen Edition - XML/XSL/CSS-Unterstützung
Andrea Rapp: ePoetics-Projekt-Koordination

Weitere Informationen:

Bogensignaturen: keine Angabe; Druckfehler: keine Angabe; fremdsprachliches Material: gekennzeichnet; Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage; Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): wie Vorlage; i/j in Fraktur: wie Vorlage; I/J in Fraktur: wie Vorlage; Kolumnentitel: nicht übernommen; Kustoden: nicht übernommen; langes s (ſ): wie Vorlage; Normalisierungen: keine; rundes r (ꝛ): wie Vorlage; Seitenumbrüche markiert: ja; Silbentrennung: nicht übernommen; u/v bzw. U/V: wie Vorlage; Vokale mit übergest. e: wie Vorlage; Vollständigkeit: vollständig erfasst; Zeichensetzung: wie Vorlage; Zeilenumbrüche markiert: ja;




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/139
Zitationshilfe: Staiger, Emil: Grundbegriffe der Poetik. Zürich, 1946, S. 135. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/staiger_poetik_1946/139>, abgerufen am 04.05.2024.